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Ideal und politische Realität

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Man kann aber dem neuen SPÖ-Vorschlag auch eigene Argumente entgegenhalten: Er verspricht eine größere Wahlgerechtigkeit, wird jedoch in der Praxis nicht einmal verhindern können, daß — so wie schon bisher — eine Partei mit größerer Stimmenanzahl eine kleinere Mandatszahl erhält. Dies ist einfach eine Folge der Tatsache, daß das entscheidende Ermittlungsverfahren in zwei Wahlkreisverbänden durchgeführt werden soll, in denen sich aber zwangsläufig verschieden große Wahlzahlen ergeben werden! Berechnet nach dem Stimmenergebnis 1962 wäre eine Wahlzahl ungefähr 27.000, die andere aber rund 25.300.

Im übrigen ist die häufig zitierte „Wahlgerechtigkeit“ ein schillerndes Wort. Wo besteht sie etwa im Mehrheitswahlsystem der angelsächsischen Demokratien? Wahlgerechtigkeit kann immer nur bedeuten, daß keinerlei persönliche Umstände für die Wertung einzelner Stimmen maßgeblich sein dürfen. Niemand Geringerer als unser Verfassungsgerichtshof hat hierzu treffend festgestellt: „Der Grundsatz der Gleichheit des Wahlrechtes hat daher nur im Abstimmungsverfahren Bedeutung und Wirkung, wo jede Stimme den gleichen Zählwert haben muß. Der gleiche Nutz- oder Erfolgswert wird hingegen durch diesen Grundsatz jeder Stimme nicht gewährleistet.“

Der Österreichische Katholikentag vom Juni 1962 hat zur Frage der Wahlreform wie folgt Stellung genommen: „Den Wahlen muß — soll der ,Personenschwund' im öffentlichen Leben nicht weiter zunehmen — ihr ursprünglicher Sinn eines persönlichen Ausleseprozesses zurückgegeben werden. Daher sind Reformen in der Richtung notwendig, daß der einzelne Wähler im Wahlvorgang einen möglichst großen Einfluß auf die personelle Zusammensetzung der Vertretungskörper üben kann. Was in Österreich bisher in dieser Richtung geschah, war unzureichend und ist überdies vielfach praktisch sabotiert worden.“

Will man diesem Idealprogramm folgen, dann muß man wohl an beide großen Parteien appellieren, gemeinsam eine „große Wahlreform“ durchzuführen. Dies ist nur gemeinsam möglich, weil sich verfassungsändernde Bestimmungen kaum vermeiden ließen. Die Frage ist freilich, . ob das österreichische Volk eine tiefgreifende Reform in Richtung etwa auf eine Stärkung der Persönlichkeitsauslese überhaupt will. Man kann an der Tatsache nicht vorbeikommen, daß bei der letzten Nationalratswahl lediglich 0,23 Prozent der Stimmzettel Rei-hungs- und Streichungsvermerke trugen!

Die politische Realität sieht weiter so aus: Die SPÖ wird ihren

neuen Vorschlag im koalitionsfreien Raum durchzubringen trachten; die FPÖ wird ihn zweifellos unterstützen, weil er die für sie günstigste Lösung von allen bisher vorgebrachten Vorschlägen enthält. Dann bleibt also als letzte Instanz die Volksabstimmung übrig. In einer solchen Volksabstimmung wird man die Staatsbürger kaum für den bisherigen ÖVP-Vorschlag begeistern können; ebenso ist es fraglich, ob man komplizierte Bestimmungen etwa In Anlehnung an das deutsche Wahlsystem oder eine noch sogar darüber hinausgehende Kombination von Mehrheits- und Verhältniswahlsystem populär machen kann.

Angesichts der politischen Realität ist dem neuesten SPÖ-Vorschlag wahrscheinlich nur eines für jedermann plausibel entgegenzuhalten: daß auch er Wahlarithmetik auf Kosten der Wahlgerechtigkeit treibt. Wollte man den SPÖ-Vorschlag nicht zu sehr ändern, aber doch eine größere Wahlgerechtigkeit herstellen, dann könnte man zum Beispiel für das zweite Ermittlungsverfahren auch auf die Unterteilung in zwei Wahlkreisverbände verzichten und dieses für ganz Österreich einheitlich durchführen. Dadurch ergäbe sich eine einheitliche Wahlzahl und eine fast mathematisch genaue verhältnismäßige Aufteilung der Mandate.

Freilich würde die Wahl wiederum mehr zu einer bloßen Statistik; der Wählakt des einzelnen Staatsbürgers käme eher einem Bekenntnis zu einer Partei als einer schon für sich allein politisch entscheidenden Handlung gleich. Nach den Erkenntnissen der politischen Wissenschaften ist ein solches Wahlrecht eher als Rückschritt zu bezeichnen. Aber manchmal müssen eben Rückschritte im einzelnen in Kauf genommen werden, um dem Ganzen zu helfen. Da die österreichische Demokratie sowohl durch die Tradition als auch durch die gegenwärtige Situation der Koalition nicht ungefährdet erscheint, können In der Wahlreformfrage kaum größere Experimente gewagt werden. Denn das Wahlsystem stellt einen wichtigen Teil der demokratischen Spielregeln dar, und die allseitige Anerkennung dieser Spielregeln ist Grundvoraussetzung jeder Demokratie!

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