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Grenzen der Toleranz in der Parteiendemokratie

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Es seien hier, bevor wir in der Kommentierung des Karlsruher Spruches fortfahren, ein Bekenntnis und eine feste Ueberzeugung des Kommentators festgehalten, weil wir Mißverständnissen, die etwa aufkommen könnten, vorbeugen wollen. Wir halten es mit dem Dichter Milton. Obwohl Milton ein überzeugter Anhänger des Parlaments und ein unversöhnlicher Feind der Despotie des Königs war, schrieb er sein berühmtes Werk „Areopagitica“. Da heißt es: „Lind wenn auch alle Winde der Lehre losgelassen wären, um über die Erde dahinzufahren, wenn nur die Wahrheit mit zu Felde zieht, so tun wir unrecht, ihrer Kraft durch Bücherzensur und Verbote zu mißtrauen. Laßt sie und die Lüge ringen. Wer weiß, daß die Wahrheit jemals in einem freien offenen Kampf unterlegen wäre?“ Nach unserer persönlichen Ueberzeugung sind Wahrheit und Freiheit in sich so stark, daß sie den Schutz der Staatsmacht nicht benötigen (wohl aber das Bündnis mit dem Recht). Lieber zuviel als zuwenig Freiheit, im Zweifel immer für die Freiheit! Parteien verböte gefallen uns persönlich nicht. Man kann als überzeugter Anhänger einer freiheitlich-rechtlichen demokratischen Grundordnung geteilter Meinung sein, wie die Antwort auf die Frage lauten soll: ob der demokratische Rechtsstaat seinem Wesen nach berechtigt oder gar verpflichtet ist, seinen erklärten Feinden das Recht auf Freiheit zu entziehen. Allein, die Frage, ob die Freiheit sich selbst schützen, gleichsam in Notwehr handeln soll, hat in der Bundesrepublik Deutschland einen eigenen Akzent erhalten, der die Grundordnung dieser jungen Demokratie von den anderen Ländern des Westens unterscheidet. Das Bonner Grundgesetz hat den Uebergang von der repräsentativ-parlamentarischen Demokratie zum modernen Parteienstaat berücksichtigt und die politischen Parteien zu verfassungsmäßigen Institutionen erhoben, die mit angemessenen staatspolitischen Privilegien ausgestattet sind: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit...“ (Art. 21 GG). Die politischen Parteien nehmen eine Sonderstellung ein; in Deutschland ist der moderne demokratische Parteienstaat von Rechts wegen legalisiert: die Parteien sind nicht nur politisch und soziologisch, sondern auch rechtlich relevante Organisationen. Es ist nur logisch und billig, wenn die Sonderstellung, die die junge deutsche Demokratie den Parteien von Rechts wegen einräumt, mit einer Sonderverantwortung verbunden wird. Privilegien werden in der Regel von Verantwortungen begleitet. Obwohl die Gründung der Parteien grundsätzlich völlig frei ist, verfügt die Verfassung, daß die „innere Ordnung demokratischen Grundsätzen entsprechen“ muß. Das Bundesverfassungsgericht hat am 20. Juli 1954 einen Plenarbeschluß gefaßt und aus Art. 21 GG die Folgerung gezogen, daß die Parteien notwendige Bestandteile des Verfassungsaufbaues seien und daß sie die Funktion eines Verfassungsorgans ausüben, wenn sie bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken. Art. 21 (2) besagt: „Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik zu gefährden, sind verfassungswidrig. Ueber die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet das

Bundesverfassungsgericht.“ Die verfassungsmäßige Einordnung der Parteien in den demokratischen Staat verbietet es, „daß eine Partei sich in grundsätzlicher Abweichung von demokratischen Prinzipien organisiert“ (BVG-E 2, 14). Erreicht die Abkehr einer Partei von demokratischen Organisationsgrundsätzen einen solchen Grad, „daß sie nur als Ausdruck einer grundsätzlich demokratiefeindlichen Haltung erklärbar ist“ (a. a. O.), so kann eine Partei als verfassungswidrig angesehen werden. Die privilegierte Stellung der politischen Partei drückt sich vorzüglich darin aus, daß weder der Gesetzgeber, das Parlament, das sich etwa einer mißliebigen Opposition entledigen möchte, noch gar die Regierung, die Exekutive, die Voraussetzungen für ein Verbot feststellen und die Auflösung aussprechen können: dies ist einzig und allein Sache eines vollkommen unabhängigen, objektiv und unparteiisch urteilenden Gerichts. Indessen können andere Vereinigungen, auch politische Vereinigungen, die dem Strafgesetz oder der Verfassung zuwiderlaufen und infolgedessen kraft Gesetzes verboten sind (Art. 9 [2] GG), durch die Verfügung der zuständigen Verwaltungsbehörde verfolgt und unterdrückt werden. Es ist umstritten, ob die Konstruktion des Bonner Grundgesetzes, wonach das Verfassungsgericht nicht nur die Verfassungswidrigkeit einer Partei feststellt (reine Rechtsfrage), sondern auch deren Auflösung ausspricht (res mixta: mehr Machtfrage), als glücklich zu bezeichnen sei; da jedoch der deutsche Grundgesetzgeber diese Vorentscheidung getroffen hat, darf man wohl sagen, daß er damit den höchstmöglichen Grad an Rechtsstaatlichkeit in bezug auf das Parteiwesen erreicht hat.

Deutschland hat ganz bestimmte Erfahrungen im NS-Willkür- und Gewaltstaat gesammelt; Westdeutschland erlebt es, wie es den Deutschen im ostzonalen kommunistischen Willkür-und Gewaltstaat ergeht. Deutschland zieht die Konsequenzen aus der Geschichte, die die Gegenwart einschließt, und aus dem Strukturwandel der Demokratie zum Parteienstaat.

Die deutsche Bundesregierung hatte den Antrag auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit der KPD am 22. November 1951 gestellt, gleichzeitig mit dem Antrag gegen die rechtsextreme Sozialistische Reichspartei (SRP), die auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 1. bis 15. Juli 1952 durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 23. Oktober 1952 (— 1 BvB l/51 —) aufgelöst wurde. Damals fanden sich Kritiker auf der anderen Seite und unterstellten dem Karlsruher Gericht, es habe einen nach dem Muster von Nürnberg inszenierten Vae-victis-Prozeß durchgeführt. Der Spruch, der in 88 Seiten eine gründliche Untersuchung sine ira et studio über den Nationalsozialismus und dessen Nacherscheinungen liefert, ist ein Schriftstück, wie man es sonst nicht findet.

Weltgericht der Geschichte

Das historische Charakteristikum des Karlsruher Prozesses, das dem Spruch vom 17. August 1956 einen weltpolitischen und weltgeschichtlichen Akzent verleiht, liegt in einem ganz eigenartigen Phänomen: Das Bundesverfassungsgericht hat sich geradezu krampfhaft bemüht, den Prozeß so zu führen, daß ausschließlich die KP Deutschlands an und für sich auf ihre ideologische Grundlage, ihre Organisation, ihre Mittel, ihre Nebenzwecke und ihren Hauptzweck untersucht wird, also ohne jeglichen Bezug auf die kommunistischen Parteien in anderen Staaten. Dennoch wird über eine politische Gruppe Gericht gehalten, hinter welcher der ungeheure Koloß einer Supermacht, sozusagen die halbe Welt, steht. Karlsruhe hat viel .Mut bewiesen; es hätte sich der schweren Aufgabe leicht entziehen können. Es wäre nichts anderes notwendig gewesen, als die KPD als eine von außen gesteuerte „fünfte Kolonne“ zu nehmen; in diesem Fall wäre die KP des Charakters einer Partei und damit des Privilegiums eines Gerichtsschutzes entkleidet und der Verfügungsgewalt der Exekutive überantwortet worden (siehe Geigers Kommentar zum Gesetz über das BVG, Seite 158). Allein, es wäre ein grober Irrtum, zu glauben, das Bundesverfassungsgericht sei mit Freude ans Werk gegangen. Gerade der Umstand, daß Präsident Wintrich versucht hatte, der Bundesregierung die Untaug-lichkeit eines solchen Verfahrens darzutun, gibt der Weltöffentlichkeit die Gewähr dafür, daß der Gerichtshof ganz und gar nach objektiven Gesichtspunkten verfuhr. Das Bundesverfassungsgericht ist eine einzigartige Instanz, mit der bestenfalls der amerikanische Oberste Bundesgerichtshof verglichen werden kann; das Bundesverfassungsgericht ist eines der erlesensten Gremien der Welt, der Prototyp eines Areopags, in dem weise, gelehrte und erfahrene Juristen — unter den elf Mitgliedern befindet sich eine Frau — versammelt sind, die verschiedenen geistigen Richtungen angehören: der christlich-demokratischen, der sozialdemokratischen und der liberalen. Man erinnert sich daran, daß vor Jahren der Klatsch von einem roten und einem schwarzen Senat herumgereicht wurde. Ein unbegründetes Geschwätz; trotzdem: denjenigen, die das Gras wachsen hören und überall tiefgründige politische Kombinationen wittern, sei verraten, daß ausgerechnet der Erste Senat, der nun die KPD für verfassungswidrig erklärt, der sogenannte rote Senat ist, in dem das sozialistische Element zumindest sehr stark vertreten ist.

Den Prozeß gegen die SRP leitete der verstorbene Präsident des Gerichtes, Dr. Höpker-Aschoff, Wintrichs Vorgänger, ein Liberaler (FDP). Diesmal lenkte das Verfahren ein besonders kreditwürdiger Bürge für die Hochwertigkeit der Karlsruher Sprüche, Präsident Wintrich, dessen persönliche Integrität und Unparteilichkeit dermaßen über alle Zweifel erhaben sind, daß er seinerzeit nicht nur von den christlichdemokratischen Stimmen, sondern auch von den sozialistischen und liberalen (FDP) einstimmig gewählt wurde. Wenn man nun berücksichtigt, daß Wintrich nicht nur ein hervorragender Praktiker als Richter und ehemaliger Staatsanwalt, sondern auch ein .philosophisch beschlagener und politisch-soziologisch weitblickender Theoretiker ist, erkennt man die Bedeutung dieses Urteils.

In jahrelanger Arbeit wurde im Prinz-Max-Palais in Karlsruhe auf das sorgfältigste alles zusammengetragen, was als Stoff für die Rechtsfindung dienen könnte. Wer in Zukunft den Kommunismus wird studieren wollen, der braucht nur nach dem Urteil vom 17. August zu greifen: dort findet er den gesamten Stoff in vorbildlicher Form konzentriert.

DDr. Josef Maria Bochenski OP., seit 1948 Professor für zeitgenössische .Philosophie an der Universität Freiburg, Schweiz, einer der besten Kenner des dialektischen Materialismus, hat zum Prozeß für die Bundesregierung ein Gutachten über die Frage „der Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit der kommunistischen Ideologie mit der Würde, Freiheit und Gleichheit der Menschen im Sinne des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland“ erstattet. Hier der Gedankengang und der Schluß:

Die Ideologie des demokratischen Rechtsund Sozialstaates, wie Europa sie ausgebildet und der gesamten freien Welt überliefert hat, findet im Bonner Grundgesetz und in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes klassische Formulierungen. Wer diese Ideologie sorgfältig zergliedert und mit dem vergleicht, was die Ideologie des Kommunismus ergibt, der erkennt klar, daß sie miteinander logisch unverträglich und schlechthin unvereinbar sind.

Grundgesetz : Der Mensch ist Person, und zwar ist jeder einzelne, konkrete, der in das Jetzt und Hier geschichtlich eingespannte Mensch Träger der Personenwürde — nicht der abstrakte Mensch noch die Menschheit als Gemeinschaft. Der Mensch als Person ist seinsautonom; er ist nicht bloß Teil eines größeren Ganzen. Der Mensch als Person ist wertautonom und in diesem Maße Selbstzweck, nicht Mittel, er kann nicht einem anderen irdischen Selbstzweck untergeordnet werden: die Personenwürde ist unantastbar, auch für den Staat. Der Mensch ist als Person frei; jeder konkrete Einzelmensch hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Diese Freiheit ist grundsätzlich unverletzlich — sie ist kein formaler nebuloser Begriff, sondern birgt einen ganz bestimmten Gehalt: auf dem Gemeinschaftsgebiet sind dies die sozial-politischen Formen der Freiheit, wie sie unter dem Titel Menschenrechte aufgezählt werden. Nicht einmal der Staat kann die Freiheit in deren Wesensgehalt aufgeben, denn seine Macht ist durch das Recht eingegrenzt: wenn der Staat die Freiheitsrechte in deren Wesen verletzt, dann überschreitet er seine Kompetenz; das Recht auf Widerstand lebt auf (sofern kein Gerichtsweg offensteht — dies steht ausdrücklich im Urteil vom 17. August 19561). Alle Menschen sind als Personen in ihrer Gottesebenbildlichkeit gleich; diese Gleichheit läßt kejne Ausnahmen zu. Die tiefste logische Grundlage, auf der das Grundgesetz fußt: Der Mensch ist über das Reich der materiellen Natur erhaben: er untersteht also nicht nur ihren Gesetzen, er kennt noch andere als Nützlichkeitswerte (Rangordnung der Werte!).

Die Ideologie des Kommunismus: Der jetzige wirkliche Mensch ist nicht ein eigenständiges Wesen, sondern Teil und Moment eines größeren Ganzen (Hegel), vor allem der Klasse. Der konkrete Einzelmensch ist nicht wertautonorn; er ist Mittel, das im Dienste des Ganzen der Klasse steht, und infolgedessen den Zwecken der Klasse bedingungslos unterworfen. Absoluten Wert gibt es nur einen einzigen: die Klasse, von der Partei repräsentiert. Dem Nichtangehörigen der Arbeiterklasse kommt keine eigene unantastbare Personenwürde zu; es ist umstritten, ob sich der Angehörige der Arbeiterklasse ihrer erfreuen darf. Frei ist nicht der Einzelmensch, sondern nur das Kollektiv und erst in ferner, mythischer Zukunft der Mensch; diesem eschatologischen Menschbild wird die Einzelexistenz geopfert. Nicht alle Menschen sind wesensgleich; die Nichtangehörigen der Arbeiterklasse sind qualitativ minderwertiger als die Angehörigen der Arbeiterklasse. Den Gliedern der gegnerischen Klasse sollen Freiheit und Gleichheit abgesprochen werden. Klassenverschiedenheit ergibt Wesensverschiedenheit: die Methode der ungleichen Behandlung ist sachlich begründet: infolgedessen müssen der gegnerischen Klasse die Menschenrechte entzogen werden. Es ist hingegen umstritten, ob nicht auch den Angehörigen der Arbeiterklasse die Menschenrechte zugunsten der Verwirklichung des Menschen einer mythischen Zukunft zeitweilig entzogen sind. Wer im Dienste des Kollektivs, des Ganzen, einen Einzelmenschen, also bloß einen Teil des Ganzen, unterdrückt und zum Ganzen zwingt, handelt moralisch: Ethik des Terrors!

Wie ist es trotz dieses Grundunterschiedes in der Ideologie möglich, daß Europa und Kommunismus vom Menschen, von der Würde, Freiheit, Gleichheit usf. sprechen? Dies ist nur mit Hilfe der Methode der Sinnunterschiebung möglich, die der dialektischen Kunstfertigkeit des Kommunismus geläufig ist. Für die Person des Einzelmenschen wird die Menschheit, wie der Kommunismus sie erträumt, für den wirklichen jetzigen Menschen der Mensch der mythischen Zukunft unterschoben. Freiheit, Würde, Gleichheit — dies alles wird für den zukünftigen Menschen der eschatologischen Periode aufgehoben; für den jetzigen wirklichen Menschen meint Freiheit nicht Freiheit von Zwang und Angst, sondern freiwilliges und vorbehaltloses Aufgehen im Kollektiv; denn Freiheit heißt Herrschaft über die Natur und über die Gesetze der Gesellschaft und der Wirtschaft, was bloß in Form der Kollektivexistenz erreichbar ist.

Das ist vielleicht der tiefste Sinn des Karlsruher Prozesses: er hat vor den Augen der ganzen Welt die bedeutsame geistesgeschichtliche Tatsache aufgedeckt: Europa besitzt eine Ideologie. Und was für eine! Nur macht es nicht viel Aufhebens. Europa besitzt die Ideologie der Freiheit, der Personenwürde und des Rechts, das um die Macht Grenzen zieht, die unverrückbar und unübersteigbar sind. Wir Heutigen, die wir dazu erzogen worden sind, alles Geschehen nur nach den Normen der politischen Zweckmäßigkeit und der ökonomischen Nützlichkeit zu beurteilen, fragen nur nach der tagespolitischen Opportunität einer Entscheidung und vergessen, daß es auch Dimensionen gibt, in denen die Gewichte anders fallen... Der KPD-Frozeß war gewiß nicht tagespolitisch zweckmäßig, doch hat er Dinge ergeben, die wichtiger Sind als die Gunst der Augenblickspolitik.

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