Herdenimmunität auf der Kippe

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Die Niederlande verfolgen eine höchst umstrittene Corona-Politik. Die heftige Kritik daran scheint nun aber eine Kehrtwendung auszulösen.

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Die Niederlande verfolgen eine höchst umstrittene Corona-Politik. Die heftige Kritik daran scheint nun aber eine Kehrtwendung auszulösen.

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Es kommt in den Niederlanden äußerst selten vor, dass sich der Premierminister direkt an die Bevölkerung wendet. Und vermutlich wird man sich an die TV-Ansprache Mark Ruttes aus Anlass der Corona- Pandemie noch in vielen Jahren erinnern. Was einerseits an den Dimensionen dieser Krise liegt, die in den Niederlanden bei Redaktionsschluss gut 5000 Infektionen und über 200 Tote verzeichnet. Andererseits ist da der Ansatz, mit dem Ruttes Regierung diese bekämpfen will, und ein Schlagwort, das seitdem weit über die Grenzen hinaus für Kritik sorgt: „Herdenimmunität“.

Im Detail lautet der Plan so: um die Risiken für besonders gefährdete Personen zu minimieren, will man, bis eine Impfung oder Medizin verfügbar ist, „kontrollierte Herdenimmunität aufbauen“. Grundlage dieses Konzepts ist die Annahme, dass, wer das Virus hatte, danach meist immun sei. Der Premier folgert: „Umso größer die Gruppe, die immun ist, desto kleiner die Chance für das Virus auf anfällige ältere Menschen und Personen mit schwacher Gesundheit überzuspringen.“

Herdenimmunität soll also eine Art „Schutzmauer“ für Riskogruppen bilden. Das beinhaltet eine „beherrschbare Verbreitung“ des Corona-Virus unter Bevölkerungsgruppen, für die eine Infektion weniger riskant sei, was laut Rutte „Monate oder länger“ dauern könne. Risikogruppen sollten unterdessen möglichst abgeschirmt werden. Jaap van Dissel, der Direktor des staatlichen Gesundheitsinstituts RIVM, erklärte, eine Immunität von 50 bis 60 Prozent der Bevölkerung sei dazu nötig. Andernfalls bleibe die Gesellschaft bei einer erneuten Corona-Welle anfällig.

Nach seiner Rede erntete Rutte, der einer Mitte-Rechts-Koalition aus vier Parteien vorsitzt, große Zustimmung bis weit in die Opposition hinein. Lediglich die rechtspopulistischen Partij voor de Vrijheid (PVV) und Forum voor Democratie (FvD) kritisierten den Ansatz. In einer stundenlangen Parlamentsdebatte sprachen beide Parteien sich erneut für einen Lockdown nach dem Vorbild der Nachbarländer aus. Wilders warf der Regierung vor, sie „experimentiere mit Menschen“, weil das Prinzip der Herdenimmunität nicht bewiesen sei.

Mehr Tests gehören indes nicht zur derzeitigen Strategie der Regierung in Den Haag. Stattdessen gilt ein Besuchsverbot in Pflegeheimen, um Bewohner und Angestellte zu schützen.

Vielfach kam in der Debatte die Unsicherheit zur Sprache, dass eine Infektion von mehr als der Hälfte der Bevölkerung auch eine hohe Anzahl an Toten bedeute. Und während Rutte noch einmal unterstrich, dass er einen Lockdown weder für hilfreich noch für vermittelbar halte, sah er sich doch gezwungen, beim Reizwort der Herdenimmunität nuancierend nachzubessern: „Unser Ziel sind ausreichende Kapazitäten auf Intensiv- Stationen. Herdenimmunität ist ein Nebeneffekt dieses Ansatzes.“

Dass die niederländische Debatte im Kern den Konflikt zwischen traditionellen Parteien und ihren rechtspopulistischen Herausforderern widerspiegelt, ist wenig überraschend. Eine ähnliche Konstellation findet sich in Den Haag inzwischen bei den meisten politischen Fragestellungen. Zugleich gibt es allerdings auch seitens der WHO deutliche Kritik am Ansatz der Regierung: Auf einer Pressekonferenz letzte Woche betonten Vertreter, Herdenimmunität sei beim Corona-Virus nicht nachgewiesen. Daher sei nun nicht der richtige Zeitpunkt, um auf einen entsprechenden Ansatz zu vertrauen. Stattdessen ginge es um grundlegende Vorsorgemaßnahmen.

Mehr Tests gehören indes nicht zur derzeitigen Strategie der Regierung in Den Haag. Stattdessen gilt seit Freitag ein Besuchsverbot in Pflegeheimen, um Bewohner und Angestellte zu schützen. Ansonsten liegt auch zwischen Maastricht und Groningen das öffentliche Leben weitestgehend still. Alle Schulen und Unis, Restaurants, Bars, Sporteinrichtungen und die meisten Geschäfte haben geschlossen.

Nachdem am letzten, sehr sonnigen Wochenende allerdings zahlreiche Menschen in Parks und an Stränden zusammenkamen, ergriff die Regierung nun doch drastischere Maßnahmen: Am Montag wurden sämtliche Zusammenkünfte von Menschen bis zum 1. Juni verboten. Wer den Mindestabstand von anderthalb Metern in der Öffentlichkeit nicht einhält, kann ein Bußgeld von 400 Euro erwarten. Eine Notverordnung gibt Bürgermeistern zudem lokal die Möglichkeit, Maßnahmen zu ergreifen. Premier Rutte kündigte an: „Wenn das nicht hilft, ist der nächste Schritt, das ganze Land dicht zu machen.“

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