Joe Biden - © Foto: APA / AFP / Mandel Ngan

Historiker Bernd Greiner: "Die USA denken nur militärisch"

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Der deutsche Historiker, Politikwissenschafter und Amerikanist Bernd Greiner über die außenpolitische Halbzeitbilanz von US-Präsident Joe Biden, alternative Sicherheitspolitiken gegenüber Russland und die Gefahren eines Atomkonflikts.

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Der deutsche Historiker, Politikwissenschafter und Amerikanist Bernd Greiner über die außenpolitische Halbzeitbilanz von US-Präsident Joe Biden, alternative Sicherheitspolitiken gegenüber Russland und die Gefahren eines Atomkonflikts.

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Die US-Geschichte des 20. Jahrhunderts – insbesondere der Kalte Krieg – gehört zu den Forschungsschwerpunkten von Bernd Greiner. In Büchern wie „Henry Kissinger. Wächter des Imperiums“ (2020) und „Made in Washington. Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben“ (2021) hat der Historiker und Politologe, der bis 2018 in Hamburg lehrte, freilich auch heftige Kritik an der US-Politik geübt. DIE FURCHE hat ihn zum Gespräch gebeten.

DIE FURCHE: Herr Greiner, in den USA steht mit den Midterm-Wahlen am 8. November auch eine Halbzeitbilanz für Präsident Joe Biden zur Abstimmung. Wird sich danach etwas am US-Kurs in der Ukraine- und der China-Politik ändern?
Bernd Greiner: Dass sich an den großen Linien der US-Außenpolitik etwas grund­legend ändern könnte, sehe ich nicht. Es wird bei dem Bemühen bleiben, den im Gang befindlichen und irreversiblen Verlust amerikanischer Hegemonie zu stoppen oder gar wieder zum status quo ­ante zurückzukehren, so illusorisch das auch sein mag. Das ist von der Agenda sowohl der Demokraten wie der Republikaner nicht wegzudenken, beide tun sich mit dem Verlust der traditionellen Vormachtstellung ungemein schwer. Diesbezüglich gibt es keinen Unterschied zwischen beiden Parteien. Deshalb bleibt es auch bei der Fixierung auf militärische Stärke und Übermacht. Und es wird auch nichts an der Bereitschaft ändern, die Konfrontation mit China zu suchen und gegebenenfalls Vabanque zu spielen. In einem Satz: Es fehlt am Willen und an der Fähigkeit, Sicherheit jenseits des Militärischen zu denken und politische Fantasie darauf zu lenken, wie eine solche alternative Sicherheit aussehen könnte und sollte.

Bernd Greiner - © Foto: privat

Bernd Greiner

Der Historiker und Amerikanist hat von 1994 bis 2018 den Arbeitsbereich „Theorie und Gewalt“ am Hamburger Institut für Sozialforschung geleitet und war Honorarprofessor für Neuere Geschichte an der Uni Hamburg. Von 2015 bis 2018 leitete er zudem das Berliner Kolleg Kalter Krieg.

Der Historiker und Amerikanist hat von 1994 bis 2018 den Arbeitsbereich „Theorie und Gewalt“ am Hamburger Institut für Sozialforschung geleitet und war Honorarprofessor für Neuere Geschichte an der Uni Hamburg. Von 2015 bis 2018 leitete er zudem das Berliner Kolleg Kalter Krieg.

DIE FURCHE: Was wiegt schwerer: die fehlende Kapazität oder der mangelnde Wille?
Greiner: Es ist beides. Es ist der Wille zur Macht, der sich in dem Unwillen manifestiert, sich von der hegemonialen Stellung zu verabschieden oder qualitative Einbußen in Kauf zu nehmen. Es ist aber auch ein Mangel an Fantasie. Warum? Weil dieses auf den Primat des Militärischen fixierte Denken seit 1945 in den politischen Diskurs der außen- und sicherheitspolitischen Elite der USA eingebrannt ist. Man kann und muss von einer verkümmerten politischen Fantasie sprechen, erstickt von dem Dogma, immer die Nummer eins bleiben und die Welt nach eigenen Vorstellungen ordnen zu müssen.

DIE FURCHE: Wird der diffuse Streit um die sogenannte schmutzige Bombe oder ein möglicher Einsatz einer Atombombe den Ausgang der US-Wahlen beeinflussen?
Greiner: Außenpolitik hat in den USA nur selten eine Wahl und so gut wie nie eine Zwischenwahl beeinflusst. Aber eine militärische Eskalation – in welcher Form auch immer – hätte selbstverständlich unabsehbare Folgen. Zumindest würde es die Position all jener stärken, deren intellektueller Horizont nicht über Spreng­köpfe hinausragt. Und davon gibt es auch unter den Demokraten sehr, sehr viele.

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DIE FURCHE: In Ihrem 2021 erschienenen Buch „Made in Washington“ schreiben Sie, Europa müsse sich von den USA emanzipieren, es habe die Voraussetzungen dazu – darunter den Willen zum Verzicht auf Gewalt. Stehen Sie auch heute – nach Putins Angriff auf die Ukraine – zu dieser Aussage?
Greiner: Das Schlusskapitel meines Buches rät zur intellektuellen Schubumkehr in der Außenpolitik, und zwar im Geiste einer gemeinsamen kollektiven Sicherheit, anknüpfend an der Ostpolitik Willy Brandts in den 1970er Jahren und an der KSZE, aber auch im Rückgriff auf das Erbe von Michail Gorbatschow. Nun hat sich insofern etwas grundlegend geändert, als Wladimir Putin durch seinen Angriffskrieg die Aussicht auf eine kooperative Politik der gemeinsamen Sicherheit auf absehbare Zeit ruiniert hat. Wer das Völkerrecht bricht, einen Angriffskrieg führt, Kriegsverbrechen begeht, der ist für die meisten kein Ansprechpartner mehr. Doch dies ändert nichts an der Notwendigkeit einer kollektiven Sicherheitspolitik in Europa und über Europa hinaus. Denn im Unterschied zum Kalten Krieg stehen wir heute vor ganz anderen globalen Herausforderungen. Ob Klimakatastrophe, Pandemien oder wirtschaftliche Vernetzung – die großen Akteure müssen Lösungen auf der weltpolitischen Bühne finden und gemeinsam tragen. In dieser Hinsicht würde ich hinter die oben zitierte Aussage heute noch drei Ausrufezeichen setzen.

DIE FURCHE: Doch ist diese Zusammen­arbeit nun nicht absolut fern der Realität?
Greiner: Im Nachdenken über politische Systeme und alternative Sicherheits­architekturen dürfen wir uns nicht von aktuellen Ereignissen, so furchtbar sie sind, blenden oder entmutigen lassen. Zwei Beispiele: Die Idee der „kollektiven Sicherheit“ entwarf Willy Brandt erstmals im Jahr 1939 – kurz nach dem Überfall auf Polen. Oder denken Sie an ­Michail Gorbatschow. Niemand hätte in den 1980er Jahren im Traum daran gedacht, dass angesichts der Zuspitzung des Kalten Krieges ein politischer Durchbruch möglich ist. In der EU hat man es in den 1990er Jahren und vor allem gegenüber George W. Bush seit 2000 versäumt, ein Gegengewicht zur damals und bis heute verfolgten Sicherheitspolitik Washingtons aufzubauen.

George Kennan warnte bereits 1997: Wenn die USA weiterhin auf eine Osterweiterung der NATO setzen, würde man in Russland die chauvinistischsten Kräfte befeuern

DIE FURCHE: Was ist der Kern dieser ­Politik der USA im Gegensatz zu jener der EU?
Greiner: Die USA wollen, wie während des Kalten Krieges, Sicherheit in erster Linie mit militärischer Stärke herstellen und obendrein eine Machtprojektion der NATO gen Osten betreiben. Das entschuldigt Putin zwar mit keinem Wort. Doch bereits 1997 warnte George Kennan, der große alte Mann und Stratege der US-Eindämmungspolitik im Kalten Krieg, vor den Folgen. Wenn die USA weiterhin auf eine Osterweiterung der NATO und den Ausbau ihrer Militärallianzen setzen und die nichtmilitärische Dimension von Sicherheit vernachlässigen, dann, so schrieb er, würde man in Russland die chauvinistischsten, nationalistischsten und revanchistischsten Kräfte befeuern.

DIE FURCHE: Was hätte man stattdessen tun können?
Greiner: Man hat es versäumt, sicherheitspolitische Modelle jenseits des Ausbaus von Militärallianzen, also der NATO, auszutesten. Im Blick auf Osteuropa wäre das etwa die alte Idee der entmilitarisierten Zonen gewesen. Oder auch eine Politik in Anlehnung an das Modell Österreich, also eine Neutralität samt Garantiemächten, die diese Neutralität gewährleisten. All dies nach dem Ende des Kalten Krieges vernachlässigt zu haben, als das Fenster der Gelegenheit offen war – das meine ich, wenn ich von einem vergeudeten Jahrzehnt spreche.

DIE FURCHE: Die Europäer sind naturgemäß an dauerhaftem Frieden auf ihrem Kontinent interessiert. Doch den USA schreiben viele Experten – etwa der US-Geostratege George Friedman – als primäres Ziel zu, eine allzu enge Zusammenarbeit Russlands und der EU zu verhindern. Manche vermuten, die USA könnten ein Interesse am Ukra­ine-Krieg haben, den viele als Stellvertreterkrieg beschreiben.
Greiner: Die These Friedmans kann ich im Großen und Ganzen unterstützen. Es war seit 1945 die Strategie der USA, keine zu starke Verbindung Russlands zu Deutschland bzw. zu Westeuropa zuzulassen. Dafür gibt es viele Beispiele, nicht zuletzt das Misstrauen, phasenweise auch der Widerstand gegen die Ostpolitik Willy Brandts. Ich würde allerdings auf keinen Fall unterstellen, dass Washington ein Interesse an einer Intervention Russlands in der Ukra­ine und einem Krieg gehabt hätte. Wohl aber hat Washington mit dem Feuer gespielt, als man offensiv eine NATO-Mitgliedschaft Georgiens und der Ukraine ins Spiel brachte. Man hat Risiken in Kauf genommen in der festen Überzeugung, die Russen auf welche Art auch immer von der Intervention in der Ukraine abhalten zu können. Dies war eine grandiose Fehlkalkulation. Das heutige Gejammer und die Kritik in Richtung Macron oder Merkel, verblendete und naive Westeuropäer hätten Putin zum Krieg ermutigt, gehen völlig an der Sache vorbei. Denn Putin ist West­europa spätestens seit 2008 relativ egal: Was er will, ist, als gleichberechtigte Großmacht neben den USA anerkannt zu werden.

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