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In Pankow siegte die Angst

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I.

Der Zwang zum schnellen, oft nach Minutenfristen bemessenen Kommentieren nötigt den Tagesjournalisten, die Vorgänge innerhalb des kommunistischen Machtbereichs nach gewissen Schemata zu beurteilen. Sie spiegeln notgedrungen eine Wertordnung, ein logisches Koordinatensystem wieder, das dem westlichen Leser zwar verständlich, dem Gegenstand selbst aber nicht adäquat ist. Die Handlungen und Absichten der dortigen Machthaber werden — das zeigten die meisten uns zugänglichen Kommentare der österreichischen und deutschen Presse zur derzeitigen Führungskrise an der Spitze der deutschen Sowjetzone wieder deutlieh — nach äußeren Gesichtspunkten beurteilt, deren Perspektiven zu Fehldeutungen führen müssen. Für gewöhnlich geschieht diese Fehlinterpretation nach zwei Richtungen hin, die beide zu verhängnisvollen Schlußfolgerungen führen. Da ist einmal die grundsätzliche optimistische Fehldeutung der Prozesse innerhalb der marxistisch-leninistischen Führungsschicht der einzelnen Staaten des Sowjetbereichs, die jede zutage tretende oppositionelle Strömung als Widerstand gegen das marxistische Grundkonzept betrachtet und sich solcherart unwillkürlich die stalinistische Methode zu eigen macht, jeden sachlichtaktischen Gegner der herrschenden „Linie“ zum grundsätzlichen Feind zu stempeln. Die innermarxistische Dialektik wird dabei entweder mißverstanden oder übersehen. Ebenso verfehlt ist natürlich eine bequeme pessimistische Einschätzung aller innermarxistischen Vorgänge,: die nach einer solchen Methode zu persönlichen

Machtkämpfen herabgemindert werden, denen jeder geistig-konzeptive Charakter abzusprechen ist. Dann -freilich erscheint die gesamte Welt hinter dem Eisernen Vorhang als ein kriminelles System, dessen einzelne Vertreter sich nach der Gesetzmäßigkeit einer Verbrecherbande gegenseitig killen. Die zur menschenmöglichen Erforschung der Wahrheit für den Christen gebotene Tugend der Gerechtigkeit fordert von uns die Ablehnung beider Haltungen.

Versuchen wir also, die jüngsten Vorgänge innerhalb des sowjetischen Machtbereiches in Deutschland als ein innermarxistisches Problem mit der für jede Wissenschaft nötigen historischobjektiven Immanenz anzusehen. Es ergibt sich dann zunächst einmal, daß hier zwei Auffassungen vorliegen, die beide konsequent marxistisch sind und mit einem „Reformismus*, wie ihn etwa vor Jahr und Tag die Gruppe um den jungen Philosophen Harich vertrat, nicht das geringste zu tun haben. Der Unterschied liegt hier nur in der Ebene der jeweiligen Gültigkeit. Um es mit einem militärischen Vergleich auszudrücken: Eine Handlung kann laut Reglement, Taktik und sogar Strategie auf Regimentsebene richtig sein, nach denselben Gesetzen aber auf der Ebene der Division falsch, und nach eben denselben Gesetzen auf der noch weiter übergeordneten Ebene der Armee wieder richtig. Zur Zeit Stalins konnte ein solches Dilemma innerhalb der kommunistischen Schlachtordnung nicht aufkommen. Die alleroberste Ebene — durch ihn selbst repräsentiert — war klar erkennbar. Und die einfache kommunistische Logik verlangte von jedem Funktionär, daß er sein Handeln in letzter Konsequenz auf diese Ebene hin ausrichte. Das war für den sogenannten Stalinismus charakteristisch. Die beiden klassischen Beispiele dieser

kommunistischen Strategie waren' die Preisgabe der spanischen Republik zugunsten höherer Interessen der für den Weltkommumismus maßgeblichen Sowjetführung, wie das Bündnis mit Hitler unter Opferung Polens. Nach dem Tode des Diktators, der zugleich die konstituierende Spitze einer überschaubaren Hierarchie war, änderte sich dies gründlich. Es sind nun auch für den konseqvfent denkenden Marxisten bei unverrückbarer Gleichheit des Endzieles und strengem Festhalten an den prinzipiell-revolutionären Methoden verschiedene Lösungen möglich. In der deutschen Sowjetzone gibt es für die dort praktisch alleinbestimmende kommunistische Führungsschicht zwei grundsätzlich marxistisch-leninistische Möglichkeiten. Die eine vertritt Ulbricht, unterstützt von einer Reihe jüngerer Funktionäre, die über keine eigene marxistische Tradition und Erfahrung verfügen, sondern ihre gesamte Position und Existenz der Treue zum Ersten Sekretär der SED verdanken. Sie ist die der Angst und des zum Prinzip des Handelns erhobenen Mißtrauens, mithin die der starren Erhaltung des Bestehenden. Sie geht davon aus, daß einzig die Sowjetzone eine reale strategische und wirtschaftliche Machtbasis Rußlands darstellt, eine gesamtdeutsche Entwicklung aber, sollte an ihrem Ende auch ein - neutralistisch-bürgerliches Regime für den wiedervereinigten Staat stehen, diese Bastion in Frage stellen muß, ja auch nur kann. Die Wiedervereinigung ist für Ulbricht überhaupt nur denkmöglich auf kommunistischer Grundlage, da jede andere Lösung zwangsläufig die Preisgabe von bestimmten Teilen der sozialistischen „Errungenschaften“ bedeuten müßte, die als solche für ihn überhaupt nicht mehr zur Diskussion gestellt werden können. Ulbricht ist, wie uns zumindest

scheint, mit der für den echten Marxisten charakteristischen Mischung religiöser und mathematischer Gewißheit davon überzeugt, daß es einen Weg zurück in die eigene Vergangenheit für jenen unter seiner Botmäßigkeit stehenden Teil des deutschen Volkes, der bereits die „höhere Entwicklungsstufe“ der sozialistischen Gesellschaftsordnung erreicht hat, niemals geben kann. Er ist nicht bereit, den verwirklichten Sozialismus zur Diskussion zu stellen, ihn und seine konkreten Errungenschaften dem Feuer einer demokratischen Wahlauseinandersetzung in einem wie immer gearteten Gesamtdeutschland

auszusetzen. Sein eigenes Denken berührt sich mit dem jener maßgebenden sowjetischen Führer, die der militärischen Sicherheit der Sowjetunion jeden anderen Gesichtspunkt der marxistischen Zielsetzungen grundsätzlich unterordnen. Dies aber nicht, weil, wie immer wieder sehr oberflächlich behauptet wird, sie selbst „groß-

russisch“, „ostisch“ oder „imperialistisch“ denken, sondern weil sie als gute und konsequente Marxisten davon überzeugt sind, daß der Marxismus selbst mit dieser seiner „Inkarnation“ in Gestalt des sowjetischen Staatswesens steht und fällt, nach der Entmachtung oder Liquidierung dieses atheistischen „Kirchenstaates“ also auch die innerweltliche Heilsbotschaft von Marx und Lenin nicht mehr verkündet werden kann. Diesem Konzept nun, das die deutsche Sowjetzone vor allem unter dem Gesichtswinkel der durch Gomulka-Polen etwas erschütterten sowjetischen Vorfeldstrategie sieht, entspricht die Haltung Ulbrichts durchaus. Hier liegt auch der Schlüssel zu dem immer wieder diskutierten Geheimnis der Zählebigkeit des spitzbärtigen Sachsen, der bislang jede Säuberung mit der seinem Volksstamm eigenen Munterkeit zu überstehen wußte.

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Was aber wollten die anderen? Drei von ihnen wurden unter den „fraktionsbildenden Elementen“, die also eine beträchtliche Gruppe bilden müssen, namentlich genannt, der Kaderchef S c h i r d e w a n, ein Sachse gleich Ulbricht, der vor kurzem krankheitshalber zurückgetretene Sicherheitsminister W o 11 w e b e r und der Cheftheoretiker O e 1 ß n e r (ein Altkommunist, der, als 1933 nach Prag geflüchteter Emigrant, schon während der innerkommunistischen Spanienkrise einmal erheblich von der stalinistischen Linie abgewichen war). Aber der Kreis dürfte weiter gezogen sein. Der vor kurzem seiner Funktionen enthobene Volksbildungsminister Wandel, der gerade in diesen Tagen wegen angeblicher Arbeitsüberlastung von

der Führung des Kulturbundes zurückgetretene „Erzpoet“ des Regimes, B e c h e r, vor/allem aber zwei Männer, von denen man hoch lange nicht das letzte Wort gehört haben dürfte, R ä u und Selbmann, die beiden führenden Wirtschaftsmanager, stehen den von Ulbricht bekämpften Tendenzen zumindest sehr nahe. Selb-

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