Im Zweifel einfach weiter "merkeln"

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Bei der Bundestagswahl am Sonntag tritt die Kanzlerin zum letzten Mal an. Umfragen sehen sie klar voran. Doch unangefochten ist sie schon lange nicht mehr. Vor allem, was die Innenpolitik betrifft.

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Bei der Bundestagswahl am Sonntag tritt die Kanzlerin zum letzten Mal an. Umfragen sehen sie klar voran. Doch unangefochten ist sie schon lange nicht mehr. Vor allem, was die Innenpolitik betrifft.

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Letztes Wochenende steuerte Angela Merkel das Ostseebad Binz auf Rügen an. Zwei Konstanten dieses Wahlkampfs begleiteten sie beim Heimspiel in ihrem Wahlkreis: zum einen ihre Reputation als Garantin der Stabilität -auch wenn sie selbst es war, die daran referierte: "Wir leben in unuhigen Zeiten. Experimente können wir uns im Augenblick nicht erlauben." Zum anderen waren da die Pfiffe, welche die Rede der Kanzlerin begleiteten, und zwar als prinzipielle Reaktion auf ihre Person, unabhängig von Inhalten. Der rabiate Protest der Identitären gegen die Kanzlerin ist ein Merkmal dieser Wochen.

Auf dem Höhepunkt der Macht

Beides zeigt, wie sich die politischen Koordinaten in Merkels zwölf Jahren als Regierungchefin gewandelt haben. Die AfD wird nach aller Voraussicht auch auf Bundesebene mit dem alten Strauß-Mantra aufräumen, rechts der Union sei kein Platz für eine demokratisch legitimierte Partei.

Die Kanzlerin, inzwischen 63, genießt derweil bis ins linksliberale Lager hinein Sympathien. Zudem firmiert sie, am Anfang ihrer Karriere prinzipiell unterschätzt und als Kohls "Mädchen" belächelt, längst unter Bezeichnungen wie "mächtigste Frau der Welt" oder gar, seit dem Amtsantritt Donald Trumps, als "leader of the free world".

Die Zahlen könnten in diesem Herbst suggerieren, Merkel sei auf dem Höhepunkt ihrer Macht. 36 oder 37 Prozent sagen Umfragen der Union bei der Wahl voraus. Das läge zwar unter den 41,5 Prozent von 2013, doch angesichts eines möglichen SPD-Debakels um die 20 Prozent wären CDU und CSU unangefochten die stärkste Fraktion im Bundestag. An Merkels vierter Periode im Kanzleramt gibt es folglich keine Zweifel, auch wenn sie ihre komfortable Position zu einem guten Teil der strukturellen Schwäche der Sozialdemokraten verdankt. Ein näherer Blick auf die Kanzlerin ergibt aber ein nuancierteres Bild. Zumal internationale Beobachter fragen sich, ob die Deutschen nicht langsam "merkelmüde" werden. Tatsächlich erinnert einiges an die Spätphase der Ära Kohl: Eine Generation ist erwachsen geworden, die niemand anders an der Spitze der Regierung kennt. Auch in den EU- Staaten hat man sich längst daran gewöhnt, dass Merkel immer vorne dabei ist, wenn es darum geht, die seit 2008 permanente Krise zu moderieren. Wie lange dieser Zustand andauert, zeigt sich daran, dass sie dies anfangs gemeinsam mit Gordon Brown, Nicolas Sarkozy oder Alfred Gusenbauer tat.

Eine weitere Parallele zu ihrem politischen Ziehvater Kohl: Esprit und Gestaltungsdrang haben sich, wie sollte es anders sein, mit den Jahren abgenutzt. Gewichen sind sie dem Bedürfnis nach Sicherheit und Routine, was angesichts Terrorattacken, Flüchtlings-und Eurokrise ebensowenig verwundert. Unterschätzen sollte man auch nicht, dass der Aufstieg der AfD sehr viele Deutsche tief beunruhigt. Eine Stimme für Merkel scheint da naheliegend, um dem identitären Spuk Einhalt zu gebieten.

An Merkels vierter Periode im Kanzleramt gibt es keine Zweifel, auch wenn sie ihre komfortable Position zu einem guten Teil der strukturellen Schwäche der Sozialdemokraten verdankt.

Bloß keine Experimente

"Experimente können wir uns im Augenblick nicht erlauben", diesen Satz bezog sie am Wochenende auf Rügen eigentlich auf die SPD, von der sie verlangte, sich von einem Bündnis mit Grünen und Linken zu distanzieren. Er kennzeichnet aber auch die Aura, die Merkel vor dieser Wahl umgibt. Als sie im November 2016 verkündete, sie werde noch einmal, ein letztes Mal, als Spitzenkandidatin der Union antreten, konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich da eine in der Pflicht sah, ihre Arbeit zu Ende zu bringen und auf stürmischer See das Steuer nicht aus der Hand zu geben.

Eine andere Botschaft allerdings lässt sich in diesem Wahlkampf auch schwerlich ausmachen. Die Auftritte der Kanzlerin sind farblos und ein wenig vage, ganz wie der Slogan "Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben". Was wiederum typisch für eine Politikerin ist, die sowohl als abwartend als auch knallhart beschrieben wird und einst das Verb "merkeln" prägte.

"Sie steht am Steuer. Aber niemand weiß, wohin es geht, damit es bleibt, wie es ist", schrieb ihr die FAZ zum zehnjährigen Dienstjubiläum ins Stammbuch. Die Würdigung war eine ziemlich kritische und trug den Titel "Die Nebelkönigin". Das Nebulöse ist indes auch eine Stärke Merkels. Die Energiewende mit ungewissem Ausgang, der Übergang von der Willkommenskultur zur rigideren Asylpolitik, die "Ehe für alle", die sie eigentlich befürwortet, doch dann dagegen stimmt -klassisches "Merkeln", wenn man so will.

Ein gewisser Konturverlust gehört freilich zu einem Platz in der Mitte. Und genau dort hat sich Angela Merkel immer gerne gesehen -als Kanzlerin des Sommermärchens, in der Kabine der Weltmeister, als Galionsfigur eines neuen, weltoffenen Deutschlands. Seit einigen Jahren wird sie auch als dessen "Mutti" bezeichnet -manchmal spöttisch, manchmal bewundernd. In der kommenden Legislaturperiode werden ihre Partei und ihr Land zweifellos beginnen, sich von Mutti zu emanzipieren.

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