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Hinter den Kirchen wachsen Moscheen

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Islamische Kopftücher werden auch bei uns immer selbstverständlicher. Von einer multireligiösen Gesellschaft sind wir aber noch weit entfernt.

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Islamische Kopftücher werden auch bei uns immer selbstverständlicher. Von einer multireligiösen Gesellschaft sind wir aber noch weit entfernt.

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Die „multireligiöse Gesellschaft” ist ein ebenso unscharfer und gelegentlich mißverständlicher Begriff wie die „multikulturelle Gesellschaft”. Tatsache ist aber, daß die religiöse Landkarte Europas in den letzten Jahrzehnten bunter geworden ist, auch wenn sich die traditionellen religiös-kirchlichen Prägungen der einzelnen Länder dabei durchgehalten haben. Am stärksten fällt zweifellos die muslimische Präsenz in der Westhälfte des Kontinents ins Auge, in Österreich ebenso wie in Belgien, in Italien ebenso wie in den Niederlanden. Neben die Kirchen und Synagogen sind inzwischen vielerorts die Moscheen beziehungsweise muslimischen Gebetsräume getreten.

„Multireligiosität” ist allerdings nicht gleich „Multireligiosität”, sondern weist in jedem europäischen Land spezifische Züge auf. Beispiel Frankreich: Neben katholischer Mehrheit und protestantischer Minderheit beherbergt Frankreich heute sowohl die größte jüdische wie die größte muslimische Gemeinschaft in Westeuropa. Die jüdische Gemeinschaft von zirka 650.000 Personen ist in den letzten Jahrzehnten vor allem durch Zuzug aus dem Maghreb gewachsen; aus Nordafrika stammt auch der größte Teil der inzwischen etwa vier Millionen französischer Muslime.

Beispiel Großbritannien: Auch hier stellen die Muslime mit zirka 1,1 Millionen die stärkste nichtchristliche Beligionsgemeinschaft, wobei die Mehrzahl aus Pakistan und Bangla Oesfa stammt. Ein Erbe der englischen Kolonialvergangenheit ist auch die Präsenz starker Gruppen von Hindus und Sikhs (jeweils etwa 400.000). Nach Frankreich stellt Großbritannien die größte jüdische Gemeinschaft in Westeuropa (zirka 330.000).

Beispiel Deutschland: Hier stammen die inzwischen zirka zwei Millionen Muslime vor allem aus der Türkei. Die jüdische Gemeinschaft hat sich in den letzten Jahren durch die Aufnahme von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion von 30.000 auf 60.000 verdoppelt. Einige Zehntausend Deutsche gehören buddhistischen Gemeinschafen an; in Frankreich soll es bis zu 150.000 französische Buddhisten geben.

Für alle genannten wie auch für die übrigen westeuropäischen Länder gilt, daß sich die Problematik des Ne-beneinanders verschiedener Beligio-nen je nach Region sehr unterschiedlich stellt. Iii vielen ländlichen Begio-nen Deutschlands, Frankreichs oder Großbritanniens sind die Angehörigen nichtchristlicher Religionen eine verschwindend kleine Minderheit. Andererseits überwiegen in manchen deutschen Großstadtquartieren die muslimischen inzwischen die christlichen Grundschüler. Auch die französischen und britischen Muslime konzentrieren sich weitgehend auf städtisch-industrielle Ballungsräume; in England gilt das auch für Hindus und Sikhs.

Die Frage nach der Multireligiosität und ihren gesellschaftlichen Auswirkungen läßt sich auch nie unabhängig von dem Staat-Kirche-Verhältnis im jeweiligen Land beziehungsweise dem traditionellen Verhältnis von Religion und Gesellschaft betrachten. So stellt sich in Deutschland die Frage, inwieweit sich die muslimische Gemeinschaft in ein staatskirchenrechtliches System integrieren läßt, das vor allem den beiden großen christlichen Kirchen auf den Leib geschnitten ist. Muslimischen Religionsunterricht an staatlichen Schulen in Analogie zum evangelischen oder katholischen Religionsunterricht gibt es bislang nicht, auch wenn mehrfach entsprechende Versuche unternommen wurden.

In England sind alle Kirchen und Religionsgemeinschaften mit der Sonderrolle der anglikanischen Staatskirche konfrontiert, die im Zusammenhang der Schwierigkeiten im Königshaus derzeit wieder heftig diskutiert wird. Der Prinz von Wales hat vor einiger Zeit mit der Bemerkung Aufsehen erregt, er sehe seine Bolle als künftiger König nicht als „Verteidiger des Glaubens” (so der auf Heinrieh VIII. zurückgehende Ehrentitel des Monarchen als Oberhaupt der Church of England), sondern als „Verteidiger der Glaubensrichtungen”, also aller Religionsgemeinschaften.

In Frankreich wiederum hat vor einigen Jahren der Streit um das Tragen islamischer Kopftücher in öffentlichen Schulen deutlich gemacht, welche Probleme sich für die Anfang des Jahrhunderts eingeführte, inzwischen aber in vieler Hinsicht gelockerte, radikale Trennung von Staat und Kirche aus der Präsenz einer selbstbewußten, auf ihre Traditionen bedachten Gemeinschaft wie dem Islam ergeben. Die „Kopftuchfrage” hätte sich so weder in Deutschland noch in Großbritannien gestellt.

Und wie wird es in Westeuropa „multireligiös” weitergehen? Dramatische Veränderungen in der Religionsstatistik sind für die nächste Zeit nicht zu erwarten, auch wenn die Zahl der Muslime vermutlich weiter steigen wird. Das so gut wie überall spürbare Interesse am Buddhismus (man kann von der „Trendreligion Buddhismus” sprechen), dürfte sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht über das bisherige Maß hinaus zahlenmäßig niederschlagen. Entscheidend ist die Frage, welchen Platz in der Gesellschaft die nichtchristlichen Minderheiten einnehmen werden: Wird sich in größerem Umfang so etwas wie ein „assimilierter” Islam ähnlich wie das assimilierte Judentum des 19. und 20. Jahrhunderts entwickeln oder stehen die Zeichen eher auf Abkapselung ' der muslimischen Gemeinschaft?

Die religiösen Gruppen ostasiatischer Herkunft fügen sich demgegenüber wesentlich unauffälliger in den religiös-weltanschaulichen Pluralismus Westeuropas ein.

Wieder anders als im Westen stellt sich die Lage im früher kommunistisch beherrschten Teil Europas dar. Hier fehlt, natürlich abgesehen vom Balkan und Teilen Rußlands, die in Westeuropa durch Einwanderungen entstandene islamische Komponente. In welchem Umfang sich andere nichtchristliche Religionen und Spiritualitäten etablieren können, ist derzeit noch nicht abzusehen. Der religiöse Pluralismus wird aber auch dort in jedem Fall zunehmen, so daß das Thema „Multireligiosität” in Zukunft auf der gesamteuropäischen Tagesordnung stehen wird.

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