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Hungernde Agrarstaaten

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Man ist geneigt, die Vorstellung von Landstrichen, die vorwiegend von Bauern besiedelt sind, mit dem Begriff der Sattheit, mit der einer reichlichen Deckung des Nahrungsmittelbedarfes, zu verbinden.

Diese Ansicht trifft überall dort zu, wo dem Boden mehr Erzeugnisse abgerungen werden können, als für die Selbstversorgung der Bauern erforderlich ist, und wo von diesen aus den Erlösen für die getätigten Verkäufe genügend Mittel zur Verfügung stehen, um alle sonstigen Bedürfnisse zu decken und den Wirtschaftsbetrieb noch weiter auszugestalten.

Es ist aber auch verständlich, daß von der wünschenswert vollen Bedarfsdeckung, ja nicht einmal von der regelmäßigen Stillung des Hungers dort nicht die Rede sein kann, wo infolge des Beharrens auf einer rückständigen Technik der Ackerbewirtschaftung die Höhe der Ernten nicht Schritt mit der Zunahme der Bevölkerung hält, in vielen Fällen wohl nur deshalb, weil die Möglichkeiten fehlen, um das Ackerland ertragsfähiger zu machen: Die Armut, das Fehlen jeglicher Mittel, schließt es zumeist aus, die durch das Vorhandensein des Bodens, vielleicht auch noch einzelner anderer für das Gedeihen der Pflanzen maßgeblicher Umstände gegebenen Voraussetzungen einer Bodennutzung so auszunützen, daß die Ernten den Betreuern ein auskömmliches Dasein ermöglichen und sie — darüber hinaus — in die Lage versetzen, auch noch Erzeugnisse zu verkaufen,deren Erlös es ihnen möglich machen würde, alle sonstigen Bedürfnisse zu decken und notwendige Aufwendungen für die Ausgestaltung des Wirtschaftsbetriebes zu tätigen: Selbst in den Jahren mit einigermaßen guten Erträgen kann daher die Bevölkerung nur notdürftig ernährt werden, und in den sich so oft wiederholenden Notjahren muß tatenlos zugesehen werden, wie Tausende an Erschöpfung zugrunde gehen.

In allen „hungernden Agrarstaaten“ wird die Landwirtschaft mit einem die menschliche Arbeitskraft geradezu vergeudenden Aufwand nach uralten Verfahren auf kleinsten Feldern betrieben, die nach jedem Erbgang immer wieder unter den Kindern geteilt werden. Zugleich wird der anfallende Dünger — bedingt durch das Fehlen geeigneter Brennstoffe — als Heizmaterial verwendet, so daß dem Boden kein hinreichender Ersatz für die durch die Ernten entzogenen Nährstoffe geboten wird.

Dazu kommt, daß das Fehlen jeglicher Mittel auch die naheliegende Nachahmung selbst einfacher und auf benachbarten gut ausgestatteten Gütern reichen Nutzen bringenden Maßnahmen unmöglich macht: So sehen wir den ägyptischen Fellachen den Boden mit unförmigen Geräten bearbeiten, die schon zur Zeit Mosis in Verwendung standen, während nebenan der neuzeitliche Schlepper seine Furchen zieht. Dem südtunesischen Bauern stehen weite Flächen zur Verfügung. Er nützt aber kaum die Hälfte derselben, denn es fehlen ihm die Mittel, um das Wasser, das im Untergrund vorhanden ist und das nur hochgepumpt werden müßte, gleich

im weißen Siedler mit Brunnen zu erschließen

und mit Pumpwerken zu heben.

Die ständige Unterernährung erzeugt eine durch religiös-mystische Vorstellungen noch verschärfte dumpfe Gleichgültigkeit, die geringe Aussicht auf eine fühlbare Verbesserung der Lage ertötet jeden Versuch, sie aus eigener Kraft zu bessern, und das daraus entspringende Mißtrauen erschwert die Durchführung von Arbeiten, die geeignet wären, den Hunger zu bekämpfen.

Versuche, der Not der „hungernden Agrarländer“ zu steuern, werden in vielen Staaten, seit einigen Jahren mit erheblichem Aufwände an Mitteln und durch Entsendung von Fachleuten auch durch die FAO, unternommen, leider nicht immer mit dem erhofften Erfolg, da die Kosten solcher sich auf weite Gebiete erstreckenden Bemühungen im umgekehrten Verhältnisse zu den zur Verfügung stehenden Mitteln stehen* und erst eine gewisse Bereitschaft geschaffen werden muß, von der überlebten, aber in der Tradition fest verankerten Einstellung zum Leben zu einer ganz neuen überzugehen. Dazu kommt auch noch, daß es oft an der für die Erzielung eines durchschlagenden Erfolges so unbedingt notwendigen Nachhaltigkeit fehlt oder daß nur einzelne, wenn auch wichtige Maßnahmen in Angriff genommen werden.

Denn wenn in Indien einzelne Großgrundbesitzer ihr Land den bisherigen Pächtern schenkten und in Pakistan nach der Fertigstellung des Lower-Sind-Stauwerkes einige hunderttausend Hektar Land bewässert werden können, so ist trotzdem beim Festhalten an der bisherigen Wirtschaftsweise noch kein entscheidender Erfolg zu erwarten.

In vielen Ländern wird der industriellen Entwicklung vor der' landwirtschaftlichen der Vorzug gegeben, was sich naturgemäß vielfach ungünstig auswirkt: In der Türkei z. B. hat man, in der Erkenntnis, daß ein Fortschritt erst dann erreicht werden kann, wenn der Stallmist nicht verbrannt, sondern als Dünger den Feldern zugeführt, den Bauern Kohle als Heizstoff zur Verfügung gestellt, die aber kurze Zeit später wieder ausschließlich den neu ins Leben gerufenen Fabriken zugeleitet wurde. Dasselbe können wir in Nordafrika beobachten, wo heute alle Interessen dem „Bureau d'organi-sation des ensembles industriels africains“ zugewendet werden, das die Verwertung der reichlich vorhandenen Rohstoffe in einem in französisch-deutscher Zusammenarbeit geplanten „afrikanischen Ruhrgebiet“ anstrebt.

Alle diese Maßnahmen sind anderseits wieder indirekt für die bäuerliche Bevölkerung von Vorteil: Die Werke ziehen Menschen an sich, entlasten so den Bevölkerungsdruck, ermöglichen dadurch eine bessere Ernährung der im Dorf Zurückgebliebenen und den Verkauf eines Teiles der Erzeugnisse. Dadurch wird die Erkenntnis, daß eine bessere, fortschrittlichere Betreuung des Bodens nützlich und daher auch anstrebenswert ist, langsam zum Reifen gebracht und der das Leben in den „hungernden Agrarstaaten“ bisher in so unheilvoller Weise sich geltend machende, in sich geschlossene Kreislauf: „Kleinste Ernten — keine Verkäufe

— keine Einnahmen — keine Aufwendungen — kleine Ernten“ aufgelockert.

Damit beginnt aber erst der aussichtsreiche Kampf gegen den Hunger, und es zeigt sich das Werden einer neuen, glücklicheren Kette in der wirtschaftlichen Entwicklung: „Steigende Ernten — vermehrte Verkäufe und daher größere Einnahmen — größere Aufwendungen— bessere, auskömmlichere Lebenshaltung — weiteres Ansteigen der Produktion.“ Vermehrte Anschaffungen werden das Wort: „Hat der Bauer Geld — hat es die ganze Welt!“ auch in Gegenden zur Geltung bringen, in der Hunger und Unzufriedenheit herrschten und die Unmöglichkeit einer Bedürfnisbefriedigung eine glücklich scheinende Bedürfnislosigkeit vortäuschten.

Die Vereinigten Staaten von Nordamerika haben den unterentwickelten Staaten Asiens und Afrikas einen „Marshall-Plan“ (OAEC) in Aussicht gestellt. Es ist anzunehmen, daß der als erste Hilfe vorgesehene Betrag von 1 Milliarde Dollar wesentlich dazu beitragen wird, die wünschenswerte Umstellung einzuleiten und damit auch eine umfassende und wirksame Befriedigung.

In Oesterreich gibt es glücklicherweise keine „hungernden Agrarländer“, doch Gegenden, in welchen sich die Einnahmen und Auslagen in wenig erfreulicher Weise so knapp die Waage halten, daß selbst lohnend erscheinende Aufwendungen zu den Seltenheiten gehören und infolgedessen Ertragssteigerungen auch nur in bescheidenstem Umfange erzielt werden können.

Wenn auch in diesen Fällen von einem ausgesprochenen Notstand nicht die Rede seinkann, so muß doch dieser Zustand als höchst unbefriedigend bezeichnet werden. Wir müssen daher helfend eingreifen, nicht nur in Erfüllung einer Verpflichtung gegenüber den Mitmenschen, die sich aus eigener Kraft allein nicht helfen vermögen, sondern auch im Interesse der Erhaltung wertvollster biologischer Kräfte und der Ausnützung noch ungehobener wirtschaftlicher Reserven. Wir müssen daher dem in der Einschicht lebenden Bergbau er n, denn um diesen handelt es sich, die Möglichkeit geben, seine Erzeugnisse zu günstigen Bedingungen zu verwerten, in erster Linie dadurch, daß wir ihn durch den Bau von guten, jederzeit benutzbaren Wegen und Seilbahnen näher an das Verkehrsnetz heranbringen.

Denn erst dann wird die Milch seiner Haustiere in Molkereien für hochwertige Erzeugnisse verwertet werden können, die er heute mehr schlecht als recht auf „Landbutter“ verarbeitet, deren Absatz infolge der geringen Haltbarkeit immer schwieriger und unwirtschaftlicher wird. Wir müssen ihm auch — um noch auf einen wichtig erscheinenden Punkt aufmerksam zu machen — durch die Versorgung mit elektrischer Energie einen Teil der bisher ausschließlich mit der Hand geleisteten Arbeit abnehmen, um ihn in die Lage zu versetzen, auch mit den wenigen ihm noch zur Verfügung stehenden Arbeitskräften seinen Aufgaben überhaupt und — bei den ungleich geringeren Kosten — auch unter wirtschaftlich tragbaren Bedingungen voll gerecht zu werden.

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