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Indonesiens schwerer Weg

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In wenigen Monaten jährt sich zum fünfzigsten Male ein Tag folgenschwerster Bedeutung für die Völker zweier Kontinente: der 27. Mai 1905. Mit der Vernichtung der baltisch-russischen Flotte in der Straße von Tsushima war die russische Niederlage im Kriege gegen lapan besiegelt und der Anstoß für eine Neuorientierung der russischen Expansionspolitik gegeben, die nunmehr systematisch das Ziel verfolgte, sich für den im Fernen Osten erlittenen Rückschlag in Zentral- und Südosteuropa schadlos zu halten. Damit wurde die Saat gelegt, die 1914 aufging. In den asiatischen Ländern anderseits wirkte der Ausgang jener Seeschlacht wie ein plötzlicher Dammbruch, der hoch aufgestauten Wassermengen den Weg in die Ebene freigibt. Die Japaner hatten gezeigt, daß sie es an technischem Können mit dem Westen aufnehmen, ja den Westen sogar noch übertreffen konnten; das gab dem nationalen Selbstbewußtsein der Völker Asiens und ihrem Verlangen nach Unabhängigkeit mit einem Schlag einen ungeheuren Auftrieb. Kaum ein Jahr war vergangen, und schon erhob die Nationale Kongreßpartei Indiens, die sich in den zwei Dezennien seit ihrer Begründung vorwiegend mit sozialen Fragen beschäftigt hatte, laut und dringend die Forderung nach völliger Selbstregierung für den indischen Subkontinent. Auch in China griff, unter dem Eindruck des japanischen Beispiels, die Unzufriedenheit mit dem herrschenden System und der Langsamkeit und Unzulänglichkeit der- von der kaiserlichen Regierung um die Jahrhundertwende eingeleiteten Reformen mächtig um sich; zwischen dem Tag von Tshusima und dem 10. Oktober 1911, der Ausrufung der Chinesischen Republik, bestand ein psychologischer Zusammenhang.

In dem hinsichtlich seiner Bevölkerungszahl, Japan nicht mitgerechnet, an dritter Stelle stehenden asiatischen Territorium, im damaligen Niederländisch-Ostindien, nahm die durch den japanischen Kriegserfolg ausgelöste nationalistische Strömung zunächst keine greifbare Gestalt an. Zwar entstand schon 1908 ein politischer Verband, der als indonesisch-national bezeichnet werden konnte, der Kampf dieser Vereinigung „Glorreichen Strebens“, wie sie sich nannte, galt aber nicht unmittelbar der niederländischen Kolonialmacht; sie wollte vielmehr mit Hilfe der Kolonialmacht und unter ihrer Führung die breiten Massen allmählich nach westlichem Muster erziehen, die allgemeine Lebenshaltung verbessern und Verständnis für die politischen Anschauungen und Einrichtungen des Westens erwecken. Um vieles populärer als diese Bewegung, die fast nur bei der europäisch gebildeten Beamtenschaft Unterstützung fand, wurde die drei Jahre später gegründete Sarakat-Islam-Partei. Mit der Devise nationaler Freiheit, die sie auf ihre Fahnen schrieb, gewann sie nach dem ersten Weltkrieg auch viele indonesische Intellektuelle, die, heimgekehrt von ihren Studien an holländischen oder anderen westlichen Universitäten, keinen Grund sahen, weshalb das für Europa geprägte Wort vom Selbs-bestimmungsrecht der Völker nicht auch in den Kolonialgebieten Asiens Anwendung finden sollte.

Immerhin blieb auch dann noch in der Frage einer indonesischen Selbstregierung ein gutes Maß gemeinsamer Auffassungen und gegenseitigen Verständnisses zwischen Holländern und Indonesiern erhalten. Das war nicht zuletzt ein Ergebnis der von der niederländischen Kolonialverwaltung verfolgten Politik, die planmäßig darauf hinarbeitete, die Bevölkerung mit dem Wesen und den Institutionen des modernen demokratischen Systems vertraut zu machen und so die erste Voraussetzung für eine echte, auf breitester Grundlage ruhende Autonomie Indonesiens zu schaffen. Auf diesem Weg organischer Entwicklung kam es freilich zu einem schweren Rückschlag, als es kommunistischem Einfluß Mitte der zwanziger Jahre gelungen war, durch Organisierung eines regelrechten bewaffneten Aufstandes die gesamte nationalistische Bewegung zu kompromittieren. Trotzdem gestaltete sich das Verhältnis zwischen Holländern und der großen Mehrzahl der Indonesier nach Niederwerfung der Rebellion merkbar freundschaftlicher, als es früher gewesen war; was es beiderseits an Befürchtungen oder politischen Ressentiments gab, trat in den Hintergrund gegenüber einem wachsenden Gefühl der Schicksalsverbundenheit, fast könnte man sagen einer Vorahnung der unsäglich bitteren Jahre, die mit dem zweiten Weltkrieg und der japanischen Okkupation über Indonesien hereinbrechen sollten.

Die niederländische Exilregierung in London machte sich keine Illusionen über die politische Lage, die sie nach dem zweiten Weltkrieg im befreiten Indonesien vorfinden würde. Es war ihr klar, angesichts der systematischen Forderung, die das japanische Regime dem nationalistischen Extremismus unter der Devise „Asien den Asiaten“ zuteil werden ließ, daß es nicht länger möglich sein würde, die Frage der indonesischen Autonomie dilatorisch zu behandeln. Was sie freilich nicht voraussehen konnte, war die Situation, die sich durch den überraschenden Eingriff der ihr verbündeten Mächte in dieser Frage ergab. Zwar standen im Augenblick des japanischen Zusammenbruches nur sehr wenige niederländische Truppen für eine Wiederbesetzung der indonesischen Inselwelt zur Verfügung, sie hätten aber, zusammen mit der Landung des entsprechenden Materials für die Bewaffnung und Ausrüstung der 200.000 nun befreiten niederländischen Kriegsgefangenen und Zivilinternierten, genügt, um von einer Position der Stärke aus mit den Führern der indonesischen Unabhängigkeitsbewegung zu verhandeln. Das Alliierten-Oberkommando in Südostasien unter Lord Louis Mountbatten wollte es anders. Die Besetzung wurde von britischen Streitkräften durchgeführt, und als den Holländern endlich erlaubt wurde, nach Indonesien zurückzukehren, sahen sie sich einer von den Briten und Amerikanern de facto bereits anerkannten indonesisch-rupublikanischen Regierung gegenüber, die es nicht verabsäumt hatte, ihre zu einem Großteil aus Kommunisten bestehende Gefolgschaft mit der den Japanern abgenommenen Bewaffnung zu versehen. Unter solchen Umständen war kaum zu bezweifeln, daß die freilich nicht sehr dezidiert durchgeführten holländischen Bemühungen, den Vor-kriegszustand wiederherzustellen und Indonesien schrittweise für seine Eigenstaatlichkeit vorzubereiten, ergebnislos bleiben würden. Tatsächlich erlangte die Indonesische Republik unter Führung Soekarnos im Dezember 1949 ihre volle, international anerkannte Souveränität.

Die bisherige Entwicklung des neuen Staatsgebildes hat die Befürchtungen der Kenner indonesischer Verhältnisse bestätigt und keinen Beweis für die Richtigkeit der fast axiomatisch gewordenen Theorie erbracht, daß Eigenstaatlichkeit auf der Grundlage westlich-demokratischer Institutionen das beste und sicherste Mittel sei, um die Probleme eines jeden Volkes, möge es sich in historischer, sozialer, kultureller und wirtschaftlicher Beziehung von den Völkern des Westens noch so weitgehend unterscheiden, einer raschen Lösung zuzuführen. Was immer die Sünden der Kolonialherrschaft früherer Zeiten gewesen sein mögen, und sie waren gewiß schwerwiegend, so fällt doch ein Vergleich zwischen der Lage der indonesischen Bevölkerung in den letzten Jahren und Jahrzehnten des niederländischen Regimes und ihrer heutigen Lage durchaus zugunsten der niederländischen Verwaltung aus. Gestützt auf ihre über Generationen zurückreichende Erfahrung und von der Absicht geleitet, Indonesien so weit als möglich zu einem eigenständigen Wirtschaftskörper zu gestalten, hatten die Holländer es sich angelegen sein lassen, zugleich mit der Begründung und Förderung neuer indonesischer Industrien, dem Ausbau des Verkehrsnetzes, großzügigen landwirtschaftlichen Meliorationen und anderem der Hebung des Wohlstandes dienenden Arbeiten das allgemeine Bildungsniveau auf eine höhere Stufe zu bringen, mit einem Erfolg, der sich in der Zahl von 2,300.000 Schülern ausdrückt, die im Tahre 1939 indonesische Elementarschulen besuchten. Daß im selben Jahre die indonesischen Mittelschulen zusammen kaum 800 Maturanten aufzuweisen hatten, und die Universität von Joe-karta nur etwa 1100 Studenten, war' nicht auf einen Mangel entsprechender Ausbildungsmöglichkeiten zurückzuführen, sondern auf die Selbstgenügsamkeit einer Bevölkerung, die, abgesehen von relativ wenigen Ausnahmen, mit ihrem Los zufrieden war und keine Lust verspürte, in einen Wettlaüf um materiell oder intellektuell gehobene Positionen einzutreten. Die Unwissenheit der breiten Massen, ihr geringes Verständnis für politische und wirtschaftliche Ziele und Zusammenhänge ist den Führern der Unabhängigkeitsbewegung auf der ersten Etappe ihres Unternehmens sehr zustatten gekommen, aber dann freilich mußten sie die Erfahrung machen, die vor ihnen schon von so vielen erfolgreichen Revolutionären gemacht worden ist, die Erfahrung, daß es nicht so schwer ist, einen Umsturz herbeizuführen, als nach Erreichung dieses Zieles die hierfür aufgerufenen Kräfte zu disziplinieren und dem planmäßigen Aufbau einer neuen Ordnung dienstbar zu machen.

Trotzdem es ihnen an gutem Willen und auch an staatsmännischer Begabung sicherlich nicht fehlt, ist es den Führern der jungen indonesischen Republik bis heute nicht gelungen, im ganzen Staatsbereich die Autorität zu gewinnen, die früher die niederländische Kolonialregierung besaß. In manchen Gebieten herrscht offene Auflehnung, und auch dort, wo die Zentralgewalt sich durchsetzen konnte, sind öffentliche Sicherheit und Respekt vor dem Gesetz gering. Ueberau, in der Verwaltung und Rechtspflege, in Industrie und Landwirtschaft, fehlt es an der früheren sachverständigen Leitung. Angesichts dieser Umstände, aus denen sich auch die Unzulänglichkeit der Produktion, namentlich im Nahrungsmittelsektor, ergeben hat, kann von einer Verbesserung des Lebensstandards der rasch anwachsenden Bevölkerung - ihre Kopfzahl nähert sich bereits der Ziffer von 75 Millionen — auf absehbare Zeit keine Rede sein; ebenso, wie es heute noch illusorisch ist, Indonesien als einen konsolidierten Staat zu betrachten, dessen Mächt für die.Stabilisierung der Weltlage ins Gewicht fallen könnte.

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