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Die Wirtschaftsgeschichte wird wie dereinst unsere Gegenwart dahin charakterisieren, daß in ihr, namentlich auf dem Boden der Industriewirtschaft, die natürlichen Entwicklungstendenzen mit jenen Forderungen um die Oberhand gerungen haben, welche das wirtschaftsstrukturelle Programm der jeweiligen „Internationalen“ bildeten. Kürzlich wurde in Frankfurt die Vierte Internationale gegründet; in der hier formulierten „Prinzipienerklärung des demokratischen Sozialismus“ wurde wohl global auf das Entstehen einer neuen Sozialordnung hingewiesen, ebenso auch auf die wachsende Ausdehnung des Gemeineigentums an Produktionsmitteln; doch wurden lediglich Tatsachen registriert, Wünsche oder Programme wirtschaftsstruktureller Natur jedoch nicht präzisiert. Mit dem „Kommunistischen Manifest“ hat Frankfurt nicht mehr viel zu tun. Jenes war ja nur das erste Ergebnis des Zusammenstoßes der Vergangenheit mit der beginnenden Industrialisierung. Sicherlich gehören die Verdienste des politischen Sozialismus um die materielle Hebung der industriellen Arbeitnehmer in Europa der Geschichte an. — Wo aber ist man mit dem alten Programm geblieben? Niemand anderer als Stalin hat vor Jahresfrist im Rahmen einer Debatte über Sprachstruktur Marx als überholt erklärt: Die soziale Weltrevolution mit dem darauffolgenden Verwelken und Absterben de Staates sei nicht eingetroffen; doch habe die Sowjetrepublik den „Sozialismus in. einem Lande“ neben einer Reihe kapitalistisch gebliebener Staaten verwirklicht; diese Situation aber setze die Beibehaltung eines kraftvollen Staatsapparats voraus. In der Tat ist der heutige Stalinismus eine bewußte und grundsätzliche Negation jeder vom Staatsapparat unabhängigen Einflußnahme auf die Gesellschaft.

Auch die äußerste Rechte des sozialistischen Gedankenfeldes, die „Labour Party“, rückt vom Marxismus ab. Premierminister Attlee ließ erkennen, daß er aus seinem Antagonismus gegen Moskau in eine politische Ablehnung des dialektischen Marxismus hineingetrieben wurde, wenn er Ende September 1950 erklärte: „Wir haben nicht daran gedacht, daß die Gefahr für den Weltfrieden von einem Volke ausgehen werde, das sich sozialistisch nennt. Es gibt keinen größeren Irrtum als die Anwendung dessen, was fm eine bestimmte Epoche geschrieben wurde, auf eine andere.“ Um die gleiche Zeit wurde eine „Prinzipienerklärung des britischen demokratischen Sozialismus“ formuliert, in der die Lenkung und Kontrolle der gesamten ge-

werblichen Wirtschaft gefordert wird. Wer hier Träger entscheidender Funktionen sein soll, wurde nur negativ ausgedrückt; nicht entscheiden sollen Bürokraten oder Managers. Wer aber entscheiden soll, weiß man nicht. Ebenso ist sich auch die Labour Party über die Fortsetzung der Verstaatlichung uneinig, ja selbst mit der Verstaatlichung als solcher ist sie zum großen Teil schon recht unzufrieden. Ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen der britischen und der Frankfurter Prinzipienerklarung ist nicht zu finden.

Und wir in Mitteleuropa? Bei allen politischen Parteien auf Basis der westlichen Demokratie wird zunächst hi-sichtlich der Gesellschaftsentwicklung in Rußland so ziemlich einstimmig abträgliche Kritik laut. Tatsächlich hat ja der russische Staatskapitalismus einen neuen Klassenstaat mit einer kräftigen Sowjetbourgeoisie entstehen lassen, deren Angehörige auf rund 20 Prozent der Gesamtbevölkerung geschätzt werden, neben 2? Prozent an gewerblichen Arbeitern und 53 Prozent an agrarischen Arbeitern. Die Gehälter sind stark abgestuft, die indirekten Steuern in ihrem Ergebnis geringfügig gegenüber der Umsatzsteuer. Die taktischen Folgerungen gegenüber dieser Entwicklung sind in Europa allerdings ziemlich zwiespältig. Von der konservativen Seite wird sie als Beweis dessen angesehen, daß die vertikale Gliederung der Gesellschaft die naturgegebene ist, in welche der Staatsund Gesellschaftsaufbau trotz vorübergehend wirksamer diktatorischer Eingriffe von selbst zurückkehren muß. Auf sozialistischer Seite wird in der Theorie die Verstaatlichung als Übergangsstadium betrachtet. Mit der Vergesellschaftung der Produktionsmittel sei es nicht getan, eine nationalisierte Industrie verkörpere noch keinen Sozialismus; es müsse eine demokratische Verwaltung der ins Gemeineigentum übergegangenen Betriebe Platz greifen und eine Gesellschaft geschaffen werden, die Planung mit Selbstverwaltung verbindet. Planökonomie ohne politische Demokratie bedeute nur die Bildung einer neuen Klassengesellschaft. Nicht Bürokraten, sondern gewählte Vertreter des Volkes müßten die Wirtschaft verwalten. Insbesondere dürfe nicht wie in Rußland eine privilegierte Bourgeoisie freien Proletariern gegenüberstehen.

Soweit die Spekulationen und Programme. Nun aber wiegt ein Gramm Tatsachen mehr a-te eine Tonne Theorien. Wie sieht es also mit den Tatsachen aus? In Österreich ist man bisher in Erkenntnis der weitgehenden Auslandsbedingt-

heit seiner Industrie Experimenten ausgewichen und hält die an sich schon weit vorgetriebene Linie des Betriebsrätegesetzes von 1947. Bekanntlich beruft das Betriebsrätegesetz für Unternehmungen einer bestimmten Größenkategorie gemäß 14 den Betriebsrat als Vertreter der Arbeitnehmer dazu, dem Betriebsinhaber Anregungen zu geben und Vorschläge zu erstatten mit dem Ziele, die Wirtschaftlichkeit und Leistungsfähigkeit des Betriebes zu steigern. Sofern der Betriebsführer den Anregungen des Betriebsrates nicht stattgibt, steht diesem ein Einspruch zu, über den eine staatliche Wirtschaftskommision entscheidet. Nun hat sich in den bisherigen vier Jahren der Wirksamkeit des Betriebsrätegesetzes

kaum ein Fall eines oben zitierten Einspruches ergeben. Das Interesse an Lohnerhöhungen übertönt dasjenige an Struk-turänderungen. Die verstaatlichten Betriebe werden erklärtermaßen nach rein kaufmännischen Grundsätzen geführt. Und auch das wirtschaftsstrukturell bedeutsame Gesetz über die Werksgenossenschaften vom 26. Juli 1946, BGBl. Nr. 169, hat bisher wenig Resonanz in der Praxis gefunden.

Einen kühnen Schritt hat man kürzlich unter Streikdruck in Westdeutschland mit einem Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Unternehmungen des Bergbaues sowie der eisen- und stahlerzeugenden Industrie gemacht. Hier sollen zur Sicherung der betrieblichen

Mitbestimmung der Arbeitnehmer all Kapitalgesellschaften Aufsichtsräte erhalten, die paritätisch aus Vertretern der Unternehmen und der Gewerkschaften zusammengesetzt sind. Hiemit ist zwar eine Berechtigung, nicht aber eine gleichwertige Verantwortung festgelegt. Ob dieser Prestigeerfolg mit der verringerten Kreditfähigkeit der westdeutschen Industrie im Ausland nicht zu teuer erkauft ist, wird sich bald zeigen.

Radikalere Wege, zum Teil aus einem Ressentiment gegenüber Sowjetrußland erklärbar, hat Tito in Jugoslawien beschritten. Er hat hier unter der Parole „Die Fabriken den Arbeitern!“ bei den durchwegs verstaatlichten Unternehmungen Arbeiterräte eingesetzt, denen der Direktor verantwortlich ist und die gewissermaßen als Betriebsparlament nach dem vom Staate (also doch von Bürokraten) erlassenen Richtlinien die Betriebe zu leiten haben: „Vollsozialisie-rung“. Man wird den Erfolg abwarten müssen.

Ein Beweis dafür, daß in der Industriewirtschaft andere als kaufmännische Grundsätze einen besseren Erfolg verbürgen, wurde bisher nicht erbracht. Und doch sind wirtschaftsstrukturelle Reformen aktuell. Die Unzulänglichkeiten in der heutigen Stellung des Arbeitnehmers haben neben der materiellen Seite, der man durch Lohnpolitik beikommt, auch ihre psychologische Seite; dem Persönlichkeitsmoment muß Genugtuung werden. Der Forderung nach sozialer Freiheit, zugleich nach Befreiung vom betrieblichen Totalitarismus, kann nur durch das Bewußtsein, im Betriebe aktiv mitzuwirken, Rechnung getragen werden. Also durch das Recht der Arbeitnehmer auf Information und Fragestellung gegenüber der Betriebsführung, durch das Recht auf Anhörung und auch noch auf Mitberatung; die Grenzen der Mitbestimmung aber sollen, da das Unternehmerrisiko ein unteilbares ist, nicht überschritten werden. Zur Maschineninvestition muß die Persönlichkeitsinvestition

treten, die Aufklärung über den Sinn der einzelnen Arbeitsvorgänge und die Hervorhebung des Wertes der jeweiligen Arbeitsleistung. Dem Betrieb als solchen muß eine Art Psychotherapie zuteil werden aus der Erkenntnis, daß der Mensch, der die Funktion seiner Arbeit überblickt und in ihr alle seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten zur Anwendung bringen kann, zufriedener ist und daher mehr leistet. Dies alles liegt im Interesse der Produktivitätssteigerung, sohin im Interesse der Arbeitnehmer, der Arbeitgeber und der gesamten Volkswirtschaft. Dieses in den USA bis zum Extrem ausgewertete Prinzip sichert ja die wirtschaftliche Überlegenheit der nordameri-■ kanischen Industriewirtschaft. Daß sich der Grundriß diess Systems mit dem Begriffe des christlichen Solidarismus deckt, mag als Symbol gelten. Und vielleicht stehen wir auch am Beginne einer Zeit, in der sich immer breiteren Kreisen die Erkenntnis erschließt, daß die materielle Organisation der menschlichen Arbeit nicht allein das Schicksalsbestimmende ist.

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