Israel Kandidaten - © Fotos: APA / AFP / Pool / Abir Sulta; A / AFP / Pool / Gil Cohen-Magen; PA/AF

Israel wählt: Jair, Benny oder doch wieder Bibi?

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Ob die kommende Wahl zur Knesset stabilere Verhältnisse als bisher mit sich bringt, ist völlig offen. Eine Analyse aus dem Inneren einer blockierten Demokratie.

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Ob die kommende Wahl zur Knesset stabilere Verhältnisse als bisher mit sich bringt, ist völlig offen. Eine Analyse aus dem Inneren einer blockierten Demokratie.

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Ein Jahr und eine Woche hatte das gesellschaftlich und politisch womöglich interessanteste Experiment in der westlichen Welt angehalten, dann warfen die beiden Verantwortlichen das Handtuch. Im vergangenen Juni sahen Israels Regierungschef Naftali Bennett und sein „alternierender“ Ministerpräsident Jair Lapid keinen vernünftigen Weg mehr, mit ihrer acht-Parteien-Koalition effektiv weiterzuregieren. Sie riefen Neuwahlen aus. Ihre Regierung wird aber trotzdem in die Geschichte eingehen: Allein schon ihre Existenz markierte eine Zäsur, veranlasste sie doch ideologisch völlig unterschiedliche Gruppierungen zur pragmatischen Zusammenarbeit, was bis dahin kaum jemand für möglich gehalten hätte.

Gespalten in zwei Blöcke

Am 1. November steht nun, innerhalb von weniger als vier Jahren, die fünfte Neuwahl an. Und es bleibt fraglich, ob es die letzte in nächster Zeit sein wird. Denn nach wie vor ist die politische Landschaft in zwei Blöcke gespalten, in ein Pro-Benjamin Netanjahu und ein Anti-Netanjahu-Lager. Keine Seite kann entlang dieser Bruchlinie auf eine klare Mehrheit zählen. Die Umfragen sagen ein Kopf-an-Kopf-Rennen voraus, zu schauen. Man kennt die Kandidaten: Jair Lapid, der als geschäftsführender Regierungschef amtiert und der Zukunftspartei vorsitzt, Verteidigungsminister Benny Gantz, der diesmal als Kandidat des neu gegründeten Parteienzusammenschlusses „Nationale Einheit“ antritt und der frühere Ministerpräsident und heutige Oppositionschef Benjamit einem leichten Vorsprung fürs rechte Pro-Netanjahu-Lager.

Wer nicht wüsste, dass gerade schon wieder Wahlkampf ist, würde es wohl kaum merken. Auf den Straßen hängen nur wenige Plakate. Der Schlagabtausch findet vornehmlich in den sozialen Medien statt, auf Facebook, Instagram und TikTok. In die Programme der Parteien braucht niemand zu schauen. Man kennt die Kandidaten: Jair Lapid, der als geschäftsführender Regierungschef amtiert und der Zukunftspartei vorsitzt, Verteidigungsminister Benny Gantz, der diesmal als Kandidat des neu gegründeten Parteienzusammenschlusses „Nationale Einheit“ antritt und der frühere Ministerpräsident und heutige Oppositionschef Benjamit einem leichten Vorsprung fürs rechte Pro-Netanjahu-Lager.

Wer nicht wüsste, dass gerade schon wieder Wahlkampf ist, würde es wohl kaum merken. Auf den Straßen hängen nur wenige Plakate. Der Schlagabtausch findet vornehmlich in den sozialen Medien statt, auf Facebook, Instagram und TikTok. In die Programme der Parteien braucht niemand min „Bibi“ Netanjahu, der sich wegen Korruptionsvorwürfen vor Gericht verantworten muss.

Würde Netanjahu als Likud-Chef abtreten, stünde einer Koalition nichts im Weg. Doch bislang hat man ihm nicht die Tür gewiesen.

Letzterer ist in einem Paradox gefangen. Solange er da ist, werden sich viele weiterhin einer Koalition mit seiner konservativen Likud-Partei verweigern. Das könnte bedeuten, dass Netanjahu – wie schon in der Vergangenheit – auch bei seinem nächsten Regierungsbildungsversuch erneut scheitern könnte. Würde er hingegen abtreten und den Vorsitz des Likud einem oder einer anderen überlassen, stünde einer die beiden Blöcke überschreitenden breiten Koalition nichts im Weg. Bisher haben seine Parteifreunde ihm auch nach dem vierten misslungenen Versuch, eine Koalition zu bilden, nicht die Tür gewiesen.

Netanjahu hat nichts zu verlieren. Außerdem kann er sich auf seine anhaltende Popularität berufen. Kein anderer Kandidat kann dem Likud so viele Stimmen verschaffen. Mit über dreißig Sitzen (von 120) stellt er die größte Partei, Lapid kommt auf höchstens 24 Sitze und Gantz auf nur zwölf. Um wieder an die Macht zu gelangen, scheut sich Netanjahu auch nicht vor einer Allianz mit dem rechtsextremen Bündnis „Religiöser Zionismus“, sollte ihm das eine Mehrheit verschaffen. Das Bündnis könnte mit bis zu 14 Sitzen zur drittstärksten Partei werden.

In einem Land, das sich von Wahlkampf zu Wahlkampf durchhangelt, bleibt die Kraft der Regierenden zur langfristigen Lösung von Problemen eingeschränkt

Besonders umstritten ist dabei der Rechtsanwalt Itamar Ben-Gvir, der bis vor Kurzem noch ein Bild von Baruch Goldstein in seinem Wohnzimmer hängen hatte und sich jetzt geläutert gibt. Goldstein war 1994 mit einer Schusswaffe in eine Moschee in Hebron eingedrungen und hatte 28 Betende erschossen. Vor allem junge Israelis und Soldaten, die zum ersten Mal wählen, Protestwähler und solche, die eigentlich gar nicht mehr wählen wollten, wollen Ben-Gvir und seinem Parteikollegen Bezalel Smotrich ihre Stimme geben. Netanjahu hat selbst für deren Erfolg gesorgt: Er wollte sicherstellen, dass keine Stimmen auf der Rechten verloren gehen und hat die beiden Politiker zum Bündnis überredet. Dass deren Anhängerschaft aber so stark anwachsen und auch Likud-Wähler mit einschließen würde, damit hat Netanjahu vermutlich nicht gerechnet.

Theoretisch ist alles möglich

Eine Regierung des Netanjahu-Blocks unter Einschluss der extrem Rechten, fürchten viele, hätte das Potenzial zu einem grundsätzlichen Wandel im Hinblick auf die demokratischen Grundfesten des Landes. Die Autorität des Obersten Gerichtshofs, die Gewaltenteilung und auch die Strafverfolgung des Regierungschefs könnten in Frage gestellt werden. „Weil es keine Verfassung gibt, bräuchte es für solche gesetzliche Änderungen nur 61 Stimmen in der Knesset“, sagt Amir Fuchs vom Israel Democracy Institute. Theoretisch sei alles möglich.

Netanjahu aber könnte die Aussicht auf eine solche Koalition auch als Droh-Argument nutzen, um seine Gegner doch noch zu überzeugen, ihren Widerstand gegen eine Regierung mit seiner Beteiligung aufzugeben. Schon vor einem Monat hat sich Präsident Herzog angeboten, nach der Wahl die „Ärmel hochzukrempeln, und für die Bildung einer großen Koalition zu sorgen“, weil das Land Stabilität brauche.

Von einer solchen „Einheitsregierung“ will im Anti-Netanjahu-Lager aber derzeit niemand etwas hören. Benny Gantz hat sich schon einmal, 2019, auf eine solche Notstandsregierung mit Netanjahu eingelassen – und es bereut. Ein zweites Mal werden die Wähler es Gantz nicht mehr nachsehen, sollte er sich – entgegen seinem Versprechen – erneut mit Netanjahu einlassen. Nicht auszuschließen, wenn auch eher unwahrscheinlich, ist noch die Möglichkeit, dass das Ultraorthodoxe Lager (siehe rechts), das traditionell dem Netanjahu-Block angehört, diesmal zu einer Koalition unter Benny Gantz wechselt.

Da ein knappes Rennen ansteht, könnten verlorene Stimmen für Parteien, die es nicht über die 3,25 Prozent Hürde schaffen, entscheidend sein. Hoffnungen setzt das Lager, das eine Wiederwahl Netanjahus verhindern will, auf die Stimmen der arabisch-israelischen Wähler, die mehr als zwanzig Prozent der Bevölkerung stellen. Die Besonderheit an der vergangenen Regierung war die historische Beteiligung einer arabischen Partei unter Vorsitz von Mansour Abbas, die „Vereinigte Arabische Liste“. Doch droht die Wahlbeteiligung in dem arabischen Sektor gering auszufallen.

Die historische Einigung Israels mit dem Libanon könnte die Gefahr eines weiteren Krieges verkleinern. Doch Netanjahu unterstellt Lapid eine ,historische Kapitulation‘.

Wie immer die Wahlen ausgehen: Die nächste Regierung – sollte eine solche zustande kommen – wird vor großen Herausforderungen stehen. Gibt es erneut nur eine knappe Mehrheit, werden Fragen nach politischer Legitimität dabei ebenso eine Rolle spielen wie die Sorge um den Zusammenhalt einer zunehmend fragmentierten Gesellschaft. In einem Land, das sich von Wahlkampf zu Wahlkampf durchhangelt, bleibt zudem die Entscheidungskraft der Regierenden zu stark eingeschränkt, um notwendige langfristige Antworten auf Probleme zu finden.

Wie schwierig sich die Arbeit gestalten kann, zeigt die jüngste Einigung mit dem Libanon, die nach Jahren amerikanischer Vermittlung erreicht wurde. Obwohl beide Staaten sich nach wie vor offiziell im Kriegszustand befinden, ist es ihnen gelungen, einen langjährigen Streit über die Erschließung von Erdgasvorkommen im Mittelmeer beizulegen und eine gemeinsame Seegrenze zu bestimmen. Das Abkommen ist zwar weit entfernt von einem Friedensvertrag, schließlich vermeidet der Libanon beflissen jeden Kontakt mit Israel.

Aber es könnte die Gefahr eines weiteren Krieges mit der dort vom Iran unterstützten Hisbollah verkleinern, der seit Jahren als Wolke der Bedrohung über der Region schwebt. Im Wahlkampf hat Netanjahu nun das Thema für sich neu entdeckt, obwohl auch er schon als Regierungschef darüber verhandelte. Er unterstellte Lapid eine „historische Kapitulation“ und lehnte das Abkommen sowie das Prozedere dorthin ab, weil die Entscheidungsträger ja nur einer Interimsregierung angehörten.

Kommt es am 1. November erneut zu keinem klaren Ergebnis, könnte die politische Prekarität andauern. Die sechsten Neuwahlen stünden dann an. Allerdings mit einem Unterschied zu den vorhergegangenen: Denn diesmal wird Jair Lapid als Interimsregierungschef die Geschäfte leiten.

Die Autorin ist Journalistin, Sozialwissenschafterin und Professorin am DAAD Center for German Studies sowie am European Forum der Hebräischen Universität Jerusalem.

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