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Im Zeichen des Sprachkampfes

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Wieder einmal hatten die Wahlen im Zeichen des Sprachkampfes gestanden. Das Ergebnis war besonders wichtig im Zusammenhang mit der künftigen Entwicklung des belgischen Staates. Zum erstenmal in der Geschichte des Landes wollte man das Sprachenproblem, die neuen Sprachgesetze und die flämisch-wallonischen Gegensätze offiziell von der Verfassung anerkannt wissen. Man versprach sich von dieser Prozedur Entspannung und weitere Harmonisierung der flämisch-wallonischen Beziehungen. Die Furcht der Wallonen vor einer überhandnehmenden Minorisation (die Folge der niedrigeren Geburtenzahlen in Wallonien) würde sich vielleicht beruhigen und die föderalistischen Bewegungen in Zukunft abbremsen lassen. Außerdem lagen weitere Gesetzentwürfe über Fragen dieser Art vor, über die die alte Regierung und ein diesbezüglicher Ausschuß sich bereits geeinigt hatten. Die Libera-

len waren allerdings in letzter Stunde demonstrativ aus dieser Kommission ausgetreten.

Sie waren längst nicht die einzigen, die sich den Neuerungen widersetzten. Die Flamen glaubten ihre „Mehrheitsrechte“ vielfach verringert zu sehen, die Wallonen klagten über mangelhaften Schutz gegen die drohende Flut der Flaminganten. Fürs erste tröstete man sich mit dem Gedanken, daß die Einsprüche von zwei Seiten vielleicht doch ein Beweis seien, daß man die rechte Mitte getroffen habe. Es sollte sich bald herausstellen, daß es ein schwacher Trost und eine falsche Hoffnung gewesen war.

Die demagogischen Losungen der Liberalen haben über Vernunft und den redlichen Willen zu einer konstruktiven Politik den Sieg davongetragen. Die Liberalen, die bisher nur 20 Mandate im Parlament aufzuweisen hatten, stiegen auf 48. In Brüssel vor allem rührten sie sich gewaltig.

Sie bekundeten offen ihren Vorzug für den französischsprechenden Teil der Bevölkerung. Ihr Widerstand gegen die soziale Politik der Regierung Lefevre-Spaak förderte die Durchbruchstendenzen der konservativen Katholiken. Gemeinsam veröffentlichten sie ein lautstarkes Durchbruchsmanifest. Die Liberalen nahmen auch Katholiken als Kandidaten in ihren Listen auf. Außerdem gewann die Frankofone Front hier einige Sessel. Die Unruhen in der Hauptstadt verfehlten ihren Rückschlag auf die flämische Union nicht. Diese konnte einen Gewinn von sieben Mandaten für sich buchen und stieg von fünf auf zwölf. Was indessen schwerer wiegen dürfte: Mißtrauen und Widerwille gegen Brüssel verstärkten sich ungemein, und viele lehnen die Stadt, die den notwendigen Geist der Versöhnung so sehr vermissen läßt, als Zentrum und Hauptstadt des zweisprachigen Volkes entschieden ab.

Die schwere Niederlage der Koalition hat Regierungskreise zunächst sprachlos gemacht. Was soll, was kann überhaupt geschehen? fragt man sich allerorts wie betäubt. Aus der Sackgasse sieht man keinen gangbaren Ausweg. Die Lösung der dringenden aktuellen Fragen ist in weite Ferne gerückt. Wo in aller Welt soll man die benötigte Zweidrittelmehrheit herholen, ohne die man nicht weiterkommt? Die Wahlergebnisse, die Belgiens ewige Uneinigkeit und Zwietracht betonen, enthalten kaum konstruktive Elemente.

Man sucht nach Schuldigen, nach einem Sündenbock und wird sie gewiß zu finden wissen. Es heißt, Ex-premier Lefevre sei den Sozialisten viel zu weit entgegengekommen. Spaak sei überhaupt nur ein Prahler, der höchstens im Ausland was gelte. Die Regierung habe sich an den großen Aufgaben übernommen, nun zeige sich der unvermeidliche Verschleiß an tüchtigen Köpfen. Das belgische Volk als Ganzes sei unausgeglichen, leide an einem anarchistischen Komplex, der sich bei allen außerordentlichen Gelegenheiten zeige. Man wägt auch wohl die restlichen Möglichkeiten gegeneinander ab, es gibt der Lösungen viele, jedoch keine scheint etwas zu taugen.,, Mit Recht macht man sich Sorgen um die Zukunft Belgiens.

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