Hebamme  - © Foto: Laurence Bondard / sos mediterrane

Hebamme auf der „Ocean Viking“: Ein Schiff voller Traumen

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Die Rettung Geflüchteter vor der libyschen Küste wird vielfach attackiert, politisiert und kriminalisiert. Eine Hebamme erzählt von der konkreten Arbeit auf der „Ocean Viking“.

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Die Rettung Geflüchteter vor der libyschen Küste wird vielfach attackiert, politisiert und kriminalisiert. Eine Hebamme erzählt von der konkreten Arbeit auf der „Ocean Viking“.

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Mitunter gibt es Überraschungen. Die letzte Runde, die Josefa Fasching mitgemacht hat, war so eine. 122 Menschen hatte das Schiff „Ocean Viking“ an Bord – und konnte dennoch ohne gröbere Verzögerungen in Sizilien anlanden. Kalamitäten, Schwierigkeiten, Behördenschikanen vor dem Anlegen, das ist an sich Routine. Wochen kann es dauern, bis es eine Genehmigung gibt. Diesmal bleibt also mehr Zeit, um die Bordklinik in Schuss zu bringen, Reserven zu sichten und aufzustocken und auch etwas auszuspannen. Denn der Dienst auf dem Schiff ist nervenaufreibend. Jederzeit kann ein Funkspruch hereinkommen. Und so war es zuletzt auch: Drei Boote binnen weniger Stunden gleich am zweiten Tag auf See hatte das Rettungsteam an Bord gesichtet und die Menschen an Bord genommen. Andernfalls wären sie wohl ertrunken.

Wenn also der Funkspruch „Ready for rescue“ an die Crew komme, wisse jeder, was er oder sie zu tun habe, sagt Josefa Fasching. Für sie selbst bedeutet das: das medizinische Modul sowie den Frauen- und Kinderversorgungscontainer fertig machen. Die „Ocean Viking“ ist eines von zwei im Mittelmeer verbliebenen Rettungsschiffen, die Flüchtende vor der libyschen Küste von überladenen, kaum seetauglichen Schlauch- und Holzbooten retten. Gebaut worden ist das Schiff für die Versorgung von Offshore-Bohrplattformen. Heute nimmt es Menschen in Seenot auf. Betrieben wird das Schiff von der NGO „SOS Méditerranée“ sowie dem Roten Kreuz. Und Josefa Fasching, die Hebamme aus Waldhausen im Strudengau, ist derzeit eines der Besatzungsmitglieder.

Theorie und Praxis

Es ist ein politisch umstrittener Einsatz. Dabei ist die Rechtslage, was Völker- und auch Seerecht angeht, eindeutig: Europa habe sich verpflichtet, ein Asylsystem zu führen, das einen gerechten Zugang bieten sollte, so Jürgen Högl, Rotkreuz-Einsatzleiter der Mission. Und auch die Konventionen, zu denen sich die EU verpflichtet habe, seien klar. Nur: „Hier ist de facto die politische Theorie und die gelebte Praxis ein gravierendes Thema.“ Im Jahr der großen Fluchtbewegung, 2015, und in der Zeit danach lag die Aufmerksamkeit in Europa voll auf dem Thema Flucht.

Das Corona-Virus hat den Blick davon weggelenkt. Das bedeutet freilich keinesfalls, dass sich nicht nach wie vor täglich Menschen von Libyen aus auf den Weg nach Europa machen. Allein heuer waren es bislang rund 80.000, die auf dem Seeweg versucht haben, hierher zu gelangen. Ein stiller Tod war es immer, der all jenen drohte, die die Überfahrt wagten. Heute ist es ein stiller Tod jenseits jeder politischen Wahrnehmung. Und je weniger Rettungsschiffe im Mittelmeer kreuzen, desto mehr Tote. Geschätzte 1115 Menschen waren es in den ersten neun Monaten dieses Jahres.

Für einen Pull-Effekt gibt es laut Jürgen Högl dabei aber keinerlei Belege. Denn die Zahl der von Libyen ablegenden Boote, die bleibe gleich, egal wie viele Rettungsschiffe im Mittelmeer kreuzten. Nur die Zahl der Toten, die sinke mit dem Hilfseinsatz. Denn an den Grundvoraussetzungen hat sich nichts geändert. Und Josefa Fasching kennt alle Berichte aus Libyen. Die Geschichten über Folter. Die Geschichten über die Flucht. Und sie kennt die Folgen. Sie sieht sie, wenn sie Gerettete medizinisch betreut. Da gab es einen Mann, der Dauerschmerzen in der Wirbelsäule hatte, weil ihm Soldaten in den Rücken gesprungen waren. Andere hatten Spuren von Elektroschocks. „Alles Mögliche“ gebe es da, erzählt sie. Die EU aber hat die libysche Küstenwache ausgerüstet, um Boote aufbringen und Flüchtende zurückbringen zu können – entgegen geltendem Völkerrecht, das die Zurückweisung eindeutig untersagt.

25 Tage alt war der jüngste gerettete Mensch bei der letzten Tour von Josefa Fasching. Sie beschreibt den Zustand des Kindes. Gott sei Dank sei das Baby nicht unterkühlt und einigermaßen gut ernährt gewesen. Es war das Kind einer Libyerin, die aus ihrem Heimatland floh. Sicher drei, vier Familien aus Libyen seien diesmal dabei gewesen. Und für eine Familie aus Westafrika sei es der bereits vierte Versuch gewesen, aus Libyen hinauszukommen. Für Josefa Fasching drängt sich da immer eine Frage auf: „In welcher Situation müssen Menschen sein, wenn sie die Flucht über das Meer in fragilen Booten als ihre beste Lösung sehen?“

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