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Good morning Vietnam?

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Die vietnamesische Perestrojka „Doi Moi” gab 1986 den Impuls zum neuen Wirtschaftswunderland Südostasiens. Doch Vietnam ist Baustelle der Marktwirtschaft geblieben: Money und Marx - ein Lokalaugenschein.

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Die vietnamesische Perestrojka „Doi Moi” gab 1986 den Impuls zum neuen Wirtschaftswunderland Südostasiens. Doch Vietnam ist Baustelle der Marktwirtschaft geblieben: Money und Marx - ein Lokalaugenschein.

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Der Cyclo-Fahrer vor der Apokalypse-Bar in Ho-Chi-Minh-City, dem früheren Saigon, hat leicht lachen. Das Geschäft geht wieder gut, meint er, und zeigt augenzwinkernd auf die überlebensgroßen Konterfeis von Onkel Ho, die nach wie vor die Straßen säumen wie seinerzeit, als 1975 der glorreiche Sieg über die kapitalistischen Imperialisten gefeiert wurde.

Ob Landwirtschaft oder Industrie, Monopole über Monopole prägten danach das Geschehen: kein Wunder, daß trotz bereits liberaler Regulative ausländische Investitionen weitgehend unterblieben. Graue Apparat-schiks wollten schwarze Gelder. Nein danke!

Dennoch bedurfte es Gorbatschows Perestrojka, um eine tiefgreifende Reform nach sowjetischem Muster zu initiieren: Das „Neue Denken” (Doi Moi) wurde am sechsten Parteitag der Kommunistischen Partei Vietnams im Dezember 1986 verabschiedet. Gewaltige Inflation (1986: 775 Prozent) sowie die verheerende Entwicklung des primären Sektors hatten das ihre zur prowestlichen Idee beigetragen, die wie der Reiswein des Landes vor sich hinzugären begann, bis zur endgültigen Reife.

Doi Moi wurde zur magischen Formel der Flucht aus Armut und internationaler Isolation. Die Inflation wurde innerhalb von zwei Jahren von über 700 Prozent (1987) auf nahezu null gesenkt und lag 1993 bei (im Nachbarvergleich minimalen) 5,2 Prozent; die Aufhebung des Verbots von Privathandel brachte frischen Wind in erstarrte zentralisti-sche Strukturen und erhöhte die individuellen Betätigungsfelder im informellen Sektor: „Es geht uns jetzt viel besser”, sagt auch Cam, früherer US-Soldat und jetzt Dorfschneider in Bon, unmittelbar an der ehemaligen Demarkationslinie zwischen Nord- und Südvietnam, „auch wenn einige ärmer geworden sind. Es ist einfach das Gefühl, ein vernünftigeres System zu haben”.

Der Reiz der Investition

Die hausgroßen Heineken-Plakate an der kambodschanischen Grenze sprechen die deutliche Sprache der Öffnung, ebenso wie die neonfarbenen Samsung-Leuchten im Zentrum des früheren Saigon - lediglich die Kriegsveteranen im Schatten des kolonialen Stadttheaters künden die Realität einer Zeit, die noch gar nicht so lange vergangen ist.

Die Ächtung des Westens war jedenfalls vorbei; Investitionen im Ausmaß von 20 Milliarden US-Dollar flössen bis 1996 ins Land. Bereits 1991 gingen nur mehr vier Prozent des Handelsvolumens Vietnams in ehemalige Ostblockstaaten: Optimistischen Hochrechnungen zufolge werden ausländische Investitionen bis zur Jahrtausendwende jährlich um bis zu 30 Prozent zunehmen. Karl Schmidt, Österreichs Handelsdelegierter der

Region, bremst jedoch die allgemeine Euphorie: Im ersten Drittel 1996 gab es bereits eine Halbierung der ausländischen Direktinvestitionen auf 1,15 Milliarden US-Dollar, wofür Schmidt bestehende Rechtsunsicherheit, zähe Genehmigungsverfahren, Schmiergeldzahlungen und die Unmöglichkeit des Grunderwerbs hauptverantwortlich macht. Die alte Garde lebt und die Hardliner lassen grüßen: „Willkommen Investoren, aber zu unseren Konditionen ...”

Mit der Aufhebung des US-Handelsembargos im Februar 1994 erlebte die Aufbruchsstimmung internationaler Investoren weitere Impulse, dazu der ASEAN-Beitritt 1995. Die „best-managed Asian economy in 1992” (Magazin „Euromoney”) mag statistisch florieren, doch sogar Staatspräsident Le Duc Anh warnt angesichts Von über 1.500 Joint-Ventures vor „ausländischer Vorherrschaft” ...

Good morning, Vietnam? Das Land ist lange erwacht, wurde im Schlaf der Isolation überrumpelt von hemdsärmeligen Glücksrittern auf der Suche nach dem schnellen Geld. Good business, guys.

Die neue Armut: Sozialer Flop?

„You are American?” - ohne harte Devisen geht nichts mehr nördlich von Hue, der alten Kaiserstadt am Parfumfluß. Lockruf des Westens,

Lockruf des Dollars? Die alten US-Army-Mannschaftswagen, immer noch öffentlicher Verkehrsträger, sind zum Bersten gefüllt. Beifentür-me und Fahrradstöße schwanken bedenklich auf den Dächern, auch die Cyclo-Fahrer schwitzen wie eh und je - noch verspürt die Mehrheit jedenfalls nichts vom Hauch des Wohlstands, auch wenn sich der bleiernblaue Dampf der rot-weißen Einheits-Hondas mehr und mehr über die Städte legt, ohne die Armut verhüllen zu können. Jeder Zehnte hat ein Motorrad, nur jeder Hundertste einen Telefonanschluß, doch bereits jeder Vierte erfreut sich am eigenen Fernsehgerät amerikanischer Soap-Operas. Die schwarzen Wolga-Limousinen vor dem Ho-Chi-Minh-Mausoleum, symbolträchtig-ver-chromte Erinnerungen an den Großen Bruder in Moskau, sind Auslaufmodelle - so reparaturbedürftig wie das gesamte System.

Sozialpolitik ist sicher kein vorran1 giges Ziel des Einparteien-Staates. Fast 15 Prozent der Gesamtbevölke-rung sind nicht- oder unterbeschäftigt, bei deutlich höherer Dunkelziffer. Neben Rationalisierungsmaßnahmen im Staatssektor gelten die Rückkehr von etwa 200.000 Gastarbeitern aus Comecon-Staaten sowie die personelle Reduzierung der Armee als Hauptverursacher der Krise, die sich mittelfristig durch das steigende Bevölkerungswachstum von jährlich 2,25 Prozent noch verschärfen wird: Das 75-Millionen-Land wird seine Bevölkerung bis 2025 verdoppelt haben. Schon jetzt sind 95 Prozent der Arbeitslosen jünger als 30 Jahre, jährlich kommt eine weitere Million dazu ...

„Bin jedenfalls trotzdem froh, wieder daheim zu sein”, meint Truong Minh, ehemaliger Student in Leipzig, in sächselndem Ost-Deutsch euphorisch - auch wenn der Lebensstandard nach wie vor einer der niedersten der Welt ist und die Weltbank 51 Prozent der Bevölkerung als „arm” zählt. Von Gleichverteilung kann jedenfalls keine Rede sein, wenn die Hälfte der Bevölkerung des viertgrößten Beisexporteurs der Welt unter 2100 Kalorien pro Tag bleibt.

Die Schere ist weit offen: Wirtschaftliche Macht dem südlichen Ho-Chi-Minh-City, politische Gewalt dem nördlichen Hanoi. 1992 wurden hier die monatlichen Mindestlöhne für Arbeitnehmer in Joint Ventures um ein Drittel auf 35 US-Dollar (Monatslohn eines Facharbeiters: 40 bis

70 US-Dollar) reduziert - Marktwirtschaft pur auf Kosten eines engen Arbeitsmarktes.

Eine tiefgreifende Polarisierung der Gesellschaft scheint durch punktuelle Investitionstätigkeit und ungleiche Infrastrukturerschließung nicht zu verhindern: zwischen urbaner und ruraler Bevölkerung (Einkommensverhältnis 6:1!), historisch zwischen Nord und Süd. Zudem ka men die indirekten Folgen der West-Öffnung für Planungsinstanzen unverhofft: Kultur- und Sozialministerium sehen sich mit Vorwürfen der Akzeptanz zunehmender westlicher Dekadenz konfrontiert - inoffizielle Zahlen sprechen von 200.000 Prostituierten und 500.000 Drogenabhängigen, was eine weitere Verhärtung in Sachen künstlerischer und journalistischer Freiheit nach sich zog.

Gewonnener Krieg, gewonnener Friede?

Wie Phönix aus der Napalm-Asche: Vietnams Aufstieg in die Position eines semiperipheren NIC (Newly In-dustrialized Country) scheint unaufhaltbar. Schön für Statistiker, beruhigend für die vietnamesische Zentralregierung. Doch die sozialen Spannungsfelder sind nicht kleiner geworden, die marktwirtschaftliche Transformation machte 1996 7,5 Millionen Menschen arbeitslos - daß die Investitionsprojekte deshalb arbeitsintensiv (anstatt know-how-in-tensiv) sein müssen, betoniert das Land jedoch auf Jahre in den Status einer verlängerten Werkbank internationaler Multis.

Vietnam ist politisch stabil, zweifellos, doch der Preis ist hoch: eine anti-demokratische Einparteienlandschaft, deren beginnender Reformkurs vor Zerfall der Sowjetunion endogene Züge trug, nach Zusammenbruch des Comecon-Han-delsmonopols jedoch ausschließlich systemerhaltend war.

Der Weg zum neuen südostasiatischen Tigerstaat scheint vorgezeichnet - doch politische Reform erscheint angesichts des Wirtschaftsbooms, der großmaßstäbige Opposition erschwert, unwahrscheinlich. Tri-al and Error. Die Mercedes-Schlangen vor den Karaoke-Bars von Nha Trang werden jedenfalls monatlich länger. Die Menschenschlangen vor der Deutschen Botschaft auch. Holzhammer-Kapitalismus allein könnte zu wenig sein ...

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