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Harold Wilsons hundert Tage

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Nur noch wenige Tage trennen uns von dem Zeitpunkt, an dem die sozialistische Regierung unter Harold Wilson drei Monate alt sein wird. Die Zeitspanne am Ende des Jahres 1964 dürfte mit einer großen Wahrscheinlichkeit, die fast schon in Sicherheit übergeht, in kommenden zeitgeschichtlichen Rückblicken auf das Großbritannien in den „sechziger Jahren“ als durchaus bemerkenswert viel Raum einnehmen.

Schon in ihrer programmatischen Schrift „Signposts to Brltain“ aus dem Jahre 1961 warf die Arbeiterpartei den Konservativen vor, für das Großbritannien der sechziger Jahre kein entsprechendes Programm zu haben. Sie halte an Überholten Vorstellungen fest, lautete ungefähr einer der Kernsätze dieses Dokuments der Labour Party, nämlich an einer atomaren Bewaffnung, an einem sozial ungerechten Erziehungssystem, an der Todesstrafe, an einer profltbewußten Monopolwirtschaft und an einem Wohnungswesen, das den Grund- und Hauseigentümern hohe Gewinne bringe. Die gleiche Melodie beherrschte als Hauptthema in vielen Abwandlungen den Wahlkampf. Diese eher allgemeinen — und bekannten — Vorwürfe gipfelten in der Anschuldigung: Durch ihre Saumseligkeit hätten die Tories es bewirkt, daß Großbritannien seit 1951 nicht den gleichen wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung verzeichnete wie das kontinentale Europa.

Besonders Harold Wilson liebte dieses Thema, da es ihm eine Gelegenheit bot, dem Land und den unentschlossenen Wählern sich als ein dynamischer, unkonventioneller und rationaler Politiker vom Kennedy-Typ anzubieten. In der Nachahmung des verstorbenen Präsidenten ging Mr. Wilson sehr weit. Sie wird durch eine während der Wahlkampagne eingeworfene Bemerkung, wie sie der Publizist Richard West im „Encounter“ berichtet, er sei „nicht ein Kennedy... (sondern eher)... ein Johnson“ kaum kleiner: • Wiederholt verwendete er Phrasen, wie „new frontiers“, sprach von der „Dringlichkeit des Fortschrittes“ und forderte seinen Gegner Sir Alec Home zu einer Fernsehdebatte heraus. Erst jüngst auf dem Kongreß der Arbeiterpartei rief er, im gleichen beschwörenden Ton wie Kennedy, den Delegierten zu, daß „diese unsere Labour Party mehr als eine politische Organisation ist. Sie ist ein Kreuzzug ...“ Und mit ähnlichem Pathos kündigte er Mitte Oktober nach seiner Ernennung zum Premierminister „hundert Tage dynamischer Entscheidungen“ an. Was geschah nun in diesen hundert Tagen? Ohne dem Urteil der Historiker vorzugreifen, können sie wohl als turbulent bezeichnet werden. Ob sie aber wirklich die Bedingungen für ein dynamisches England schufen, erscheint als durchaus fraglich.

Den Beginn dieser drei Monate überschattete eine der schwersten Währungskrisen seit dem Jahre 1931. Obgleich die Währungsreserven die Einfuhr noch zu einem höheren Teil deckten als etwa 1913, und somit, technisch gesehen, kein Anlaß zu einer Panik vorhanden war, geriet das Pfund Sterling in eine Vertrauenskrise unvorhergesehenen Ausmaßes. Ohne Zweifel löste die Regierung die Pfundkrise als unbeabsichtigte Nebenwirkung selbst aus, indem sie das Handelsbilanzdefizit zu sehr dramatisierte. Premierminister Wilson wollte damit seinem Vorgänger und die Tories in den Augen der Wählerschaft als unverantwortlich hinstellen. Vielleicht; spielte auch der Hintergedanke eine Rolle, mit der politisch hochgespielten wirtschaftlichen Lage einige der umstrittensten geplanten sozialistischen Maßnahmen, wie Wiederverstaatlichung der Stahlindustrie und Nationalisierung des Baulandes, Kapitalertragssteuer usw., leichter plausibel machen zu können. Was immer auch beabsichtigt war, das Ergebnis war ein Eigentor, da eine Reihe von ausländischen Notenbanken und privaten Kreditoren sofort begannen, ihre Pfundguthaben in US-Dollarguthaben oder Gold zu konvertieren, weil sie eine Pfundabwertung befürchteten. Hierdurch, und nicht durch das Handels-bilanzdeflzit begann die schwere Währungskrise. Die folgenden Ereignisse, u. a. die Importsteuer und Hinaufsetzung der Bankrate auf die Notstandshöhe von 7 Prozent, die offensichtlich eine Voraussetzung für den Pariser Klub bildete, Großbritannien einen Beistandskredit von 3 Milliarden US-Dollar zur Verfügung zu stellen, schufen für die sozialistische Regierung eine kaum beneidenswerte Lage. Besonders der Schritt zur Diskonterhöhung, das heißt zur Deflation, war für Harold Wilson und sein Kabinett bitter, da sie in der Opposition die Tories bezichtigten, durch ihre „stop-go“-Politik ein stetiges Wirtschaftswachstum zu verhindern. Viele Nationalökonomen und Wirtschaftspublizisten hätten einer mäßigen Abwertung des Pfundes um 10 Prozent bis 20 Prozent auf eine Relation von 2,10 bis 2,30 US-Dollar für ein Pfund Sterling den Vorzug vor einer neuerlichen Deflationspolitik * gegeben. Mr. Wilson und Mr. Brown beraubten sich dieser Möglichkeit, als sie am 17. Oktober sich und die Arbeiterpartei zu einer Verteidigung der Pfundparität öffentlich verpflichteten. Nach Ansicht einiger Kommentatoren wäre auch ohne diese Erklärung kaum eine Abwertung zu erwarten gewesen, da es die Sozialisten politisch vermeiden wollten, als die „Partei der Abwertungen“ gebrandmarkt zu werden.

Pfundkrise und der damit zusammenhängende Komplex von Geschehnissen beherrschten die Schlagzeilen der internationalen Presse in einem Maße, daß die übrigen wirt-ichaftspolitischen Veränderungen, von den innenpolitischen Problemen gar nicht zu reden, nahezu unbemerkt blieben. Hier wurden sie freilich in den Zeitungen sowie im Parlament heftig diskutiert und werden wohl auch im neuen Jahr Streitpunkte bleiben.

Die Berufung der überaus profilierten Wirtschaftstheoretiker Balogh und Kaldor, die in der Vergangenheit mehrmals unkonventionelle Steuerreformen vorgeschlagen hatten, zu wirtschaftspolitischen Beratern des Premierministers und des Schatzkanzlers . Callaghan vrr ursachte.in der City ziemliches Unbehagen. Die „Financial Times“ begann auch bald nach der Wahl mit ihren Angriffen auf die beiden Wissenschaftler, indem sie auch nicht davor zurückschreckte, persönlich zu werden. Harold Wincott, der bekannte Publizist, leistete sich dabei in dem erwähnten angesehenen Blatt die Geschmacklosigkeit, Kaldor mit Hitler zu vergleichen (ausgerechnet Kaldor, der aus rassischen Gründen nach England emigriert ist). Den Zorn der Unternehmer zog sich die Regierung zu, als Mr. Callaghan im November in der Unterbausdebatte über das Nachtragsbudget für den Frühling eine corporate tax (eine Körperschaftssteuer, deren Bemessungsgrundlage nicht der Gewinn, sondern der Umsatz sein soll) und eine Kapttalertroffssteuer (wodurch Veränderungsgewinne bei Wertpapieren, Grundstücken usw. im selben Maß wie andere Einkommensarten steuerpflichtig würden) ankündigte. Im Parlament verging keine Sitzung ohne zahlreiche Anfragen der Opposition. Die konservativen Zeitungen begannen eine Kampagne, in der die Sinnlosigkeit und die gesamtwirtschaftlichen Gefahren einer solchen finanzpolitischen Reform ständig wiederholt werden. Mr. Maudling, der frühere konservative Schatzkanzler und gegenwärtige Sprecher der Opposition für wirtschaftspolitische Angelegenheiten, warf der Regierung vor, über altmodisch gewordenen Dogmen die Wachstumspolitik zu vergessen, und Schatzkanzler Callaghan beschuldigt die Tories, daß sie das wirtschaftliche Wachstum überhaupt nicht interessiere, sondern sie bloß um ihre Hintermänner mit hohen und bisher unversteuerten Einkünften besorgt wären.

Einen Lichtblick in diesem unerfreulichen, von Sachlichkeit wenig berührten parteipolitischen Hader bedeutete der Erfolg Wirtschaftsminister Browns, die Sozialpartner zu einer Einkommenspolitik zu einigen. Es muß sich erst zeigen, ob Großbritannien den Auftrieb der Preise und Löhne wirksamer wird steuern können als die meisten kontinentalen Länder. Die Sozialisten erfüllten mit der Unterzeichnung des Abkommens über die Einkommenspolitik nicht nur ein Wahlversprechen, sondern schufen nach Ansicht der OECD die wichtigste Bedingung für eine expansive Entwicklung der britischen Wirtschaft.

Wenngleich das wirtschaftspolitische Dilemma die Szene in den ersten 100 Tagen Wilsons beherrschte, setzte das Kabinett auf anderen Gebieten manche Neuerung durch oder löste durch manche gezielte Indiskretion über beabsichtigte Änderungen lebhafte Diskussionen aus. Größten Beifall erntete der Mut der Regierung, die bekanntlich bloß über eine Mehrheit von vier Abgeordneten im Unterhaus verfügt, ein Gesetz über die Abschaffung der Todesstrafe zur freien Abstimmung zu bringen. Nach jahrelangem Kampf gegen menschlichen Unverstand und kleinbürgerliche Selbstgerechtigkeit konnte endlich das unzeitgemäße Schauspiel des Hängens abgesetzt werden. Neben wirtschaftspolitischen Krisenmaßnahmen, der Abschaffung der Rezeptgebühr im Nationalen Gesundheitsdienst und der Einkommenspolitik war dies das einzige Projekt der Arbeiterpartei, das schon verwirklicht worden ist. Alles andere rief nur Kontroversen hervor. So zum Beispiel die Absicht, die berühmten Public Schools zu verstaatlichen, die Gymnasien abzuschaffen und einen einheitlichen Mittelschultyp ins Leben zu rufen, die Comprehensiue Modern Secondary School. Dieser Plan, zweifellos der egalitären Wurzel der alten Arbeiterbewegung entsprungen, wird selbst von radikalen Intellektuellen als absurd verworfen und ironisch als „Erziehungseintopf“ verrissen.

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