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Im leeren Raum

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„Bei der Rede des Kanzlers ist das ganze Haus einigermaßen geschlossen anwesend, die einen um zu applaudieren, die anderen um verbissen-schweigend zuzuhören und Zwischenrufe zu machen. Sobald er geendet hat und der Führer der Opposition das Wort ergreift, verlassen mehr als 75 Prozent aller Koalitionsabgeordneten den Saal, um sich zu erfrischen Die Sprecher der kleineren Fraktionen reden überhaupt nur noch vor den eigenen Leuten, die pflichtgemäß anwesend sind (wenigstens bei der Fraktionsprominenz) und einigen ,Beobachtern’ der anderen. Höchstens bei Abstimmungen, die dann vorher durch minutenlanges Dröhnen der Sirenen im ganzen Haus angekündigt werden, füllen sich wieder die Reihen, und es kommt meist zu kurzen, dafür aber echten Debatten — allerdings oft nur über die Geschäftsordnung — aber auch zu Lärmszenen. Im allgemeinen spielt sich also der sogenannte ,große Tag’ in der Form des Monologs ab und mehr als drei Viertel aller Reden werden lediglich für das Protokoll und die spätere Geschichtsforschung gehalten. Man hört nicht mehr aufeinander, man gibt nur Erklärungen ab, die vorher in ihrem Inhalt längst festiagen Es fällt direkt auf, wenn einmal ein Sprecher auf die Argumente seines Vorredners eingeht. Wirkliche Diskussionen werden immer seltener und nach der bisherigen Erfahrung dürften ihrer von den 509 Abgeordneten kaum zwei Dutzend fähig sein.“ So das katholisch-konservative „Echo der Zeit“ am 16. Mai 1954 in einer Bemerkung über die Debatten im Bonner Bundestag, die den Titel trägt: „Monologe“ „Wir sind geistig und physisch überfordert.“ Dieses Resümee einer Arbeitsgruppe des Dritten deutschen Studententages kann zum Verstehen der großen Paradoxien im heutigen Deutschland (West) verhelfen, wenn dazu noch die Gesamtsituation der deutschen Studenten als symbolisch für die des Volkes verstanden wird; während große Feste, Feiern und Repräsentationen das eindrucksvolle Bild einer Restauration vorstellen, mit allem Glanz und aller Pracht der Bismarck-Zeit, sagen nüchterne Zahlen: „Das Existenzminimum für einen Studenten.. bewegt sich heute in der Bundesrepublik je nach Stadt zwischen 130 und 180 DM. Von den über 100.000 deutschen Studenten an allen Hochschulen des Bundesgebiets verfügten im Sommer 1953 bloß 12,2 Prozent monatlich über 150 DM und mehr für ihren Lebensunterhalt. Mehr als 50 Prozent der Studenten erreichten das Existenzminimum nicht. Nur 36 Prozent konnten ausschließlich mit dem Gelde ihrer Eltern studieren. 40 Prozent mußten sich völlig ohne Hilfe des Elternhauses durchschlagen. Rund 50 Prozent waren Werkstudenten, und zwar waren schon 40 Prozent all derer, die 1953 ins erste Semester traten, auf Werkarbeit angewiesen “ („NZZ“, 25. Mai 1954). Wenn hierzu noch die gewaltige Belastung durch die sozial Befürsorgten ins Blickfeld rückt — 5 Millionen Rentenempfänger, mit zum Teil winzigen Renten, die nicht die Hälfte des Existenzminimums erreichen, dazu noch über 3 Millionen teilweise Befürsorgte — dann wird der Staudruck verständlich, unter dem, unbewußt mehr noch als bewußt, das Volk in Deutschland (West) heute lebt: zwischen einem sehr einseitigen und sehr verführerischen Anerbieten aus USA („Die Deutschen sind die einzigen verläßliche: Verbündeten“) und einem leisen, lockenden Drängen und Drohen aus dem Osten (Rußland und Rotchina), mitten in der eigentümlichen Misere, die darin besteht, daß die gewaltigen Kräfte dieses Volksbodens h ute keine geistig erzogene und seelisch durchgebildete Mittelund Oberschichte besitzen, die in großer Umsicht, Ruhe, Geduld, die mannigfachen Chancen und Versuchungen der heutigen Situation zu bergen befähigt ist.

Erst heute wird ganz sichtbar: der größte und folgenschwerste Verlust Deutschlands in den beiden letzten Weltkriegen betrifft nicht Provinzen, Wirtschaftsräume und Kolonien, sondern Menschen. Menschen, die bildungsmäßig, traditionsmäßig und substantiell berufen waren, Verantwortung zu tragen in gefährlicher Zeit. Es fehlt ja heute in Westdeutschland eine ganze Generation, die die so wichtige Brücke zwischen den Erfahrungen von 1900 1933 zur Gegenwart hersteilen müßte; es fehlt die Berliner Intelligenz (die das Berlin um 1930 zur geistig bewegtesten Stadt Europas machte), es fehlen jene mittleren gebildeten Bürger- und Beamtenschichten, die innerlich gewachsen sind der Unruhe und Unrast, dem Druck und Zündstoff, der von unten her hochdrängt aus dem Untergrund der Massen, die seit 1914 verwirrt, verstört, zutiefst unsicher sind, mag ihnen auch zeitweise Betäubung gewährt sein durch den Dienst an einem „Uebervater“, der, Bismarck, Hinden- burg und Hitler in einem, Ruhe und Ordnung, Freiheit und Brot und Spiele verspricht unter seiner Hut. In den ersten Jahren nach 1945 schien es, als überhöbe die Weltpolitik der Besatzungsmächte das deutsche Volk der Verantwortung; dann schien es, seit der Schaffung der Bonner Bundesrepublik, als würde die Außenpolitik und eine forcierte Wirtschaftsexpansion die Kräfte binden und entladen. Heute erst wird es immer mehr Menschen bewußt, fast schreckhaft bewußt: der dritte puni- sche Krieg findet nicht statt (in absehbarer Zeit hochwahrscheinlich nicht), die Außenpolitik kann fruchtbar nur gedeihen, wenn das deutsche Volk die Geduld, Zähigkeit und Umsicht seiner östlichen Gegner und Partner gewinnt (zwischen Elbe und Gelbem Fluß). Also entfaltet sich der innenpolitische Raum als Schicksalsfeld, auf dem entscheidungsschwere Schlachten zu schlagen sind — in ihnen wird ja wohl das Gesicht des künftigen Deutschland geprägt.

Dieser innenpolitischen Verantwortung ist heute geistig keine deutsche politische Partei oder Bewegung gewachsen, einfach weil keine über eine Mitarbeiterschaft verfügt, die politisch erzogen und geistig durchformt ist. Diese für alle geltende Tatsache wirkt sich aber naturgemäß besonders ungünstig aus für Deutschlands Katholiken. Den westdeutschen Sozialisten fällt es — wie vor kurzem eine beachtenswerte Tagung in München bewies (auf der unter anderen Alfred Weber, Arndt u. a. sprachen) — nicht allzu schwer, einzugestehen, daß der ältere Marxismus zu Ende sei, daß man doch nicht sehr weit sehen könne, weil verschiedene reformistische Ansätze erst im Keim vorliegen. Deshalb sei es doch am besten, die Hut der Politik im weitesten Sinn den alten Parteifunktionären und den aktiven, gewandten Gewerkschaftsführern anzuvertrauen. Die Parteien und Bewegungen der „Mitte“ und der nationalen Rechten verfügen über breite Grundlagen alter Gefühls- und Ressentimentsreservoire, aus denen sie bei jedem Wahlkampf schöpfen können. — Westdeutschlands Katholiken bot sich nach 1945 eine einzigartige Chance, die sich heute immer mehr als Ueberforderung und Versuchung herausstellt: die .Hauptlast der Verantwortung für Staat und Volk zu übernehmen. Der unerwartete Wahlsieg im vergangenen September erweckte zudem noch in vielen einzelnen die Vorstellung: nunmehr sei die Zeit gekommen, die „Wiedergutmachung“ durchzuführen und einige Forderungen — Verwirklichung des Konkordats von 1935, katholische Schule, Ehe, Kulturgesetzgebung — durchzusetzen.

Seither ist eben jenes Phänomen in voller Entwicklung begriffen, das als „Klerikalismus“, „Konfessionalismus“ und „Kulturkampf“ die innere Atmosphäre von Tag zu Tag mehr vergiftet; der beginnende Wahlkampf (um die Neubesetzung der Länderparlamente Bayerns, Nordrhein-Westfalens,

Hessens und Schleswig-Holsteins in den nächsten Monaten) wirft nicht nur auf jede Sonntagsrede landauf, landab seine Schatten, sondern verrät mehr. Nach dem jähen Schock des Zusammenbruchs 1945 zogen sich viele zunächst in eine animalisch-biologische Existenz zurück, alle Kräfte wurden gebraucht, um das nackte Leben zu erhalten. Das ist vorbei. Der uralte Vulkan, die Kräfte der Tiefe, melden sich zu Wort, in kleinen Erdbeben zunächst.

Außenstehenden und Gegnern erscheint in dieser Situation der deutsche Katholizismus als eine mächtige Phalanx. Jeder Kirchentag scheint die Macht und Geschlossenheit zu beweisen — die Forderungen katholischer Politiker, die am Vorabend und am Tag des großen Wahlsieges erhoben wurden, scheinen dies zu bestätigen. Ist das nicht der Weg zur Machtübernahme? Fallen nicht in Hamburg und Berlin die letzten „roten Trutzburgen“? Wird nicht in den nächsten Monaten Hessens sozialistische Regierung fallen?

Die erste große Enttäuschung bereitete manchen deutschen Katholiken ihr eigener Kanzler. Der Staatsmann Dr. Adenauer konnte ihre Forderungen nach Besetzung einzelner Ministerposten, von wichtigen Ressort- und Führungstellen nicht erfüllen. Die Bundesregierung kann keine katholische Kulturpolitik machen, einfach weil sie eine Koalition von Protestanten, „Liberalen“ und Andersdenkenden mit Katholiken ist, die ihrerseits verschieden profiliert sind. Ein tieferer Grund aber dürfte die Zurückhaltung des klugen Rechners in Bonn bestimmt haben: das Wissen um die bislang oft überschwiegene Tatsache, daß der deutsche Katholizismus in der Defensive steht. Gerade einzelne „offensive“ Gesten können nicht darüber hinwegtäuschen: die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung wünscht keine „römische“, keine „katholische“, keine „konfessionelle“ Politik, einfach, weil die Religion und der Glaube, weil Christsein und Christentum überhaupt für breiteste Schichten nur eine sehr geringe Rolle spielen.

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