Israel

Israel: Kabinett Netanjahu IV liebäugelt mit Vertreibung

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In Israels ultrarechter Regierung wird offen mit einer Vertreibung aller Palästinenser(innen) geliebäugelt, sagt Nahost-Experte Peter Lintl. Im Gespräch mit der FURCHE erklärt er, warum er von „De-facto-Annexionen“ des Westjordanlandes ausgeht, die umstrittene Justizreform in eine illiberale Demokratie führen wird – und weshalb Protestanten laut „Orbibi“ rufen.

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In Israels ultrarechter Regierung wird offen mit einer Vertreibung aller Palästinenser(innen) geliebäugelt, sagt Nahost-Experte Peter Lintl. Im Gespräch mit der FURCHE erklärt er, warum er von „De-facto-Annexionen“ des Westjordanlandes ausgeht, die umstrittene Justizreform in eine illiberale Demokratie führen wird – und weshalb Protestanten laut „Orbibi“ rufen.

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Seit Ende Dezember steht Benjamin Netanjahu der rechtesten und religiösesten Regierung vor, die Israel seit seiner Gründung 1948 erlebt hat. Erstmals sind auch explizit rechtsextreme Politiker beteiligt. Etwa Itamar Ben-Gvir, Vorsitzender der Partei „Jüdische Stärke“.

Weltweit wurden Befürchtungen laut, dass mit Entscheidungsträgern wie ihm das letzte bisschen Hoffnung auf Frieden in Nahost bis auf Weiteres passé sein könnte. Das Kabinett Netanjahu IV will zudem das Justizsystem des Landes gezielt schwächen. Die geplanten Änderungen könnten auch eine Aufhebung des aktuell laufenden Korruptionsprozesses gegen den amtierenden Ministerpräsidenten bewirken. Die Spannungen zwischen Israelis und Palästinensern drohen daher noch weiter zu eskalieren.

Wie wehrhaft der israelische Rechtsstaat noch ist, zeigt sich dieser Tage etwa beim Protest der Milizpiloten, die nicht für eine „Diktatur“ einrücken wollen. Laut Politikwissenschafter Peter Lintl liegt die Zukunft von Israels Demokratie aber auch in den Händen der Zivilgesellschaft. Im Gespräch mit der FURCHE erklärt er zudem, warum er es für gefährlich hält, wenn man den „Likud“ (Netanjahus Konservative) als gemäßigte Kraft beschreibt, und was es bedeutet, wenn Außenminister Eli Cohen rät, „weniger öffentlich“ über israelische Hilfestellungen für die Ukraine zu sprechen.

DIE FURCHE: Benjamin Netanjahu ist zum sechsten Mal Ministerpräsident. Seiner neuen Regierung wird nachgesagt, dass sie die rechteste Regierung in der Geschichte Israels sei. Beobachter sorgen sich um den Zustand des israelischen Rechtsstaats, speziell nach dem Beginn einer umstrittenen Justizreform. Wer sind die Protagonisten dieser Regierung?
Peter Lintl:
Sie setzt sich aus drei Gruppen zusammen: der etablierten Likud-Partei von Netanjahu, die sich in den vergangenen zehn Jahren stark gewandelt hat, von einer nationalliberalen hin zu einer populistischen Partei. Ein Anzeichen dafür ist etwa, dass sich viele ehemalige Likud-Größen mittlerweile von ihr distanzieren. Die zweite Gruppe sind die Charedim, die Ultraorthodoxen, die dritte die extremistischen Parteien Otzma Yehudit und HaTzionut HaDatit um ihre prominenten Vertreter Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich. Ben-Gvir ist Minister für Nationale Sicherheit, Smotrich Finanzminister. Ihre Regierungsbeteiligung ist der Grund für die große internationale Aufmerksamkeit. Die beiden vertreten offen sehr radikale Positionen. So sprechen sie zum Beispiel von einem „Transfer“ der Palästinenser. Gemeint ist damit eine Ausweisung oder Vertreibung.

DIE FURCHE: Was eint diese Regierung?
Lintl:
Ich sehe zwei Momente: einen antiliberalen Impetus, den Anspruch, das Kollektiv stärker zu gewichten als individuelle Rechte. Daraus erklären sich auch die Angriffe auf das Oberste Gericht und die weitreichende Justizreform, die bereits im Gang ist. Und dann ist da die Tatsache, dass fast alle Mitglieder der Regierung der Auffassung sind, dass das Westjordanland unter keinen Umständen abgetreten werden darf. Keine Konzessionen. Netanjahu weiß, dass eine Annexion derzeit nicht möglich ist. Er will sie wahrscheinlich auch nicht. Denkbar aber ist, dass es zu De-facto-Annexionen kommt, also Eingliederungen von Territorium, die nicht verkündet werden.

Ich sehe einen antiliberalen Impetus, den Anspruch, Kollektive stärker zu gewichten als individuelle Rechte.

DIE FURCHE: Viele Kritiker(innen) sehen mit der Justizreform das Ende der israelischen Demokratie kommen. Ist das gerechtfertigt? Immerhin warnten Kommentatoren gerade in Europa in der Vergangenheit bereits vor Gefahren für den Rechtsstaat, wenn rechte Parteien Mehrheiten in Jerusalem gewinnen konnten. Israel aber hat sich immer wieder als stabile Demokratie erwiesen.
Lintl:
In der Tat, das Ende der israelischen Demokratie wurde schon oft beschworen. Bereits 1977, als die konservative Likud-Partei gewählt wurde, warnte die Opposition, dass es nun mit europäischen Standards der Demokratie zu Ende gehe. Auch gibt es mitunter ideologisch geprägte Beschreibungen, die Israel absprechen wollen, eine Demokratie zu sein, um den Staat zu delegitimieren.
Jetzt haben wir es aber mit einer anderen Situation zu tun: Die sogenannte Justizreform der israelischen Regierung zielt deutlich auf einen Regimewechsel ab, weg von Grundprinzipien einer liberalen Demokratie, hin zu einer illiberalen oder majoritären Demokratie.

DIE FURCHE: Was sind die Eckpunkte dieser Reform?
Lintl:
Es gibt sehr viele Teilaspekte, aber drei Elemente sind zentral: Erstens sieht die Justizreform vor, dass Richter am Obersten Gerichtshof in Zukunft mit Regierungsmehrheit gewählt werden sollen. Das heißt, Richter müssen nicht mehr überparteilich sein. Zweitens soll es dem Parlament mit einer Überstimmungsklausel ermöglicht werden, Urteile des Obersten Gerichtshofs in bestimmten Sachfragen, aber auch in seinem Normenkontrollrecht zu überstimmen. Drittens sollen die Grundlagen der Rechtsprechung des Gerichtshofs drastisch verknappt werden, um so den Interpretationsspielraum einzuengen. So soll etwa das Rechtsprinzip der Angemessenheit komplett gestrichen werden.

DIE FURCHE: Stichwort „illiberal“: Dieser Begriff taucht seit Jahren in der Analyse zum Systemumbau in den EU-Mitgliedsländern Ungarn und Polen auf. Während der Proteste gegen die neue Regierung in Israel wurden auch Plakate hochgehalten, auf denen „Orbibi“ zu lesen war. Es ist ein Vergleich von „Bibi“ Netanjahu mit dem ungarischen Regierungschef Viktor Orbán. Hat die israelische Regierung tatsächlich den Anspruch, den Staat à la Orbán dergestalt umzubauen?
Lintl
: Natürlich gibt es gewisse Unterschiede zwischen Ungarn, Polen und Israel. Aber gemein ist ihnen definitiv dieser antiliberale Impetus, der im Wesentlichen bedeutet, dass die Kontrollfunktion des Parlaments durch den Obersten Gerichtshof ausgehebelt werden soll. In Ungarn geht das ja auch noch weiter und bezieht sich etwa auf die Medienlandschaft oder die Universitäten. Ein entscheidender Unterschied ist aber die in Israel existente freie, selbstbewusste und kritische Zivilgesellschaft, die man gerade lautstark in den Demonstrationen sehen kann. Diese wird eine entscheidende Rolle bei der Frage spielen, ob die Regierung die Reformen durchziehen kann.
Aber auch internationale Kritik, insbesondere von Verbündeten, ist wichtig: Vor allem die USA betonen derzeit sehr offen, dass das gemeinsame Wertefundament auf Demokratie gebaut ist und sie diese in Israel in Gefahr sehen. Gerade erst waren mehrere US-Repräsentanten, unter anderem Außenminister Blinken, in Israel.

Wenn jemand über sich selbst sagt, er sei rechts, dann ist diese Person in der Regel gegen eine Zweistaatenlösung. 2022 bezeichneten sich 62 Prozent der jüdischen Israelis als rechts.

DIE FURCHE: In den vergangenen Wochen haben wir mehrere Terroranschläge durch Palästinenser, aber auch Übergriffe durch Siedler gesehen. Wie würden Sie die neue Gewaltphase in Israel und den palästinensischen Gebieten einordnen?
Lintl:
Es ist eine extrem sensible Phase. Vieles deutet darauf hin, dass die Lage eskalieren wird – was ja zum Teil bereits geschehen ist. Wir haben auf beiden Seiten Akteure, die ganz offensichtlich Interesse an einer gewalttätigen Eskalation haben. Noch schlimmer wiegt aber, dass es keinerlei Vision gibt, wie man den Konflikt am Verhandlungstisch beilegen kann. Die letzten Friedensverhandlungen fanden 2014 statt. Solange das so bleibt, wird die Gewalt nicht zu beenden sein. Entsprechend haben auf beiden Seiten diejenigen dazugewonnen, die den Konflikt einseitig für sich entscheiden wollen.
Es gibt aber natürlich einen großen Unterschied, der in der Machtasymmetrie des Konflikts zu finden ist: Die Palästinenser wären dazu sicher nicht in der Lage, die Israelis schon eher. Besonders bedenklich ist dabei, dass man mit Smotrich und Ben-Gvir Politiker hat, die „Lösungsvorschläge“ für den Konflikt entworfen haben, in denen ein zentraler Baustein der „Transfer“, also wohl die Vertreibung fast aller Palästinenser, auch der in Israel lebenden, ist.

DIE FURCHE: Das sind radikale Aussagen, konkrete Politik ist das noch nicht. Der Likud von Netanjahu dürfte vieles anders sehen.
Lintl:
Diese Unterscheidung zwischen dem Likud als dem moderaten Teil gegenüber den radikalen Teilen der Regierung kann man immer wieder in deutschsprachigen Medien lesen. Sie ist natürlich nicht völlig falsch: Der Likud fordert keinen „Bevölkerungstransfer“. Aber man muss hier auch etwas aufpassen, denn auch der Likud hat eine Radikalisierung erfahren. Alle Politiker sprechen sich mittlerweile mindestens für Teilannexionen des Westjordanlandes aus, und viele haben in den letzten zehn Jahren entsprechende Pläne entwickelt.
Der aktuelle Kulturminister Miki Zohar hat sogar vorgeschlagen, das ganze Westjordanland zu annektieren, aber den Palästinensern keine politischen Rechte zu geben. Das heißt, wenn man in der Berichterstattung einerseits von den Radikalen um Ben-Gvir und Smotrich und den Moderaten im Likud spricht, ist das zwar nicht falsch. Gleichzeitig normalisiert und importiert man dann aber auch den Rechtsruck, den der Likud gemacht hat, weil man quasi sagt: Es gibt ja noch Schlimmere, wir setzen unsere Hoffnungen daher in den Likud.

DIE FURCHE: Dass eine Zweistaatenlösung nicht angestrebt wird, ist kein Alleinstellungsmerkmal der neuen Regierung. Auch für die Vorgängerregierungen, die nicht allesamt ausschließlich von konservativen oder rechten Parteien besetzt wurden, hatte sie keine Priorität mehr. Und auch die Palästinenser streben keine Zweistaatenlösung mehr an …
Lintl:
Das ist richtig. Auch bei den Palästinensern gibt es keine Mehrheit mehr für eine Zweistaatenlösung. Das ist eine Entwicklung, die wir seit dem Beginn der 2000er Jahre sehen. In Israel richtet sich das politische Koordinatensystem von links nach rechts am Konflikt mit den Palästinensern aus. Wenn jemand über sich selbst sagt, er sei rechts, dann ist diese Person in der Regel gegen eine Zweistaatenlösung. Im vergangenen Jahr, also 2022, bezeichneten sich 62 Prozent der jüdischen Israelis als rechts. Das spiegelt sich auch in der Knesset wider. An der aktuellen Regierung ist jedoch etwas Wesentliches anders: Sie vertritt nicht die Haltung, dass eine Zweistaatenlösung unmöglich ist. Sie will nicht, wie ihre Vorgängerregierung, den Konflikt minimieren, sondern ihn gewinnen. Sie will aktiv eine Politik betreiben, die einen Palästinenserstaat ein für alle Mal verhindert.
Eine Siedlerführerin hat das kürzlich in einem Interview so formuliert: Was lange nur eine politische Vision der Rechten war, soll jetzt in der Realität umgesetzt werden.

DIE FURCHE: Aufmerksam zur Kenntnis genommen hat man in Washington auch die Aussagen des neuen israelischen Außenministers Eli Cohen, „weniger öffentlich“ über Russlands Überfall auf die Ukraine zu sprechen. Israel hat den russischen Angriff zwar verurteilt, leistet humanitäre Hilfe, liefert aber keine Waffen an die Ukraine. Was für eine Position wird die neue israelische Regierung in der Frage einnehmen?
Lintl:
Außenminister Cohen hat sich unglücklich geäußert und wurde dafür deutlich aus Washington kritisiert. Cohens Aussagen stehen in Widerspruch dazu, dass sich Israel moralisch klar positioniert hat und durchaus Hilfe leistet, nur eben keine Waffen liefert. Ich war von den Äußerungen des Ministers überrascht. Ich bin davon ausgegangen, dass Netanjahu sich mit Blick auf die Ukraine-Politik dem Westen annähert, um ungestört seine innenpolitischen Reformen umsetzen zu können. Vielleicht kommt das aber auch noch. Es wäre eine Möglichkeit, auf die USA zuzugehen und etwas Druck aus den angespannten Beziehungen zu nehmen.

Lintl

Peter Lintl

Der Politikwissenschafter und Nahost-Experte leitet in der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ (einer unabhängigen Einrichtung in Berlin) das Projekt „Israel in einem konfliktreichen regionalen und globalen Umfeld: Innere Entwicklungen, Sicherheitspolitik und Außenbeziehungen.“.

Der Politikwissenschafter und Nahost-Experte leitet in der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ (einer unabhängigen Einrichtung in Berlin) das Projekt „Israel in einem konfliktreichen regionalen und globalen Umfeld: Innere Entwicklungen, Sicherheitspolitik und Außenbeziehungen.“.

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