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Im Jahre „Sputnik I“...

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I. Die zaristische Tradition

Der Abschuß eines Erdsatelliten durch die Sowjetunion war ein Ereignis. Es ist den Russen damit gelungen, sich gewissermaßen ein bleibendes Denkmal in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit zu setzen, indem sie als erste eine Aufgabe lösten, die in künftigen Jahrhunderten als Anbeginn einer neuen wissenschaftlichen Epoche gelten wird. Selbstverständlich, da ja nicht allein die Russen an diesen Problemen arbeiten, ist es eigentlich für die Zukunft der Menschheit gleichgültig, wer die ersten Grundprobleme gelöst hat und ob der Erdsatellit ein Jahr früher oder später in das Weltall abgeschossen worden ist, so wie es schließlich für die Entwicklungsgeschichte der Menschheit nebensächlich wäre, wenn Amerika ein Jahr später oder früher durch Kolumbus entdeckt worden wäre. Doch die Sensation ist einmal da, und sie wird nicht nur die fernere Zukunft, sondern besonders die augenblickliche Weltpolitik beeinflussen.

Immer wieder, und nicht erst seit der Oktoberrevolution 1917, kann man beobachten, daß die westliche Welt Rußland nie nüchtern beurteilt hat. Entweder wurde dieses weite Land unterschätzt, als barbarisch und rückständig betrachtet, oder aber plötzlich und unerwartet weit über seine Möglichkeiten hinaus überschätzt. Diese unausgeglichene Beurteilung hat beinahe immer zu einer falschen Politik des Westens gegenüber Rußland geführt, schon in den vergangenen Jahrhunderten und erst recht seit dem Sieg des Bolschewismus, der seit vierzig Jahren die ganze Welt zwingt, beständig nach Rußland zu schauen.

Natürlich ist der Abschuß des „Sputnik“ nicht nur eine Glanz-, sondern ebensosehr auch eine Spitzenleistung. Nicht auf allen Gebieten der Wissenschaft ist man in der Sowjetunion fähig, solche Spitzenleistungen zu vollbringen. Es wäre

jedoch ebenso falsch, anzunehmen, daß ein Volk von 200 Millionen, weil durch diktatorische Gewalt beherrscht, auf einem einzigen Gebiet alle seine Kräfte konzentriert hat, sonst aber auf technischem und wissenschaftlichem Gebiet rückständig geblieben ist. Völlig falsch wäre auch die Beurteilung, die man oft hört, daß der „Sputnik“ der Geschicklichkeit sowjetischer Spionage oder aber gefangener deutscher Raketenforscher zu verdanken sei. Um den Erdsatelliten in Bewegung zu setzen, braucht es schon eine sehr breite Schicht von wissenschaftlichen Forschern auf zahlreichen Gebieten, Ingenieuren und Technikern sowie hochqualifizierten Facharbeitern. Soweit überhaupt deutsche Wissenschaftler in den ersten Jahren nach dem Kriege von den Sowjets verwendet wurden, sind sie, im Grunde genommen, in untergeordneten und relativ subalternen Stellungen beschäftigt gewesen. Beim Mißtrauen der Russen wäre etwas anderes auch recht verwunderlich. Es gibt sogar Nachrichten, wonach dieses Mißtrauen es verhindert hat, die deutschen Wissenschaftler selbst in untergeordneten Stellungen nutzbringend zu verwenden.

Es ist schon so, daß man den Abschuß des „Sputnik“ nicht bloß als eine Spitzenleistung sowjetischer Wissenschaft und Technik betrachten muß. sondern daß diese Sensation gewissermaßen ein weithin sichtbares Symptom der russischen technisch-wissenschaftlichen Entwicklung überhaupt darstellt. Dieser Erfolg hängt eng zusammen mit dem sowjetischen Bildungssystem, der Ausleseorganisation und der sozialen Stellung der gebildeten Schichten in Rußland überhaupt. Schon seit geraumer Zeit ist ja die westliche Welt beunruhigt ob der schnell steigenden Zahl von Ingenieuren und Technikern, die in der Sowjetunion ausgebildet werden — bei ständig wachsendem Mangel solcher Kräfte in der westlichen Welt! Schon Winston Churchill hat vor zehn Jahren auf diese Entwicklung hingewiesen und auf das Studium des sowjetischen Bildungssystem gedrängt, da

sonst der Westen Gefahr laufe, auf technischwissenschaftlichem Gebiet von der Sowjetunion überflügelt zu werden.

Tiefer gesehen, ist der gegenwärtige russische Erfolg eigentlich historisch bedingt. Die Wurzeln der Entwicklung, die nun zum Abschuß des „Sputnik“ führten, sind schon vor einigen hundert Jahren gelegt worden, zum mindesten bereits von Peter dem Großen. Seitdem der Zar damals, in den Augen seiner russischen Zeitgenossen Imperator und Papst zugleich, also hoch über dem gewöhnlich sterblichen Menschen stehend, von seinem byzantinischen Thron herabstieg, persönlich die Zimmermannsaxt in die Hand nahm und selbst von unten herauf zum Schiffsbauer und Ingenieur wurde, standen in Rußland Naturwissenschaft und Technik in hoher gesellschaftlicher Wertschätzung. Wer sich damit beschäftigte, erstieg oft bis zur höchsten Spitze die gesellschaftliche Stufenleiter und war sicher, auch materiell gut zu fahren. Darum waren ja St. Petersburg und Moskau das ganze 18. und einen Teil des 19. Jahrhunderts hindurch ein Anziehungspunkt für die wissenschaftlichen Größen Westeuropas, die bei sich zu Hause an den heimischen Fürstenhöfen höchstens als so etwas wie Hofmechanikusse und als eine Sorte

gehobener Lakaien behandelt wurden. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kam dann die Periode, in der Rußland seine eigene Intelligenz schuf. Diese Intelligenz — das ist sehr bezeichnend — stammte zuerst nicht etwa wie in Europa aus der bürgerlichen Mittelschicht, sondern aus dem Adel, und zwar oft aus dem höchsten Adel. So blieb es bis zur zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, als auch die übrigen sozialen Klassen ihren menschlichen Beitrag zur Schicht der Intelligenzia beizusteuern begannen.

Es ist bezeichnend für ihre soziale Entwicklung, daß die russische Intelligenzia dann ohne Rücksicht auf die soziale Abstammung des einzelnen eine einheitliche und in sich geschlossene Bevölkerungsschicht bildete, mit ihren eigenen Lebensformen, mit ihren ungeschriebenen Gesetzen und einem ungeheuren , Zusammenhalt über alle Unterschiede hinweg. Der Aufstieg eines Wissenschaftlers z. B. im kaiserlichen

Deutschland war begrenzt. Es war hier selbstverständlich, daß die Kreise des hohen Hofadels, die Generalität und die Spitzen der Staatsverwaltung gesellschaftlich viel mehr galten als auch der berühmteste Professor einer Universität. Mit tiefem Bückling begrüßten auch bekannteste Gelehrte jede höhere Hofschranze. Dagegen war in Rußland die Intelligenzia stets sehr selbstbewußt. Natürlich, auf dem Papier galten der hohe Hofadel, die Gardeoffiziere, die höchsten Spitzen der Verwaltung, alles, was sich in Petersburg um den Hof herum bewegte, als die Spitze der gesellschaftlichen Pyramide. Auch lud der Zar in den letzten 50 Jahren des monarchischen Regimes relatdfc selten einen Vertreter der Intelligenzia an seinen Hof. Das war jedoch durchaus begreiflich, denn die russische Intelligenzia lehnte ja sehr deutlich das zaristische Regime ab. Jedoch keiner der Professoren der russischen Hochschulen dachte daran, vor einem Fürsten oder Hofmarschall eine allzu tiefe Verbeugung zu machen. Umgekehrt: Wo immer sie sich trafen, war die selbstbewußte Haltung eines bekannten Wissenschaftlers gegenüber einem noch so hochstehenden Vertreter des Zarenhofes eine Selbstverständlichkeit. Es war bezeichnend, daß ein Vertreter des höchsten Adels wie der Fürst Dolgurukj, Abkömmling der alten Zarendynastie, hochgebildeter Ingenieur, lieber auf die ihm zustehende Hofcharge verzichtete, um ja

nicht als Sonderfall im Orden der russischen Intelligenzia zu erscheinen. Während keiner der Wissenschaftler daran dachte, mit den Titeln und Orden, die der Staat ihm verlieh, sich besonders zu brüsten, betonten umgekehrt hohe Militärs und Staatsfunktionäre ihre Zugehörigkeit zur Intelligenzia. Nach einem ungeschriebenen Gesetz wurden sie von ihr nur dann akzeptiert, wenn sie etwa als gelehrte Generäle, geographische Forscher oder hervorragende Juristen tatsächlich zur gebildeten Schicht gehörten. Natürlich mußte auch der zaristische Staat diesen Tatsachen schließlich Rechnung tragen. Automatisch hatten etwa Universitätsprofessoren auch in der zaristischen Hierarchie hohen Rang, waren Exzellenzen und wurden automatisch adelig, auch wenn sie von ganz unten abstammten.

Unrichtig ist auch die Annahme, daß vor der kommunistischen Revolution die russischen Hoch-

schulen und mit ihnen die Wissenschaft auf einem niedrigen Niveau gestanden seien. Vielmehr ist das Niveau der russischen Hochschulen immer sehr hoch gewesen. Hierfür war bezeichnend, so wie es heute noch ist, daß der Grad eines Doktors auf einer russischen Universität außerordentlich schwer zu erringen war. Die wissenschaftlichen Körperschaften, wie etwa die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften oder die Kaiserliche geographische Gesellschaft, mit der höchstens die Britische geographische Gesellschaft konkurrieren konnte, standen damals schon auf einem sehr hohen Niveau. Die russischen Geographen haben ja den Löwenanteil an der Erforschung und Erschließung Asiens gehabt, und ihre Leistungen kamen der gesamten Welt zugute. Die russische medizinische Schule war schon zu Beginn unseres Jahrhunderts berühmt.

In der ganzen russischen Vergangenheit haben die Naturwissenschaften und die Technik als besonders vornehme Disziplinen gegolten. Der Ingenieur war dabei immer von einer Art Mythos umgeben. Es ist bezeichnend, daß zur Immatrikulation an einer Universität die Matura allein genügte, jedoch nicht für die Aufnahme in eine der privilegierten technischen Hochschulen. Hier bedurfte es noch eines zusätzlichen Konkursexamens. Die Matura einer Oberrealschule war Voraussetzung dazu, und nur die Besten wurden immatrikuliert. Die ersten technischen Hochschulen, die Anfang des vorigen Jahrhunderts gegründet wurden, nahmen sich Frankreich zum Vorbild. Sie wurden darum als Militärakademien aufgebaut. Sämtliche Ingenieure waren dann in der Folge Offiziere besonderer Korps. Sie galten als Gardeoffiziere mit entsprechend rascher Beförderung. Diese alten Hochschulen, wie das Tn-stitut für Verkehrsingenieure, die Bergakademien, die Hochschule für Bauingenieure usw., ga'fen als die vornehmsten Lehranstalten des Reiches, und diesen Nimbus haben sie bis heute behalten. Durch die großen Reformen des Jahres 1864 wurde der militärische Charakter des Ingenieurs zwar abgeschafft, und die Ingenieure erhielten Ziviltitel. Finanziell und gesellschaftlich blieb jedoch die Stellung dieselbe. Sie begannen mit der zehnten Besoldungsklasse, indem sie die vier unteren Rangklassen übersprangen.

Das wissenschaftliche Niveau der russischen technischen Hochschulen war immer sehr hoch. Die Studenten erhielten eine umfassende wissenschaftliche Ausbildung, gewissermaßen universellen Charakters. Nach 1900 entstanden dann viele andere technische Hochschulen, die Kaiserliche technische Hochschule in Moskau, zahlreiche technologische oder polytechnische Institute. Sie galten nicht als so vornehm wie die alten Hochschulen, denn der Zugang zu ihnen war auch, wie man sich damals ausdrückte, demokratischen Elementen, also nicht nur den Söhnen der Oberschicht, offen. Wissenschaftlich waren jedoch auch diese Bildungsanstalten auf beachtenswertem Niveau.

Die Rückständigkeit des alten Rußland war nicht dadurch bedingt, daß die russischen Wissenschaftler und Ingenieure etwa auf einem niedereren Niveau standen als die der übrigen Welt. Umgekehrt anerkannten die russischen Ingenieure jene des Westens nur als Techniker, weil sie zu sehr spezialisiert waren und ihre Spezialisierung auf Kosten der universellen Bildung ging. Was im zaristischen Rußland fehlte, war etwas anderes. Es gab einfach zuwenig gebildete Kraft ein Rußland. Für den größten Teil des russischen Volkes, abgesehen von seltenen Ausnahmen, war gesetzlich und faktisch der Zugang zur Bildung verschlossen. Mehr als 80 Prozent der in die russische Armee eingezogenen Rekruten waren um die Jahrhundertwende noch Analphabeten. Bei der weiblichen Bevölkerung war der Prozentsatz der Analphabeten noch weitaus größer.

Der zahlenmäßige Mangel an schulmäßi? aus-

gebildeten Leuten im zaristischen Rußland hatte für die vorhandenen Wissenschaftler und Techniker einen raschen Aufstieg zur Folge. Russische Ingenieure standen mit 35 Jahren bereits im Generalsrang. Ihre Bezahlung, auch in privater Anstellung, war glänzend. Um das Jahr 1912 verdiente ein Ingenieur, der den Betrieb einer kleinen Fabrik von etwa 100 bis 150 Arbeitern leitete, im Monat ein Mindestgehalt von 300 Goldrubeln, die damals eine Kaufkraft von etwa 3000 heutigen Schweizer Franken hatten. Dazu gebührte ihm nach der russischen Sitte eine Dienstwohnung auf Kosten der Fabrik von mindestens sechs bis sieben Zimmern mit Beheizung und Beleuchtung und einem Teil der Dienerschaft. Dazu kam als besonderes Symbol seiner akademischen Würde ein hochherrschaftliches Gespann mit Kutscher und Stallknecht, alles auf Kosten des Fabrikbesitzers. Im zaristischen Rußland gab es in beschränktem Maße schon alle Ansätze dazu, daß aus dieser kleinen Schicht technisch Gebildeter bei der Veränderung des Regimes eine gewaltige Welle technischen Fortschrittes hervorbrach.

Wichtig ist auch eine andere Erscheinung in

der zaristischen Zeit. In der russischen Gesellschaft entbrannte in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ein Kampf um die Bildungsrichtung, der bis zur bolschewistischen Revolution dauerte. Die russische Gesellschaft sah das Studium der Naturwissenschaft und der Technik als fortschrittlich an und bekämpfte das Bestreben des zaristischen Staates, das humanistische Studium noch immer in den Vordergrund zu stellen. Diesen fanatischen Glauben an den naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt übernahm neben anderen revolutionären Parteien auch der Bolschewismus.

Die wissenschaftliche und technische Entwicklung der Sowjetunion ist also nicht etwa ausschließlich auf das bolschewistische Regime zurückzuführen. Vielmehr sind die Voraussetzungen hierzu bereits zur Zarenzeit gelegt worden. Die naturwissenschaftlich-technische Forschung, zwar zahlenmäßig auf einen engsten Kreis beschränkt, war so intensiv, daß sie, sobald es auch die äußeren Umstände gestatteten, nun zu einem technischen Fortschritt auf breitester Basis führen mußte. Jede andere, auch nicht bolschewistische Revolution,

welche die veraltete Feudalordnung der gebundenen Geburtsstämde und der Entrechtung der breiten Massen abschaffte, hätte ebenfalls die schöpferischen Kräfte freigelegt und das, was in einem verengten Rahmen bereits vorhanden war, zum Gemeingut des gesamten Volkes gemacht, eines Volkes von 200 Millionen.

Dann sind die russischen Kommunisten zu den heutigen Erfolgen auch nicht auf einmal gekommen. Die wissenschaftlich-technische Entwicklung des Sowjetstaates, die jetzt zum Abschuß des „Sputnik“ führte, begann nicht 1917, sondern etwa um 1934 herum, als Stalin die alten Anschauungen des Bolschewismus über die Intelligenzia über Bord warf, als die Ueber-wertung der körperlichen Arbeit der geistigen gegenüber abgeschafft und die Gleichmacherei bei den Löhnen als Ketzerei erklärt wurde, mit einem Wort: damals, als die soziale und materielle Stellung der bis dahin vom Bolschewismus verachteten Intelligenzia wiederhergestellt und damit an die alte zaristische Tradition angeknüpft wurde.

(In der nächsten Nummer: „II. Entfremdung und Versöhnung, oder: Vom Lenin zu Stalin“.)

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