Italiens imperfektes Chaos nach der Wahl

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Was die gegnerischen Lager von Anfang bis Ende der Ersten Republik einte, blieb ein starker antifaschistischer Affekt, wenngleich verschiedener Provenienz.

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Was die gegnerischen Lager von Anfang bis Ende der Ersten Republik einte, blieb ein starker antifaschistischer Affekt, wenngleich verschiedener Provenienz.

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Ist das Chaos tatsächlich perfekt? Das Ergebnis der aktuellen italienischen Wahlen - eine Mehrheit für Mitte-Rechts, ein gutes Drittel für eine rechts wie links blinkende populistische Bewegung, eine Minderheit für Mitte-Links - ist eigentlich nicht europäische Ausnahme, sondern Regel. Doch blicken wir genauer auf die Konstellation, erscheint jeder der genannten Blöcke - im Gegensatz zu anderen Staaten der Union - in sich nicht nur gespalten, sondern auch verkehrt!

Gespalten, weil sich Centrodestra wie Centrosinistra (Mitte-Rechts bzw. -Links) jeweils aus mehr als einer Partei zusammensetzen und sich das Movimento Cinque Stelle (Fünf-Sterne-Bewegung) keineswegs durchgängig einig ist, mit wem es zur Bedienung seiner Klientelen rechts (Europaskepsis) und links (Basislohn) letztlich koalieren will: entweder konventionell, mit Mitte-Rechts bzw. Mitte-Links, oder, spannender, mit Teilen davon.

Umkehrung der Verhältnisse

Verkehrt einerseits bei Mitte-Rechts, weil sich die Gewichtungen umdrehen. Hatte bisher Silvio Berlusconis gegründete Forza Italia (ein aus dem italienischen Fußball von den Tifosi übernommener Begriff) eher Ton als Takt angegeben, übernimmt nun erstmals die rabiate Lega (Liga) die Führung. Den Dritten im Bund stellen die Fratelli d'Italia (eine aus der italienischen Hymne zitierte Bezeichnung).

Verkehrt andererseits bei Mitte-Links, weil das Monopol der auf Vermittlung Romano Prodis aus linken Christdemokraten und Postkommunisten entstandenen Demokratischen Partei, die sich auf europäischer Ebene der sozialdemokratisch bezeichneten Fraktion der Socialists & Democrats anschloss, in Frage steht. Bei den Wahlen verlor Mitte-Links als Block unter der Führung der "Dem" nicht nur gegenüber Mitte-Rechts, sondern auch der Partito Democratico als Partei gegenüber den Cinque Stelle.

Die Umkehrung der Verhältnisse inner- wie außerhalb der Verbünde ist dabei nicht nur politisch, sondern auch historisch beachtlich, wirft sie ihr Licht oder ihren Schatten doch über die in den 1990er-Jahren entwickelte Zweite Republik (eine schon populistische) in die nach dem Weltkrieg entstandene Erste Republik Italiens (eine noch ideologische) und den Zeitraum davor.

Nach 1945 hielt der West-Ost-Konflikt gerade in Italien seine Probe. Denn, weltweit einzigartig für eine Demokratie, erzielte hier der Partito Comunista enorme Erfolge bei Wahlen, und nur unter Einbindung laikaler Parteien gelang es seinem legendären Gegenpart, der Democrazia Cristiana, ihm Paroli zu bieten. Als die Christdemokraten und Kommunisten schließlich über den "compromesso storico" (historischen Kompromiss) miteinander zur Bildung einer Großen Koalition zu verhandeln begannen, setzten die "anni di piombo"(Jahre des Bleis) durch die "Brigate Rosse" (Rote Brigaden) ein und gipfelten in der Ermordung des linken Christdemokraten Aldo Moro (1978). Mit dem Ableben des Eurokommunisten Enrico Berlinguer, wenig später, endete das Experiment ebenso unvollkommen, wie es verheißungsvoll begonnen hatte.

Christdemokratie statt Volkspartei

Um das Ausmaß der heutigen Veränderung umfassend zu begreifen, müssen wir freilich weiter in die Geschichte vordringen und stoßen auf Namen wie De Gasperi oder Gramsci. Aus dem damals österreichischen Trentino stammend, war der eine, Alcide De Gasperi, noch im "cisleithanischen" Reichsrat gesessen, ehe er unter dem Einfluss katholischer Enzykliken einer-und der Person Luigi Sturzos andererseits schon nach dem Ende des kriegerischen Faschismus Italiens den friedlichen Übergang von der Monarchie zur Republik garantierte. Bedeutend ist: Hatte Sturzo (Kleriker in der Zwischenkriegszeit wie Ignaz Seipel in Österreich oder Wilhelm Kaas in Deutschland) nach dem Ersten Weltkrieg für seine Bewegung den Namen "Volkspartei" gewählt (Partito Popolare), griff De Gasperi nach dem Zweiten Weltkrieg auf eine Bezeichnung zurück, die erstmals während der Französischen Revolution verwendet worden war und rund hundert Jahre später Eingang in "Rerum Novarum" (1891) gefunden hatte: "Christdemokratie".

Um in der kirchlichen Terminologie zu verbleiben: Den Charakter eines Märtyrers und Heiligen für Italiens eher radikale denn extreme Linke verkörperte der andere, Antonio Gramsci. Dass er im faschistischen Kerker elendiglich umkam, machte seine Schriften, in denen es wohl mehr um Freiheit als um Gleichheit geht, quasi zur Bibel des italienischen Kommunismus bis zu dessen Ende in den 1990er-Jahren. Das betraf, um in Marx'sche Diktion zu wechseln, nicht nur den Unterbau, sondern auch den Überbau: Keinen anderen als Gramsci wählte ein Pier Paolo Pasolini explizit wie implizit zum Vorbild seiner Kunst. (Umgekehrt fand ein Franco Zeffirelli kein ebensolches Beispiel in der Democrazia Cristiana, zu deren linkem Flügel er, der Widerstandskämpfer, sich zählte.) Was die gegnerischen Lager trotz aller Divergenzen von Anfang bis Ende der Ersten Republik einte, blieb ein starker antifaschistischer Affekt, wenngleich verschiedener Provenienz.

Hier liegt die markante Differenz zum Italien der Zweiten Republik, nachdem die Berliner Mauer, pars pro toto für den Kalten Krieg, gefallen war und sich Democrazia Cristiana und Partito Comunista, ideologisch erodiert, aufgelöst hatten: Koalitionen mehr oder weniger bürgerlicher Parteien wie der neuen Forza Italia mit Postfaschisten waren plötzlich nicht mehr tabu, sondern willkommen. Silvio Berlusconi, Unternehmer und Freimaurer (Mitglied der Loge "Propaganda Due"), hieß der Populist, der eine Brücke seiner Bewegung zur "Alleanza Nazionale" Gianfranco Finis schlug und gemeinsam mit dem Gründer der damaligen Lega Nord, Umberto Bossi, ein Centrodestra formte.

Die zwei Flügel der Linken

Sein Pendant, Romano Prodi, abwechselnd Präsident der EU-Kommission und italienischer Ministerpräsident oder Oppositionsführer, hatte inzwischen viel mehr Mühe, ein gemeinsames Haus des Centrosinistra zu zimmern. Mehr als ein Jahrzehnt benötigten er und andere dazu, ehe es 2007 endlich gelang. Dass sich der Partito Democratico, das Herz des Blocks, jedoch von Anfang an aus zwei Flügeln speiste, einer postkommunistischen Mehrheit (von D'Alema bis Veltroni) sowie einer christdemokratischen Minderheit (von Prodi bis Renzi), trug den Keim jener Spaltung in sich, die schließlich die Niederlage nicht nur der Demokratischen Partei, sondern auch der Zweiten Republik bei den Wahlen vor wenigen Wochen nach sich zog.

Den Schlüssel zur künftigen Entwicklung werden nicht mehr Silvio Berlusconi und Matteo Renzi halten, sondern Matteo Salvini (Lega), Mitte vierzig, und Luigi Di Maio (Stelle), Anfang dreißig. Auch hier lohnt sich ein in den meisten Medien noch nicht angestellter Vergleich: Im Europäischen Parlament sitzt die Partei des einen, weitgehend bekannt, im Verbund des "Europa der Nationen und der Freiheit" (Rechtsextreme und Rechtspopulisten), und jene des anderen, weitgehend unbekannt, zusammen mit der britischen EU-Austrittspartei UKIP.

Vom 19. bis ins 20. Jahrhundert wies Italien immer wieder nicht nur klingende Narrative und große Namen auf, sondern war stets auch ein Spiegel der europäischen Bühne. Es wäre nun -an der Kippe - das erste Mal im 21. Jahrhundert, dass es seinen Anspruch an den Kontinent anders stellt. Das anfangs zitierte Chaos: Es ist tatsächlich im-perfekt. Bel Paese?!

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