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Ins kalte Wasser...

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„Nur langsam mit den Füßen ins kalte Wasser — aber hinein müssen wir, auch wenn wir heute schon wissen, daß es tief ist.“ Diese Worte sprach drei Tage nach dem sozialistischen Sieg vom 1. März ein sehr prominenter Politiker der SPÖ, ein Politiker, der außerdem und vor allem noch eines ist: ein anerkannter Wirtschaftsfachmann, der sich in dieser Funktion auch mit seinen Kollegen von der „anderen Fraktion“ gut redet.

Ein Versuch, wenige Tage nach der Wahl den Augur zu spielen und die künftige Wirtschaftspolitik Österreichs auch nur konturenhaft abzustecken, wird durch die Mandatsverteilung im Nationalrat wesentlich erschwert: Bei 81 zu 79 Mandaten kann die führende Partei einfach nicht alle ihre Ideen bezüglich sozialer Gerechtigkeit und Wachstumssteuerung verwirklichen, wenn diese nicht erstens weitgehend und zumindest hinsichtlich der Ziele mit jenen der Koalitions- oder großen Oppositionspartei übereinstimmen und zweitens nicht ohne prohibitive Schwierigkeiten gegen die betroffenen Bevölkerungsschichten durchsetzbar sind. In diesem Rahmen aber herrscht zwischen den Fachleuten der beiden politischen Großparteien zumindest hinsichtlich der anzustrebenden Globalziele — soziale Gerechtigkeit, Weitersteuern auf dem Wachstumspfad, Vermeidung einer jeden Anreiz nehmenden prohibiti-ven Besteuerung — weitgehend Einigkeit. Die Differenzen liegen in erster Linie in den Wegen, die zu dem gewünschten Ziel führen; auch hier aber muß festgehalten werden, daß die Fronten der Experten quer durch die Parteien gehen. Abschätzen läßt sich daher bestenfalls und unter Berücksichtigung eines nicht zu eng bemessenen Spielraumes die politisch wünschenswerte Rangordnung der Ziele, unter Beobachtung des entsprechenden „bias“: letztlich kann angenommen werden, daß sich eine sozialistische Partei, zumindest formell, anderen Idealen verpflichtet fühlen muß als eine konservative, und daß sie zur Aufrechterhaltung ihres diesbezüglichen Image auch entsprechende Taten setzen muß. Die Angst, daß Österreich den Weg Englands mit seiner ständigen Ver-und Entstaatlichung je nach Wahlausgang gehen könnte, ist unbegründet, und dies nicht nur wegen der grundlegenden Unterschiede im Wahlsystem, die in Österreich eine so klare Mehrheitsbildung wie in

Großbritannien verhindern. Gegen den Willen der anderen Partei wird also in der nächsten Legislaturperiode — gleichgültig, wie lange sie dauern mag — wenig Grundlegendes durchzusetzen sein. Wo können die Kompromißmöglichkeiten liegen? Einigkeit besteht zunächst einmal darüber, daß die Steuerbelastung, global betrachtet, nicht mehr allzu stark, wenn überhaupt, ansteigen darf, soll kein leistungshemmendes prohibitives Steuersystem etabliert werden; auf der anderen Seite aber ist man sich im klaren, daß wir un-

nächsten Wahltermin möglichst dem politischen Gegner „angehängt“ werden sollten? —, der Ausweg liegt offensichtlich in den divergierenden Vorstellungen über die „gerechte“ Lastenverteilung.

Von der um ein (weiteres) viertel Prozent anzuhebenden Erbschaftsund Schenkungssteuer über die Milderung der Einkommensteuerprogression in den unteren Stufen bis zur Änderung des derzeitigen Spar-förderungssystems ist hier alles — und damit wenig genug — „drinnen“: Die nächste Progressionskor-

sere Fiktion vom perfekten Wohlfahrtsstaat nicht aufrechterhalten können, wenn die Steuerbelastung nicht zumindest gleichbleibt. Der Ausweg aus dieser Quadratur des Kreises, die noch so manchem folgenden Finanzminister hart zu schaffen machen dürfte — in Parenthese vermerkt: gibt es eigentlich nur zu fordernde Ministerien für die Regierungsparteien einer Koalition und nicht auch solche, die aus Parteiräson und mit 'Rücksicht auf den

rektur wäre unter jeder Regierung demnächst und immer wieder in regelmäßigen Abständen fällig geworden, um den Geldwertschwund auszugleichen; hinsichtlich der Änderung der Maßnahmen zur Sparförderung — Einführung von Prämien, um die Benachteiligung der unteren Einkommensschichten durch das jetzige System auszugleichen — steckten die Sozialisten bereits etwas zurück, und im übrigen wird der Rahmen in Richtung Mehranreize

durch die harten Budgetgegebenheiten ziemlich eng gesteckt. Dasselbe aber gilt letztlich für eine weitherzigere Bestimmung des Dynamisie-rungsfaktors für die Rentenempfänger.

Auch hinsichtlich der Währungspolitik bestehen zwischen SPÖ und ÖVP,

im Gegensatz zur seinerzeitigen Situation in der Bundesrepublik, keine grundlegenden Divergenzen, auch dann nicht, wenn man die Entscheidung für die Nichtaufwertung in manchen Kreisen gelegentlich bedauern mag: Es handelt sich dabei um Expertenkreise, und die Fronten gehen, wie so oft, quer durch die Parteien.

Fest steht, daß es die nächste Regierung nicht nur wegen der vorgezeichneten Budgetsituation schwer haben wird: Bereits in nächster Zeit ist eine Lawine von Preissteigerungen zu erwarten, und offensichtlich zeigen sich zumindest die Fachleute der sozialistischen ehrlicher als die Politiker der konservativen Partei (letztere allerdings vor der Wahl): Man ist sich völlig darüber im klaren, daß das „richtig gewählt haben“ auch nicht einen einzigen Indexprozentbruchteil an geringerer Preissteigerungsrate bringt, den nicht auch die andere Partei bei rationaler Überlegung hätte erkämpfen können. (Hinsichtlich der „rationalen Überlegung“ allerdings können sich die Geister — siehe Fleischpreise — schon gelegentlich scheiden ..)

Was übrig bleibt, sind der unbedingt notwendige Übergang zur Mehrwertsteuer, an Stelle des jetzigen (veralteten und auch wegen unserer Integrationsbemühungen abzuschaffenden) Umsatzsteuersystems, die Neuregelung der Marktordnungsgesetze für die Landwirtschaft und schließlich die Weichenstellung für eine sinnvolle Industrie- und Gewerbepolitik.

Das Mehrwertsteuersystem wird kommen, wenn auch nicht sicher an dem von Prof. Koren einmal genannten 1. Jänner 1972; der Stichtag sollte, um überflüssige Belastungen möglichst hintanzuhalten, möglichst nicht allein vom Kalender, also von den technischen Gegebenheiten, sondern von der herrschenden Konjunktursituation bestimmt sein. Die zur Mitte dieses Jahres auslaufenden Marktordnungsgesetze werden entweder kurzfristig verlängert oder, was eher nicht anzunehmen ist, sofort durch bessere ersetzt werden. Daß hier tabula rasa gemacht werden muß, ist klar; daß eine halbe Lösung — die Voraussetzungen haben sich seit der Konzipierung der ursprünglichen Gesetzestexte teilweise in ihr genaues Gegenteil verkehrt — schlechter als gar keine ist, steht ebenfalls außer Diskussion. Und was schließlich eine österreichische Industrie- und Gewerbepoli-

tik anlangt, so sind die Weichen ebenfalls gestellt: Die Verstaatlichte wird von beiden Seiten als eine Industrie wie jede andere angesehen, und im übrigen bestehen keine Zweifel darüber, daß Österreichs Wirtschaft modernisiert, gestrafft, teilweise konzentriert werden muß; die Schaffung entsprechender Einrichtungen steht auf dem Programm und in den Konzepten beider Parteien.

Der Versuch, ökonomische Auspizien unter neuer Flagge im vorhinein zu analysieren, mußte weitgehend in einer Bilanzaufnahme enden: nur allzu klar sind die wirtschaftlichen Gegebenheiten und Notwendigkeiten vorgezeichnet, und keine österreichische Regierung, welcher Zusammensetzung auch immer, kann es sich heute leisten, darüber hinwegzugehen. Daß es einer großen Koalition bei entsprechend gutem Willen beider Partner — darf man ihn heute ebenso voraussetzen, wie ihn die Sozialpartner seit Jahren vorexerzieren? — eher gelingen mag, unpopuläre Entscheidungen zu treffen und Maßnahmen zu setzen, die notwendig, aber unangenehm sind, kann außer Streit gestellt werden. Ob sich allerdings im folgenden demokratischen Willensbildungsprozeß die Ökonomen oder die Politiker — auch wenn diese beiden Eigenschaften in einer Person vereinigt sein sollten — durchsetzen werden, wird sich erst herausstellen müssen.

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