Tabuthema: Sexueller Missbrauch - Ein Zeitungsartikel deckte einen Charedim-Kinderbuchautor als Missbrauchstäter von Frauen, Mädchen und Buben auf – seither brechen die Dämme des Schweigens in den ultraorthodoxen Gemeinden. - © Imago / BE&W

Israels Ultraorthodoxe: „Das Zeitalter der Unschuld ist vorbei“

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Israels Ultraorthodoxe sind ein „Staat im Staat“ mit vielen Tabus. Nach Aufdeckung sexueller Gewalt von Charedim-Promis bricht aber das Schweigen über diesen Machtmissbrauch, und die religiösen Führer kommen unter Druck.

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Israels Ultraorthodoxe sind ein „Staat im Staat“ mit vielen Tabus. Nach Aufdeckung sexueller Gewalt von Charedim-Promis bricht aber das Schweigen über diesen Machtmissbrauch, und die religiösen Führer kommen unter Druck.

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Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, war sexueller Missbrauch in Israels ultraorthodoxen Gemeinden bis vor Kurzem schlichtweg kein Thema. Bis ein weit über die Grenzen Israels hinaus bekanntes Sprachrohr ultraorthodoxer Erziehung jahrzehntelanger Misshandlungen vieler Frauen und Kinder angeklagt wurde. Der Fall des Kinderbuch- Bestsellerautors und Therapeuten Chaim Walder habe „ein echtes Bewusstsein für das Problem“ ausgelöst, sagt Jair Ettinger, der als Religionsjournalist und Charedim-Experte am Israel Democracy Institute arbeitet, in einem Agenturbericht von Agence France Presse (AFP).

1,2 Millionen Charedim, wie die Ultraorthodoxen auch genannt werden, leben in Israel. Sie stellen 13 Prozent der Bevölkerung, leben in eigenen Vierteln, pflegen ihre eigene Rechtssprechung, betreiben eigene Schulen, haben eigene Medien und ihre eigenen politischen Vertreter. Ein von der Mehrheitsgesellschaft einmal lauter, einmal leiser kritisierter „Staat im Staat“. Doch der Einfluss der religiösen Oberhäupter der Charedim ist auch ein politischer Machtfaktor in Israel.

Obwohl vom Großteil des Rabbiner-Establishments die Missbrauchsfälle noch immer geleugnet oder totgeschwiegen werden, spricht Ettinger von einer Zeitenwende: „Das Zeitalter der Unschuld ist vorbei.“ Großen Anteil daran hat Avigajil Heilbronn und die von der IT-Fachfrau gestartete Facebook-Gruppe „Lo Tishtok“ – „Du sollst nicht schweigen“. Der Aufruf richtet sich an Mitglieder ultraorthodoxer Gemeinden, die Opfer sexuellen Missbrauchs sind oder von Missbrauchsfällen wissen.

„Er sagte, er sei Gott!“

Bis vor wenigen Jahren lebte die Mittdreißigerin Heilbronn selbst als Charedim. Doch ihr Engagement gegen Missstände entfremdete sie von der Gemeinschaft. Sie ließ sich scheiden, zog mit ihren zwei Kindern in ein säkulares Umfeld; im AFP-Bericht bezeichnet sie sich als „modern orthodox“. Die Vorwürfe gegen Chaim Walder seien ein „außerordentlicher Schlag“ für das Selbstverständnis der Ultraorthodoxen gewesen, sagt Heilbronn: „Wenn sogar eine kulturelle Ikone wie Walder ein Raubtier sein kann, müssen sich die Charedim fragen, wem sie noch vertrauen dürfen.“

Den Stein für diesen Umbruch ins Rollen brachte ein im November des Vorjahrs erschienener Artikel in der israelischen Tageszeitung Haaretz mit der Schlagzeile: „Der gefeierte israelische Autor Chaim Walder wird beschuldigt, ultraorthodoxe Mädchen sexuell missbraucht zu haben.“ Walder soll über Jahre hinweg seine Autorität ausgenützt und junge Frauen und Kinder, Mädchen wie Buben, die zu ihm in Therapie kamen, missbraucht haben. „Er sagte, er sei Gott – in diesen Worten“, wird eine Frau im Haaretz-Artikel zitiert. Walder bestritt alle Vorwürfe. Nach Anhörung von 22 Opfern bestätigte aber ein Rabbiner-Gericht den Missbrauch; die israelische Polizei wurde eingeschaltet, am Tag darauf beging Walder Suizid.

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