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IM SCHATTEN DER GIGANTEN

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“Pas Phänomen der Literatur der Südslawen, welche aus vier national verschiedenen besteht, nämlich aus der slowenischen, kroatischen, serbischen und makedonischen, ist im Westen zu wenig bekannt und anerkannt. So auch die gegenwärtige Literatur der jugoslawischen Völker, die hier leider allzu oft falsch und unkorrekt gedeutet wird. Bei uns wird oft über die „Slawenmassen“, über die Teilung der Kultur in die slawischöstliche und europäisch-westliche gesprochen, wobei sich unter dieser Klassifizierung aber oft falsche Behauptungen verbergen; die unwissende Öffentlichkeit wird irregeführt. In den letzten Jahren begann sich aber, zum Glück oder Unglück, der deutschsprachige Raum intensiver mit der Literatur der Südslawen zu beschäftigen. Als Folge sind einige künstlerisch ausgezeichnete Werke von den berühmtesten Schriftstellern Jugoslawiens übersetzt worden, wie zum Beispiel die Werke von Miroslav Krleza und Ivo Andric und anderer. Diese Übersetzungen haben aber eine Fülle von unkritischen, oberflächlichen und oft ganz falschen Kommentaren zur Folge gehabt. Und hier hat sich wieder die ganze Problematik des Kommentierens dessen gezeigt, was aus dem europäischen Südosten stammt.

So haben zum Beispiel die meisten Zeitungskommentare über die ins Deutsche übersetzten Werke des Nobelpreisträgers Ivo Andric irreführende Darstellungen gebracht. Insistierend auf den außergewöhnlichen Sitten und Kuriositäten in Bosnien und auf all dem, was in den Werken von Andric nicht vorhanden ist und was höchstens ein Traumbild „der Kritiker und Kommentatoren“ vielleicht ist, wurde hier noch eine größere literarische Legende geschaffen als in seinem Belgrader Domizil. Der Öffentlichkeit gegenüber wurde von den Andric-Darstellern oft das betont, was ihnen selbst gefällt, was aber in Wirklichkeit nicht existiert. So konnte man beispielsweise folgenden Unsinn lesen: „In den Werken von Ivo Andric widerspiegelt sich die Geschichte des ganzen südslawischen Volkes.“ Die Identifizierung des großartigen künstlerischen Erzeugnisses Ivo Andrics mit der Geschichte der südslawischen Völker ist eine unzutreffende Erfindung und grenzt an touristisch-propagandistische Reklame. All diese Kommentare haben in ihrer unkritischen Begeisterung dazu beigetragen, daß die vielen literarisch interessierten Menschen geneigt wurden, zu glauben, daß erst mit Andric die wirkliche jugoslawische Literatur im deutschen Sprachraum entdeckt wurde.

Diese falsche Annahme konnten — halbwegs — die zwei ins Deutsche übersetzten Romane des kroatischen Schriftstellers Miroslav Krleza richtigstellen. Miroslav Krleza repräsentiert sich in diesen beiden Werken (Roman „Die Rückkehr des Philip Latinovitz“, herausgegeben vom Suhrkamp-Veriag, Frankfurt am Main, 1961, und der Roman „Ohne mich“, herausgegeben vom Stiasny-Verlag, 1962) als stärkste und eruptivste kroatische und jugoslawische künstlerisch-schriftstellerische Individualität. Dieser, in seinen übrigen zahlreichen und verschiedenartigsten

. Werken für die Kultur der Kroaten und Südslawen als ein kompromißloser und scharfsinniger Verfechter der „Dritten Macht“

.innerhalb des südslawischen Raumes und als ein stoßkräftiger Kämpfer gegen den großserbischen Mythos von zeitloser Bedeutung, ist im deutschen Sprachraum leider ein wenig spät bekannt geworden. Seine besten Werke nämlich, die wie alle seine Werke von dem allgemein menschlichen Unbehagen der modernen Welt erfüllt sind, hat Krleza schon vor dem zweiten Weltkrieg geschaffen. Doch scheint es, daß sich die Zeiten geändert haben, und so gedenkt der Stiasny-Verlag in Graz, laut „Republika“ (Zeitschrift für Kultur) in ihrer Nummer lo/ll, 1962, Krlezas Werke in acht Bänden herauszubringen. Vielleicht wird dann der Autor der „Kroatischen Rhapsodie“ und des „Kroatischen Gott Mars“ auch unserem Publikum noch mehr als bisher zu sagen haben. Europa scheint noch heute Afrika und Asien mehr zu kennen als jenen kroatischen Horizont, aus dem einer der europäischesten und genialsten Schriftsteller der Gegenwart stammt. Er spricht natürlich das breitere Publikum nicht so an. wie zum Beispiel Andric mit seinen Beschreibungen der bosnischen Eigentümlichkeiten, denn Krlezas melancholisch-depressive Schwere erfordert großes Einfühlungsvermögen von seinem Leser.

Die gegenwärtige jugoslawische Literatur, ja das ganze kulturelle Leben in Jugoslawien bewegt sich im Schatten dieser zwei Giganten: zwischen dem ruhigen, national unverbindlichen genialen Schilderer des bosnischen Milieus, Ivo Andric, und der feurigen und überbetont sensiblen Kämpfernatur, dem Revolutionär der bestehenden Werte und Schöpfer von neuen, dem linksorientierten Miroslav Krleza, wobei für den ersteren Belgrad, für den zweiten Zagreb das geistige Zentrum und Domizil ist. Diese zwei Menschen sind in Jugoslawien sozusagen jedem Kind bekannt, denn man feiert sie dortzulande systematisch: in Schulen, in zahlreichen Zeitschriften- und Zeitungsartikeln, also überall dort, wo über Literatur gesprochen wird. Krleza in Zagreb, Andric in Belgrad. Ja, es wird mit ihnen sogar eine Art Persönlichkeitskult getrieben. Krleza wird zum Beispiel von Linkskreisen als kroatischer Nationalheld schlechthin gefeiert, was wohl übertrieben ist.

Die politische Auflockerung des Staates, also der Bruch mit Moskau im Jahre 1948, stellte auch für alle vier Schriftstellergenerationen neue Aufgaben. Die politische Annäherung des jugoslawischen Staates an den Westen hatte zur Folge, daß sich die Schriftsteller aller vier Generationen über Nacht in verschiedenen, oft entgegengesetzten Dilemmen befanden.

Die nationalen jugoslawischen Zentren wurden nun plötzlich wieder lebendig. Die Zahl der kulturellen Zeitungen und Zeitschriften wuchs, und das kulturelle Leben begann zu blühen. Alle vier Völker (makedonische, serbische, kroatische und slowenische) versuchten, sich allmählich wieder auf ihre nationale Tradition zu besinnen. Und auch heute verspürt man deutlich eine gewisse Spaltung zwischen dem Belgrader und Zagreber Zentrum.

Die kroatische Literatur und Kunst ist hauptsächlich vom Abendland inspiriert worden, was auch in kulturellen Zeitschriften erfreulicherweise immer wieder in Erinnerung gebracht wird. So konnte beispielsweise die kroatische Kultur, trotz dem sehr starken Druck von Belgrad, eine nicht unbedeutende kulturelle und schriftstellerische Blüte erleben. Besonders erfreulich ist das entschlossene Auftreten der jungen kroatischen Schriftstellergeneration, die sich teilweise oder ganz an die eigene

Vergangenheit abgelehnt hat oder darnach strebt, dies zu tun. Denn den begabten jungen Menschen, die noch während des zweiten Weltkrieges Kinder waren, nach dem Kriege aber eine kommunistische Erziehung genossen haben, ist im Jahre 1948 das Fenster zum Westen geöffnet worden. Die Bedeutung dieses Ereignisses für die kulturelle Entwicklung der jungen schöpferischen Generation ist nicht abzusehen. Ihr erbitterter Kampf mit der alten Generation, teilweise mit alten Marxisten, und die Thematik ihrer Gedichte und Prosawerke sind hier in Österreich leider noch völlig unbekannt. Die jungen Dichter waren die ersten, welche die politische Umkehr auch für die literarische und künstlerische auszunützen versuchten. Die vorsichtigen Vertreter der alten Generation sind erst später „nachgelaufen“.

Die Krise der Literatur ist aber permanent. Das spürt man in jeder jugoslawischen Zeitschrift. Der unbehinderten Entfaltung neuer Ideen und künstlerisch-ästhetischer Frinzipien und Konzeptionen steht doch der bürokratische Staatsapparat im Wege. Und wie weit sich die heutige jugoslawische Literatur im Dienerschaftsverhältnis zum System im Staate befindet, wie weit sie gehorsam dient, wohin diese Litratur seit dem Bruche mit Moskau abschweift und warum es noch immer kein Werk gibt, welches gegen das gesellschaftspolitische System marxistischer Herkunft ankämpfen würde, bedürfte einer umfangreicheren Auseinandersetzung.

Es wäre dabei zu untersuchen, wie weit im heutigen kommunistischen Jugoslawien noch immer dem Künstler das Recht benommen ist, die Wahrheit zu sagen, die Wahrheit zu schreiben, und wie weit er nicht einer bürokratischen Parteikonzeption dient. Wenn eine Diktatur, die sie!: in jedem zweiten Satz eine Volksdemokratie und eine Künderin des sozialistischen Humanismus nennt, im Namen des menschlichen Glückes und der Sicherheit aufgebaut wird, muß da der Künstler ein administrativer Beamter solcher Konzeption sein, wenn sich diese als eine verkleidete Lüge herausgestellt hat? Solche Fragen sind lebenswichtig für die gegenwärtige jugoslawische Literatur. Der Umschwung der jugoslawischen Schriftsteller von der provinzielllandschaftlichen zu der städtischen Thematik, zu den modernen Großstadtmenschen, zu den Menschen überhaupt, zu seinen intimen individuellen Anschauungen, Deformationen und Leiden ist doch noch immer dem Stotterer ähnlich, der etwas sagen will, aber noch nicht sicher ist, ob das überhaupt möglich ist.

Obwohl also der durchschnittliche jugoslawische Schriftsteller in seinen Werken im Namen der Menschen, menschlich, moralisch und ästhetisch schreiben will, ist dieses Schreiben doch nichts anderes als ein noch immer ziemlich schwaches und einseitiges Dokument der Zeit, obwohl in den letzten Jahren bei einem Großteil der älteren und jüngeren Autoren die Tendenz zu erkennen ist, auch die ehemaligen und gegenwärtigen politischen Gegner des Regimes als Menschen mit moralischen Moti-veu hinzustellen. Diese interessante Erscheinung in der Literatur ist aber keineswegs den diametralen Tendenzen in der spanischen Literatur gleichzuwerten. Dazu müßten ganz starke Talente zun: Durchbruch kommen. Ob das aber unter den gegebenen Umständen möglich ist, ist mehr als fraglich. In Polen zum Beispiel sind bis jetzt auch katholische Autoren zu Wort gekommen. Dazu sind in Jugoslawien wohl noch einige Entwicklungen notwendig.

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