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Im Jahre „Sputnik I“...

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IV. Die oberste Schichte*

Seit 1934 ist die Verteilung des Sozialproduktes in der Sowjetunion so geregelt, daß die Intelligenz als Ganzes den Löwenanteil erhält. Das geldliche Einkommen, die Güter und Genüsse, welche die Sowjetunion überhaupt zu bieten hat, werden einem Schema gemäß verteilt, nach dem die akademischen Berufe am meisten erhalten. Dabei herrscht auch unter der Intelligenz ein hierarchisch abgestufter Verteilungsmodus. In einem früheren Artikel erwähnten wir bereits die Art und Weise der Verteilung der Honorare in der Filmproduktion. Aehnlich ist, es etwa in der Journalistik. Der Redakteur einer Tageszeitung in einer der sowjetischen Großstädte, außer Moskau und Leningrad, wo die Honorare noch höher sind,' erhält monatlich 3000 bis 4000 Rubel Gehalt. Ein freier Journalist dagegen, insbesondere wenn er auf ein Thema spezialisiert ist und längere Artikel schreibt, erhält Verträge, die ihm zumindest das doppelte Einkommen eines Redakteurs eintragen. Die Arbeit des Redakteurs gilt

eben nur teilweise als schöpferisch, im übrigen nur als eine Art routinemäßige Verwaltungsarbeit, die wohl hohe Qualifikationen verlangt. Dagegen ist nach der in der Sowjetunion herrschenden Meinung das Schreiben eines, Artikels reine schöpferische Tätigkeit. Daher sind auch nichtjournalistischc Schriftsteller für sowjetische Verhältnisse glänzend gestellt. Nach dem Sowjetgesetz muß ein Verlag dem Autor zuerst einmal reichlich alle „schöpferischen“ Spesen bezahlen, welche die Herstellung eines Buches kostet, also den Unterhalt während der Arbeit am Buch, die etwa in Anspruch genommenen Hilfskräfte und etwaige Reisespesen. Nach Ablieferung des Buches erhält je nach der Literaturart und der Qualität der Autor ein fixes Honorar pro Druckbogen (16 Seiten) und dann noch die Tantieme für jedes verkaufte Buchexemplar. Daher sind die Schriftsteller in der Sowjetunion die Leute mit den höchsten Einkommen. Von den 982 statistisch festgestellten Rubelmillionären in der Sowjetunion sind weit mehr als die Hälfte Schriftsteller, die übrigen Komponisten, Künstler aller Art, Erfinder und Wissenschaftler und einige Marschälle, unter ihnen auch Marschall Schukow. Die Millionen der paar Marschälle setzen sich aus Ehrengaben der Regierung und aus Geldern zusammen, die sie gleichzeitig mit hohen Ordensauszeichnungen erhalten haben.

Nach demselben Prinzip werden besondere schöpferische Leistungen von Technikern und Wissenschaftlern honoriert. Für geeignete Rationalisierungsvorschläge in der Industrie zum Beispiel erhält der Initiator eine laufende Prämie. Erfindungen gehören grundsätzlich den Erfindern und nicht den Firmen, bei denen sie angestellt sind. Der Ingenieur einer Fabrik, der im Betriebslaboratorium eine Erfindung macht, ist auch deren Besitzer. Die Erfindung wird auf seinen Namen patentiert, und er erhält fortlaufend die Lizenzgebühren.

Interessant ist auch, daß der Staat jedes Bildungsstreben honoriert, auch wenn er daraus keinen direkten Nutzen zieht. So erhält jeder Lehrer, zum Beispiel einer Elementarschule, für jede fremde Sprache, die er erlernt, einen monatlichen Zuschlag von“ hundert Rubel zu seinem Gehalt, auch wenn er die zusätzliche Fremdsprache in seinem Unterricht nicht verwenden kann. Allgemein erhält jeder Akademiker einen monatlichen Zuschlag für jeden erworbenen akademischen Grad. Auf diese Weise trägt der Doktortitel eine ganz schöne monatliche Rente ein.

Nicht zu vergessen endlich sind die bekannten Lenin-Preise, die früher Stalin-Preise

* Vgl. von demselben Verfasser: „1. Die zaristische Tradition“, „Die Furche“ Nr 1/1958, „II. Entfremdung und Versöhnung“, „Die Furche“, Nr. 2, und „III. Die neue Hierarchie“, „Die Furche“, Nr. 3.

hießen und die periodisch für verschiedenartigste Leistungen an Schriftsteller und Künstler, an Architekten und Aerzte, an Wissenschaftler und Techniker nach demselben Prinzip wie der Nobelpreis verteilt werden. Nur sind es bedeutend mehr Preise, als die Nobel-Stiftung sie zu verteilen in der Lage ist. Sie werden in zwei Stufen verliehen: in der ersten Stufe erhält der Preisträger eine Viertelmillion Rubel, in der zweiten Stufe etwa die Hälfte. Dabei wird auch der menschlichen Eitelkeit Rechnung getragen. Wer zum Beispiel Held der sozialistischen Arbeit ist, darf einen kleinen goldenen Stern am roten Band auf seinem Rockaufschlag tragen. Ein Laureat des Lenin-Preises, wie der Titel lautet, trägt ebenfalls am roten Band eine kleine silberne oder goldene Medaille. Doch der Titel ist mehr wert als die Viertelmillion, denn er gibt das Anrecht auf zahlreiche handfeste Privilegien.

Nun muß man sich die Situation der Intellektuellen in der Sowjetunion doch realistisch vorstellen. Etwa 1000 Millionäre auf eine Bevölkerung von mehr als 200 Millionen, und etwa 10 Millionen Intellektuelle sind wirklich nicht sehr viel. Abgesehen davon, hat der Sowjetmillionär nicht viel von seinem Gelde. Er kann sich damit eine nette Stadtwohnung leisten, ein

kleines Landhaus bei Moskau oder im Süden, ein Auto, er kann gut essen und sich relativ gut kleiden. Das ist alles.

Dudinzew hebt in. seinem vielbesprochenen Roman „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“ ziemlich demagogisch den materiellen Wohlstand der Manager, Ingenieure und Wissenschaftler hervor. Mit westlichen Augen gesehen, leben jedoch diese Leute gar nicht so luxuriös. Der Generaldirektor Drosdow, Chef eines großen Industriekonzerns, bewohnt mit seiner Familie in der sibirischen Ortschaft, wo er Alleinherrscher ist, ein kleines Einfamilienhaus von etwa sechs Zimmern, etwa doppelt so groß wie die Wohnungen seiner Untergebenen. Dieser Drosdow wird nach Moskau versetzt, als Abteilungschef ins Ministerium mit dem Rang eines Obersten, und erhält hier eine Dreizimmerwohnung für eine Familie, die aus drei Erwachsenen, einem Kind und einer Hausgehilfin besteht. Der Verfasser Dudinzew schildert diese Vergütungen als ein besonderes Privileg und als einen besonderen Luxus. Natürlich hat Drosdow im Vergleich zu dem, was er ausgeben kann, ein gewaltiges Geldeinkommen. So schenkt er seiner Frau einen Pelzmantel um 22.000 Rubel. Tatsächlich versuchen die hochvcrH'enepdcn Kreise ihr Geld in antiken Möbeln, in Pelzen für ihre Frauen, in

altem Porzellan und dergleichen anzulegen. Daher erliegt man leicht einer optischen Täuschung, wenn man in Moskau einer Theaterpremiere beiwohnt oder einen geschlossenen Klub für die höhere Intelligenz besucht. Man sieht schöne Kleider, sehr kostbare Pelze, und glaubt an einen allgemeinen hohen Lebensstil. Dabei kehren alle diese Menschen bis auf ganz wenige Ausnahmen in für westliche Verhältnisse höchst bescheidene Wohnungen zurück und müssen zum größten Teil ohne Hauspersonal auskommen.

Moskau ist die Hauptstadt eines gewaltigen Reiches. Es hat etwa viereinhalb Millionen Einwohner, mit den Vororten zirka sieben Millionen. Hier konzentriert sich die überwiegende Mehrheit der sowjetischen Großverdiener. Hier leben die Spitzen der Intelligenz des ganzen Reiches. Diese gewaltige Hauptstadt hat aber, die exklusiven Klubs miteingerechnet, kaum ein Dutzend Restaurants und andere Vergnügungsstätten, die dem westlichen Geschmack halbwegs entsprechen würden. Alle diese Lokale stammen noch aus der zaristischen Zeit und sind daher altmodisch. Man erhält allerdings daselbst für sehr viel Geld ausgesuchte Delikatessen.

Damit berühren wir die Preispolitik. In der Sowjetunion heißt es: Geld allein macht nicht glücklich, sondern man muß dafür auch etwas

Reales erhalten. Da in der Sowjetunion beständiger Mangel an Konsumgütern herrscht, wird dafür gesorgt, daß die entsprechende Ware in die richtigen Hände kommt. Man kann zum Beispiel nur sehr wenige Luxusschuhe produzieren. Ebenso ist die Menge der guten Anzüge und Stoffe begrenzt. Der Preis hierfür wird daher sehr hoch angesetzt, damit diese begehrten Waren nur derjenige kaufen kann, der entsprechend verdient. Theoretisch jedoch verdient derjenige viel, der Schöpferisches leistet. Die Preise in den sogenannten Luxusrestaurants sind sehr hoch, eben darum, damit diese Lokale der Intelligenz vorbehalten bleiben, diese unter sich bleibt, sich daheim und wohlfühlt. Man wird höchst selten in einem dieser Lokale einen höheren oder sehr hohen Parteifunktionär treffen. Nicht einmal einen hohen Beamten der Staatsverwaltung. Das ist verpönt. Dagegen kann ein Schriftsteller oder Künstler täglicher Stammgast in diesen Lokalen sein, und ein Ingenieur oder Wissenschaftler, so oft er will.

Es ist, mit westliche 1 Maßstab gemessen, nicht gar so weit her mit der sogenannten neuen Sowjetbourgeoisie, so sehr sie von dem übrigen Lebensniveau ibrticht. Der junge Akademiker in allen Berufen beginnt mit einem Einkommen, das etwas höher ist als dasjenige eines qualifizierten Arbeiters. Leitet er nichts

anderes, so steigt sein Einkommen alle fünf Jahre mit einem bestimmten Satz, und am Ende seiner Karriere hat er durchschnittlich das Vierfache eines gelernten Arbeiters. Setzt man die Kaufkraft in Rechnung, so verdient er kaum mehr als sein Kollege im Westen. Gehen jedoch seine Leistungen über den Durchschnitt hinaus, so steigt sein Einkommen in geometrischer Progression. Dazu kommt noch etwas psychologisch Wichtiges. Die Sowjetpropaganda hat es nämlich zuwege gebracht, daß die gebildete Schicht als höchste Gesellschaftsschicht des Reiches gilt und daß man daher ihre Titel und Würden mit größtem Respekt ausspricht. Das begründet natürlich eine Reihe moralischer Privilege. Es erinnert dies etwa an die zaristische Zeit.

Zwischen der damaligen Hofgesellschaft und der sogenannten Intelligenzia bestand damals eine gläserne Wand. Dabei hielt sich die Hofgesellschaft für die erste Gesellschaftsschicht. Nun aber besteht zwischen der Hierarchie der Partei und derjenigen der Intelligenz auch eine gläserne Wand, nur daß die diktatorische Partei absichtlich so tut. als ob sie die Gebildeten als die höchste Gesellschaftsschicht anerkennen würde. Am besten sieht man das bei einer Moskauer Theaterpremiere. Natürlich sind dazu auch hohe Parteifunktionäre und Staatsbeamte geladen. Die Mehrzahl bilden jedoch die Vertreter der Intelligenzia, und ihre Da- “ in teuren Pelzen drücken, was Luxus angeht, die Frauen der Parteibonzen förmlich an die Wand.

Im Roman „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“ erhält die Frau des Managers Drosdow ein Kind. Im Spital muß für sie ein Zimmer geräumt werden, damit sie allein sein kann. Das ist nicht etwa ein Willkürakt des allmächtigen Generaldirektors, sondern Gesetz. So ist es im ganzen staatlichen Gesundheitsdienst. In den

allgemeinen Krankenhäusern hat die Intelligenz Anrecht auf Sonderbehandlung und Sonderverpflegung. In den größeren Städten besitzen sie eigene Krankenhäuser und Kliniken. In den Kurorten am Schwarzen Meer, im Kaukasus und auf der Krim und am Baltischen Meer gibt es überall luxuriöse Sanatorien und Erholungsheime für die Intelligenz. Selbst die Erholungsheime für die hohen Parteiwürdenträger, so bequem sie auch eingerichtet sind und so gut sie geleitet werden, sind absichtlich, wenigstens nach außen hin, nicht so luxuriös gehalten.

Aus unseren Darlegungen ergibt sich also, daß der Sowjetstaat einen großen Teil des Sozialproduktes für die Heranbildung einer tüchtigen Intelligenz abzweigt. Dabei geht er bei der Verteilung so vor, daß er möglichst zu gesteigerten Leistungen ansport. Dazu kommt noch, daß er für Forschungen, an denen er ein besonderes Interesse hat, mit der Zuteilung der nötigen Hilfsmittel in keiner Weise sparsam ist. Das alles erklärt gewisse Spitzen-

Ieistungen der sowjetischen Tech-n i k, unter denen der „Sputnik“ zweifelsohne die spektakulärste ist.

Wir haben absichtlich das ganze System der Förderung der intellektuellen Arbeit in der Sowjetunion geschildert. Natürlich, im praktischen Leben sieht dieses System nicht ganz so rosig aus. So kennen die russischen Hochschulen weder Lehr- noch Lertifreiheit. Dann sind die Studenten einer eisernen Arbeitsdisziplin unterworfen. Der Student muß lückenlos die Vorlesungen und Uebungen besuchen. Jedes halbe Jahr sind Prüfungen. Die Schuldisziplin erstreckt sich auch auf alle Lebensäußerungen der Studenten. Läßt ein Student im Studium nach, dann wird dies überall, wo er verkehrt, unter anderem auch seinem Sportklub gemeldet. Der Sportklub schließt ihn dann so lange aus, bis er seine Versäumnisse eingeholt hat. Im praktischen Leben allerdings spielen Protektion, Cliquenwirtschaft, ja sogar eine gewisse Korruption eine große Rolle. Ein Student ohne Ver-

bindungen gerät leicht unter die Räder, und ein anderer mit entsprechender Protektion kommt leicht über alle Klippen hinweg.

Das ganze System kostet dem Sowjetstaat ungeheure Summen an Geld und Energie, wie alles, was in Rußland geschaffen wird. Als seinerzeit mit der Industrialisierung begonnen wurde, verbrauchte ein neugeschaffenes Werk in kürzester Zeit die teuersten Garnituren ausländischer Maschinen. Auch die zweite und dritte Garnitur war in kurzer Zeit erledigt. Bei der vierten Garnitur erst lernten die frisch aus dem Dorf gekommenen Arbeiter, mit den Maschinen richtig umzugehen. In der Sowjetunion wird alles zwei- oder dreimal gebaut, bis es endlich gebrauchsfähig dasteht. So ist es auch, mit der Heranbildung der Intelligenz. Man hat seinerzeit viele Millionen ausgegeben, um die erwachsenen Analphabeten lesen und schreiben zu lehren. Jetzt geht die Sowjetunion dazu über, unter Investierung ungeheurer Mittel die Schulpflicht zu -erweitern. Bis vor einem Jahr

dauerte die Schulpflicht sieben Jahre. Von 1957 an ist sie auf neun Jahre verlängert. Alle Schulpflichtigen sollen jetzt die Schule mit einem Zeugnis abschließen, das zum Besuch einer fachlichen Mittelschule berechtigt. Es ist geplant, in den nächsten zehn Jahren die allgemeine Schulpflicht bis zur Matura zu erstrecken.

Wenn auch, wie schon dargestellt, das sowjetische System viele negative Seiten hat, wenn auch die sowjetische Matura vorwiegend eine naturwissenschaftlich-technische ist, während die geisteswissenschaftlichen Fächer zwar nicht vernachlässigt, wohl aber innerhalb einer eng vorgeschriebenen Doktrin gelehrt werden, so darf der Westen trotzdem die sowjetische Entwicklung auf diesem Gebiete nicht ignorieren. Der Sputnik hat dies gezeigt. Die russische Entwicklung muß also aufmerksam beobachtet werden, wenn der Westen ihr gegenüber bestehen will.

(Ende)

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