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Hat Macmillan „den Autobus versäumt“?

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Der derzeitige Premierminister Ihrer Britannischen Majestät entstammt nicht zufällig dem harten Boden Schottlands. Dorther seine Zähigkeit und seine guten Nerven. Er hat sich ein bestimmtes Ziel in den Kopf gesetzt, welches er erreichent‘ 4fl, “beverf er die'Kiftiigfrrum die Auflösung des "Pa'rlärrrents 'Md "die AuŠsčhrėilkmg von Neuwahlen bittet, und daran hat ihn bisher nichts irremachen können; weder die glückliche Lösung der so lange und so hart umkämpften Zypernkrise, ein Erfolg, der dem Prestige seiner Regierung in hohem Maße zugute kam, noch die gelungene Ueberwindung der wirtschaftlichen Rezession noch auch der Vorwurf vieler Partei freunde, er habe „den Autobus versäumt", als er den für die Konservativen unverhofft günstigen Ausgang der jüngsten Gemeinde- und Grafschaftswahlen nicht zum Anlaß nahm, den lokal zurückgedrängten Gegner unverzüglich auf nationaler Ebene zu terfölgeih: Er sieht ehiti ‘die- sicherste Gewähr für einen neuerlichen konservativen Sieg bei den nächsten Parlamentswahlen darin, daß es ihm gelänge, einen entscheidenden Beitrag zu einer west-östlichen Entspannung zu leisten; ein Gedanke, der ihn zu der alle Welt überraschenden Besuchsreise nach Moskau geführt hat und ihn, ungeachtet der dort gewonnenen Erfahrungen, weiterhin dazu bewegt, sich mit ganzer Kraft für die Abhaltung einer Gipfelkonferenz einzusetzen, die ihm Gelegenheit geben würde, wie er glaubt, sich als Meister in der Entschärfung des „kalten Krieges“ zu erweisen.

In einem Punkt hat Macmillan mit solchen Ueberlegungen sicherlich recht. Weder die Beendigung des blutigen Konflikts um Zypern, die von den breiten Massen mit sichtlicher Erleichterung quittiert wurde, noch der erzielte Aufschwung der britischen Wirtschaft und die günstige Entwicklung des Außenhandels noch die Festigung des Pfundes und die nahezu erreichte Stabilisierung der Lebenshaltungskosten noch selbst die namentlich für kleine Verdiener sehr fühlbare Steuersenkung auf Grund des neuen Budgets konnten die Wahlchancen der Konservativen so fest fundieren, wie es ein allfälliger Erfolg der Regierung Macmillan in ihrem offenkundigen Bemühen um einen west-östlichen Brückenschlag vermöchte. Denn nichts liegt den breiten Schichten des Volkes gegenwärtig so sehr am Herzen wie ein deutliches Schwinden der Gefahr eines bewaffneten Zusammenstoßes zwischen West und Ost; was ihnen schon dann gegeben schiene, wenn Chruschtschow sich dazu verstehen würde, seine in der Regel finster drohende Miene zumindest England gegenüber etwas freundlicher zu gestalten. Freilich, ob der Premier auch nur das zuwege bringt, selbst wenn es zu der Gipfelkonferenz kommen sollte, auf die Moskau einen so großen Wert legt, bleibt eine offene Frage; vorläufig zeigt weder Washington noch Paris oder Bonn eine Neigung, die britische These zu akzeptieren, daß Konzessionen seitens des Westens unerläßlich seien, um eine kritische Zuspitzung der Weltlage zu vermeiden. Deshalb bezeichnen es manche konservative Politiker nicht mit Unrecht als ein gefährliches Glücksspiel, daß Macmillan einige solide Trümpfe, die er in der Hand hatte, wegwarf, um die Siegeschancen seiner Partei auf eine Karte zu setzen, deren Stichwert unbekannt und bestenfalls von zweifelhafter Größe ist.

Wie immer die Kombinationen Macmillans ausgehen mögen, der sozialistischen Opposition haben sie eine Menge Wind aus den Segeln genommen. Verständigung mit Rußland, und die angebliche Unfähigkeit der Konservativen oder ihr angeblich mangelnder guter Wille, den Weg Zu einer solchen Verständigung zu ebnen, haben Jahrelang zu den meistgebrauchten und wirkungsvollsten Schlagwörtern der Labour-Propa- ganda gehört; jetzt, angesichts der so offenkundigen, angestrengten Bemühungen der konservativen Regierung um eine Besserung des Verhältnisses zu Rußland, ist mit dieser Parole nicht viel anzufangen. Dasselbe gilt von einer neuerlichen Anpreisung des sozialistischen Allheilmittels „Verstaatlichung“, welches seine anfängliche Zugkraft längst eingebüßt hat. Noch weniger lassen sich die Schwierigkeiten aus- beuten, die aus dem stürmischen Unabhängigkeitsdrang der einheimischen Bevölkerung britischer Kolonien in Afrika oder ihrer jüngst erlangten Eigenstaatlichkeit erwachsen sind; Vorfälle wie die zeitweilige Verhängung des Standrechts über Südrhodesien oder die Gewalttaten in einem Konzentrationslager in Kenya, wo eine größere Anzahl Neger unter den Prügeln ihrer Aufseher den Tod fanden, konnten den oppositionellen Blättern Material für heftige Angriffe auf die Regierung liefern, zur Führung einer aussichtsreichen Wahlkampagne langt aber dergleichen nicht aus. Daß Labour in ernstlicher Verlegenheit ist, zeigte sich unlängst in einer Rede ihres Vorsitzenden, Gaitskell, der wenig darüber zu sagen wußte, was seine Partei im Falle ihrer Rückkehr zur Macht unternehmen wolle, um so mehr aber über die Folgen ihrer eventuellen neuerlichen Niederlage. Als erstes,

so erklärte er, würde die nächste konservative Regierung die noch bestehenden Reste des Mieterschutzes völlig beseitigen und damit der großen Mehrheit der Bevölkerung eine kaum tragbare Belastung auferlegen. Der damit indirekt zugegebene Mangel eines positiven Programms wurde von Prof. Hilary Marquand, anerkannter Sozialwissenschaftler und derzeit Chefideologe der Labour-Partei, sehr deutlich unterstrichen. Er hält es für einen baren Unsinn, zu glauben daß Labour mit. Reden,-parlamentari . sehen Abstimmungen und dem Erscheinen von einem Dutzend ihrer Prominenten auf dem Fernsehschirm die Konservativen aus dem Sattel heben könnte. Allerdings weiß auch er keinen anderen Rat, als daß die Labour-Abgeordneten und -Kandidaten, jeder in seinem Wahlkreis, eine intensive Haus-zu-Haus-Tournet durchführen sollten; auch ihm, nicht weniger als seinen führenden Parteigenossen auf dem europäischen Kontinent, fehlt ein wirklich fortschrittliches Konzept, ein Programm, welches befreit wäre von dem Ballast der durch die wirtschaftliche und soziale Entwicklung,längst überholten Ressentiments und den doktrinären Vorstellungen des vorigen Jahrhunderts und den heutigen, so ganz anders gearteten Verhältnissen Rechnung trüge. Marquand spricht es nicht offen aus, aber im engeren Kreis machen er und andere intellektuell führende englische Sozialisten kein Geheimnis aus ihrer Sorge um die Zukunft Labours. In ihrer heutigen Form, so kann man da hören, würde die Partei eine dritte Niederlage bei allgemeinen Wahlen kaum überstehen; anzunehmen wäre vielmehr, daß Mitte und Rechte sich unter eftiem mehr demokratischen als sozialistischen Vorzeichen mit den Liberalen vereinigen würden, um so eine scharfe Trennungslinie zwischen sich und dem radikalen linken Flügel zu ziehen. Vielleicht hatte Aneurin Bevan eine solche Möglichkeit bereits im Auge, als er dieser Tage in einer Versammlung von Labour-Funktionären erklärte, lieber würde er der Partei den Rücken kehren, als auf sein Ziel verzichten, die privaten Produktionsmittel nach sowjetischem Muster — er betonte dies ausdrücklich — in den Besitz der öffentlichen Hand übertragen zu sehen.

Nun, noch ist die Wahlschlacht nicht geschlagen, und auch ihr Termin, ob im Herbst oder, spätestens, im nächsten Frühjahr, noch in der Schwebe. Vermutlich will Macmillan seine diesbezügliche Entscheidung von dem weiteren Verlauf der Verhandlungen mit Moskau abhängig machen. Aus diesem Grund vor allem wagen es die politischen Wetterpropheten noch nicht, Wahlprognosen aufzustellen. Gegenwärtig, so behaupten sie, lägen die Chancen der beiden großen Parteien genau gleich, aber im Lauf der nächsten Monate könne sich das in überraschender We' e ändern. Eine Behauptung, mit der sie jedenfalls Recht behalten werden.

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