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Hande in der algerischen Suppe

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In den letzten zwei Jahren hielt man sich in der französischen Politik, von einigen extremen Gruppierungen abgesehen, an die Regel, daß das Algerienproblem „eine Angelegenheit des Generals de Gaulle“ sei. Man erwartete von dem mit der größten Machtvollkommenheit seit Napoleon ausgestatteten Franzosen, daß er so oder so dieses Problem lösen werde. Er hatte das bis vor kurzem nicht getan, und so mehrte sich denn wieder das Auftreten von Gruppen, die ihrerseits etwas für die Lösung dieses erstickend auf Frankreich lastenden Problems tun wollen.

Auffällig ist dabei das Bestreben, die allzu gewohnten Bahnen zu verlassen. Bei den ausgesprochen politischen Bemühungen dieser Art sticht beispielsweise ins Auge, daß der heillosen Diskreditierung per Parteien Rechnung getragen wird wie auch dem Umstand, daß die Grenzen zwischen den Parteien längst nicht mehr mit den Grenzen zwischen den wirklich entscheidenden politischen Optionen zusammenfallen. Dachorganisationen unter parteimäßig nicht festgelegten Bezeichnungen, „Koordinationszentren“, vorbereitende Büros für Kongresse und Kolloquien sollen quer durch die überalterten Parteien hindurch die Gleichgesinnten sammeln. So gibt es für diejenigen, welche ein Verhandeln mit dem FLN für den einzig möglichen Weg zu einer Beendigung des Algerienkrieges halten, den „Kongreß für den Frieden in Algerien durch Verhandeln“, dessen Arbeitstagung in der Pariser „Mutualite“ (dem Volkshaus) vom Innenminister verboten worden ist. Linke Katholiken und Protestanten sitzen in ihm mit dissidenten Sozialisten, mit Men-desisten und auch einigen Kommunisten zusammen; dazu stoßen Gewerkschafter, Intellektuelle, wie Sartre, Madaule und Cassou.

Als Gegengründung zu dieser in ihren Ansätzen schon zwei Jahre zurückreichenden Organisation ist in den letzten Wochen eine andere Dachorganisation aufgetreten, deren Motor das von Jacques Soustelle gelenkte „Informationszentrum“ für algerische und Saharafragen ist (dessen Sitz nun doch in Paris und nicht in der Schweiz liegt). Die Tendenz dieser Gründung ist eindeutig die der „Algerie franfaise“, also gegen de Gaulles Parole vom „algerischen Algerien“ gerichtet. Daran ändert auch nichts, daß dort neben Soustelle und Bi-dault Repräsentanten des nationalistischen Flügels der Sozialisten, wie Lacoste und Lejeune, oder ein ehemaliger radikalsozialistischer Ministerpräsident wie Bourges-Maunoury sitzen, die dem Ganzen offensichtlich einen „liberalen“ Anstrich geben sollen.

Bisher weniger eindeutig festgelegt ist eine dritte Gruppierung, die sich mit noch etwas undeutlichen Umrissen präsentiert. Es handelt sich um ein anderes „Kolloquium“, das vom 30. Juni bis zum 2. Juli in der schönen, alten, nördlich von Paris in der Ile de France liegenden Abtei Royaumont abgehalten werden soll. Als Teilnehmer werden sowohl dem „Kongreß für den Frieden in Algerien“ nahestehende Persönlichkeiten wie auch Männer aus dem „liberalen“ Teil des Regierungslagers (etwa der Vizepräsident des Staatsrates, Cassin, der seinerzeit die Fünfte Republik ausrief) genannt. An diesem Kolloquium sollen die verschiedensten Meinungen zum Ausdruck kommen, und zugleich soll, der friedlichen Tradition dieses beliebten Tagungsortes gemäß, in den „rein juristischen und nicht politischen Diskussionen“ von Royaumont ein sachliches (und damit verbindendes) Ergebnis angestrebt werden: nämlich etwas konkretere Vorstellungen über die ideale staatsrechtliche Verbindung zwischen Frankreich und Algerien. Ob solche frommen Wünsche bei dem so von Leidenschaften durchsetzten Thema in Erfüllung gehen? Auf jeden Fall möchten die Leute von Royaumont offensichtlich so etwas wie eine Mitte zwischen den aggressiven „Antikolonialisten“ der Mutualite und den „Ultras“ (oder zumindest Anhängern der „Integration“ Algeriens) von Vincennes sein...

Immerhin, wer in diesen Jahren so viele Komitees, Koordinationssekretariate und Dachorganisationen auf der Bühne der französischen Politik hat vorbeidefilieren sehen, ist doch etwas skeptisch gegenüber diesen Anstrengungen — insbesondere, je wohlmeinender sie sind. Und man sieht sich nach ganz neuen, noch nicht verbrauchten Kräften um. Die französische Innenpolitik ist so gründlich festgefahren, daß derjenige, der von außen kommt, der ganz anders ist, zumindest den Überraschungseffekt für sich hat — der 13. Mai 1958 hat das gezeigt.

Nun, in den verflossenen Monaten ist in der französischen Politik etwas aufgetaucht, was es bisher nur in der Literatur gegeben hat oder in jenen Randzonen, in denen die Erwecker und Erleuchteten angesiedelt sind: nämlich die „Gewaltlosen“. In der französischen Geschichte mit ihrer überreichen Tradition an Revolutionen, Staatsstreichen und Verschwörungen tauchen sie nun als seltsamer Fremdkörper auf, und es ist schwer abzuschätzen, ob sie ein Kuriosum bleiben oder mit der Zeit tieferen moralischen Einfluß gewinnen werden.

Diese Menschen, unter denen sich viele recht junge Leute befinden, die auch Priester beider Konfessionen und sogar einen Sohn des gegenwärtigen Erziehungsministers Joxe zu den ihren zählen, sind von dem Dichter L a n z a d e 1 V a s t o inspiriert, der sich seinerseits auf Gandhi beruft. Was tun die „Gewaltlosen“, um gegen den Algerienkrieg mit seinen von b e iden Lagern begangenen Unmenschlichkeiten zu protestieren? Sie sind zum Beispiel vor das Innenministerium gezogen, wo sie sich zum Protest stumm auf die Straßen legten. Den Polizisten bleibt in solchen Fällen nichts anderes übrig, als die ihre Glieder willenlos hängen Lassenden wie Pakete aufzulesen und sie in den „paniers ä salade“, den dunkelblau gestrichenen Polizeiwagen, wegzuführen.

Einmal hat der Polizeipräfekt auch eine Ladung solcher „Gewaltlosen“ auf einen Friedhof bringen lassen, wo sich das frischgeschaufelte Grab eines von Algeriern umgebrachten Polizisten befand. Die „Non-Violets“ haben sofort dem Toten die Ehre erwiesen. Und neulich haben sie in einer von Algeriern bewohnten „Bidonville“ im Pariser Becken demonstrativ gefastet um gegen die von Algeriern begangenen Attentate zu protestieren. Man mag solche Unternehmungen für kindliche Naivität halten — immerhin haben sie selbst auf die so harte Pariser Polizei eine gewisse Wirkung gehabt. Es fiel auf. daß die Polizisten gegen die ..Gewaltlosen“ nicht mit der gleichen — nun sagen wir: Bestimmtheit vorgingen, wie sie das sonst gegen Leute tun, die sich anders verhalten, als sie nach Meinung der Obrigkeit eigentlich sollten.

Das könnte sich aber nun ändern. Nach einem Bericht der Polizei wurde am letzten Wochenende auf der Place de la Concorde ein zwanzigjähriger französischer Maturant verhaftet, der 370.000 für den FLN bestimmte neue Franken sowie eine Liste von „abzuschießenden“ Opfern des FLN bei sich getragen haben soll. Dieser jugendliche Kurier aber soll den „Gewaltlosen“ angehört haben. Dagegen hat die Organisation der „Gewaltlosen“ (auch sie sind organisiert!), die „Action c i v i-que non violente“, sofort protestiert: der junge Mann gehöre ihr nicht an. Im übrigen sei allein schon der Umstand, daß er den FLN unterstütze, ein Beweis dafür, daß er kein „Gewaltloser“ sei. Nun, das ist logisch. Aber ob es auch stimmt? Die Romantik, für die gerade junge Leute anfällig sind, kann seltsame Wege führen.

Mit dem Maturanten sind noch fünf andere junge Leute, mit Ausnahme eines Sieben-unddreißigjährigen alle um die Zwanzig herum, verhaftet worden, darunter auch, ein Mädchen. Sie scheinen alle sogenannten gutbürgerlichen Familien anzugehören; als Berufe der Väter werden genannt: Gymnasialprofessor, Ingenieur, hoher Kolonialbeamter, und der Vater der 18jährigen Studentin, welche offensichtlich das Gehirn der Gruppe war, ist sogar Oberst im Ruhestand. Diese Tatsachen haben jene naiven Gemüter erschreckt, welche meinten, man müsse die französischen Verbündeten des FLN vor allem in den kommunistischen Arbeitervororten suchen. Gerade dort aber sind die Vorbehalte gegen Algerier stärker, als man denkt. Die verschiedentlich in den letzten Monaten aufgedeckten und zerschlagenen französischen Hilfsorganisationen des FLN haben vielmehr gezeigt, daß die mit dem algerischen Nationalismus sympathisierenden Franzosen in ganz anderen Kreisen zu suchen sind: in der Boheme, bei Lehrern, bei den Kindern reicher Familien. Gerade in der „jeunesse doree“, die so mancher Dinge schon müde ist und vor allem der Werte, welche für die Eltern noch gelten, scheint eine Tätigkeit für den FLN großen Anreiz auszuüben. Es kommt da wohl viel zusammen: der Charme des Unbedingten, den eine so unbedingte Bewegung wie der FLN nun einmal an sich hat, dann der Reiz der Gefahr, des Exotischen und Neuen, nicht zuletzt aber auch das gerade im übersättigten Salon erwachende Bedürfnis, etwas für die „Unterdrückten“ zu tun.

Nun gibt es alvr nicht nur diese Jugend — es gibt, neben der Mehrheit der politisch Uninteressierten, auch die jungen Nationalisten, die in ihrer Mehrheit rassistisch denken und im „Sidi“, im Algerier, einen Eindringling sehen, dem „die starke Faust gezeigt werden muß“. Welchen Kreisen entstammt dieser andere, ebenfalls dem Abenteuer offene Teil der Jugend? Gewiß findet man in ihm auch Sprößlinge, des höheren Bürgertums — in ihrer Mehrheit dürften diese jungen aber dem Mittelstand, dem Kleinbürgertum und auch gewissen Schichten der Arbeiterschaft entstammen.

Es erfüllt mit Beklemmung, wenn man sich diesen Aufmarsch ansieht. Im Vergleich mit der Gesamtbevölkerung Frankreichs mögen diese gegnerischen Gruppen zahlenmäßig nicht ins Gewicht fallen. Aber es sind gerade die Aktivisten, die solche sich gegenüberliegende Bürgerkriegsstellungen beziehen, und oft auch sind es die am meisten von einem echten Idealismus bewegten Kräfte. Wie notwendig eine baldige Beendigung des Algerienkrieges für Frankreich ist, spürt man beim Anblick solcher Fronten.

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