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Italien kampft auf allen Wanden

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Der in diesen Vorsommerwochen entbrannte italienische Wahlkampf kennt keinen Pardon — zumindest nicht für selbst den kleinsten noch freien Flecken Mauer, der irgendein Plakat oder Symbol der wahlwerbenden Gruppen, und es sind ihrer nicht wenige, tragen könnten. Ob auf den Wänden venezianischer Palazzi oder auf Mauern neben Orangengärten im Süden, überall sind Nacht für Nacht flinke Trupps an der Arbeit, prangen am Morgen eng neben- und übereinander die Affichen der verschiedenen Parteien. Und immer wieder müssen in Rom am hellen Tag Angestellte der Stadt jene Plakate herunterspritzen, mit denen eifrige Plakatierer selbst die Pylonen der zum Dom von Sankt Peter führenden Via de la Conciliazone „schmückten“. Sonst aber kapituliert alles vor den Scharen mit dem Pinsel und Kleistertopf. Zu ihren Requisiten kommt noch als italienische Spezialität eine Leiter, denn der Plakatkrieg wird hier bis in die Höhe des ersten Stockes ausgetragen. So gibt es bereits heute, wo der Wahlkampf noch gar nicht seinen Siedepunkt erreicht hat, Straßen, die bis in halbe Höhe buchstäblich „tapeziert“ sind.

Wie friedlich sind doch, selbst in nach unserem Maßstab aufgeregten Wochen die österreichischen Plakatkrieger! Sie schicken ein oder zwei Standardplakate aus, die — wenn es gut geht — nach acht oder vierzehn Tagen abgelöst werden. Den Rest besorgt die Ge-wista, natürlich zu ihren üblichen Terminen. So einfach hat man es nicht südlich der Alpen. Hier muß der Wähler jeden Tag neu angesprochen werden. Plakate, die über 24 Stunden an den Wänden kleben, sind Makulatur und nicht mehr wert als eine Zeitung von vorgestern. Millionen Lire kleben daher be-. reits schon heute an den Fassaden, Millionen Lire werden ihnen noch bis zum 7. Juni folgen.

Die erste große Welle der Propagandaoffensive aller Lager dient dazu, die Symbole der einzelnen Parteien, die auch der offizielle italienische Wahlzettel zeigen wird, den Wählern so deutlich ins Gedächtnis einzuprägen, daß sie am Tage der Entscheidung ihr Ja daruntersetzen. Ueberall taucht der „Libertas“-Schild der Democristiani auf und im Norden des Landes nicht seltener die rote Fahne mit Hammer und Sichel. In den Dörfern und kleinen Städten an der Küstenstraße südlich von Neapel gibt hingegen der Monarchistenführer Achille Lauro mit seiner Parole „Stella e Corona“ (Stern und Krone) den Ton an. Gar nicht so selten züngelt auch da und dort die rot-weiß-grüne Flamme des „Movemento Sociale Italiano“ empor und der umsichtige Capo eines MSI-Propagandatrupps klärt den deutschsprechenden Fremden gerne freimütig auf: „Partito fascista.“ Er glaubt anscheinend mit dieser offenherzigen Auskunft ihm eine besondere Freude zu bereiten... Auch die mit der Democrazia cristiana gemeinsam marschierenden Gruppen zeigen, freilich etwas spärlicher als die großen Parteien, ihre Flaggen. Die Liberalen ihre mit PLI (Partito Liberale Italiano) geschmückte Trikolore, die Republikaner ein Efeublatt und Saragats demokratische Sozialisten eine leuchtende über dem Meer aufgehende Sonne. Die Linkssozialisten unter Nennis Führung operieren diesmal selbständiger als 1948. Sie haben keine starre Listenverbindung wie damals, als sie im Zeichen des Garibaldikopfes offen vor aller Welt mit der KPI in die Wahlschlacht gingen. Allein, ihr diesmaliges Symbol: ebenfalls eine aufgehende Sonne, allerdings verunziert durch Hammer und Sichel sowie ein aufgeschlagenes Buch — Köder für die Linksintellektuellen — spricht eine eindeutige Sprache. Ganz zu schweigen von den verschiedenen sozialistischen Splittergruppen, wie „radikalen“ und „unabhängigen“ Sozialisten, deren spärlich auftauchende Symbole das Fehlen einer starken demokratischen sozialistischen Kraft auf der Apeninnenhalbinsel verraten.

Waren einmal die Symbole bildhaft eingeprägt, ging es erst richtig los. Die kommunistischen Plakate sind verhältnismäßig leicht zu erkennen. Sie zeigen zumeist den Einheitsstil des „sozialistischen Realismus“: das sind zukunftsfrohe Gesichter, entschlossen geballte Fäuste, angespannte Muskel sowie Variationen mit und über Picassos Taube. Aus diesem Schema brechen nur einige heraus, die von der Beweglichkeit und Phantasie italienischer Plakatzeichner Auskunft geben. In grellen Farben springt einen anscheinend das neueste Hollywoodplakat eines Gangsterfilmes an. Erst wer näher hinschaut erkennt, daß die Gesichtsvermummung des flüchtenden Kassenräubers ein Wimpel der DC ist. Ein anderes: vorsichtig meiden die Füße eines Mannes eine aufgestellte Fuchsfalle, die ebenfalls mit dem christlichdemokratischen Symbol geschmückt ist. Und der kartenspielende De-Gasperi-Mann, der noch drei Karten im Blatt hat, Liberale, Saragat-Sozialisten und Republikaner, zeigt eine Taktik aus dem kommunistischen Konzept auf. Auf der gleichen Linie liegt der Appell der Nenni-Leute „Wer Sara-gat wählt, wählt Degasperi“, der uns in der österreichischen Variation „Wer Schärf wählt, wählt Figl“ noch in Erinnerung ist und auf italienisch beantwortet wurde: „Wer Nenni wählt, stärkt Lauro-Reaktion“. Ein noch treffsicherer Schlag gegen den italienischen Linkssozialismus sind Plakate, auf denen aus einem mit den Stimmen der PSI gefüllten Trog sich große hammer- und sichelgeschmückte Schweine mästen. Deutlicher geht es nicht mehr...

Das MSI schmiedet aus der Stellung Triests und aus nationalen Ressentiments seine Waffen. Ein dekorierter Frontsoldat weist auf eine gedemütigt zu Boden blickende trauernde Frau: Triest. Und von anderen Plakaten hallt der Schlachtruf: „Italia, Italia, Italia!“ Der auf einem Bein vorbeihumpelnde Kriegsversehrte wiederholt ihn halblaut. Seine Stimme klingt eher bitter als begeistert...

Von den Parteien der Mitte zehren die Liberalen anscheinend viel von ihren großen Tagen vor 1914. Ansonsten wäre es kaum zu verstehen, warum sie auf eines ihrer Plakate das mehr monumentale als ästhetisch schöne Viktor-Emanuel-II.-Denkmal, das schon mehr als einen Bewunderer Roms erschreckte, gesetzt haben. Die Democristiani parieren nicht nur die von links und rechts hauptsächlich gegen sie gerichteten Spitzen, sie nehmen den Kampf gegen beide Fronten ebenso entschlossen wie temperamentvoll auf, was ihr Ansehen als grundsatztreue Vormacht demokratischer Freiheiten gegen jede totalitäre Bestrebung nur stärkt. Es war eine böse Ueber-raschung für die italienischen Kommunisten, als sie eines Morgens in allen großen Städten von den Wänden ihre Flagge an einem Galgen statt einer Fahnenstange befestigt sahen. Und auch die „Missini“ dürften nicht sonderlich über ein Plakat begeistert sein, das eine große, auf klobigen Knütteln statt Beinen sich drohend nähernde Rizinusölflasche (Erinnerung an faschistische Terrorakte) zeigte, aus deren Hals die MSI-Flamme züngelt. „Ricordate!“ beschwört kurz darauf ein zweites Plakat die Bürger. Die kleine harmlose Flamme wächst auf ihm weiter zum Feuerbrand einer von der Kriegsfurie heimgesuchten Stadt. Fasciobeil und Manipel der Schwarzhemden umrahmen dieses düstere Bild. Wer aber diese „Feindpropaganda“ nicht hört, hören will, dem künden Balkenlettern mit faksimilierter Unterschrift ein Mussolini-Zitat: „Es wird keinen zweiten Faschismus geben!“ Auch die Bürgerkomitees der Katholischen Aktion sind wieder am Werke. Ihr Kampf gilt der Wahlenthaltung. Ein düsterer Zug von Menschen, die Tafeln mit der Inschrift tragen: „Ich habe nicht gewählt!“ und „Ich habe falsch gewählt!“ zieht hoffnungslos auf einer Straße, die in die Sklaverei führt. Und niemand kann Roma-Termini betreten, ohne in riesigen Balkenlettern die Mahnung zu lesen: „Versäumen Sie am 7. Juni nicht den Zug! Wählen Sie!“

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