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Jean-Claude Juncker: „Ein Skandal, ein Ärger, ein Drama“

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Der ehemalige Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, über das fehlende Kurzzeitgedächtnis der Europäer, seine Momente in Wladimir Putins Privatkapelle und die Abwesenheit von elementarer Nächstenliebe.

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Der ehemalige Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, über das fehlende Kurzzeitgedächtnis der Europäer, seine Momente in Wladimir Putins Privatkapelle und die Abwesenheit von elementarer Nächstenliebe.

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Im 8.Stock des Berlaymont-Gebäudes (Standort der Europäischen Kommission in Brüssel) sitzt Jean Claude Juncker in einem schwarzen Rollkragenpullover an seinem Schreibtisch und blättert in seinem Terminkalender. Vor ihm stapeln sich Dokumente, Notizbücher, ausgedruckte E-Mails. An den Wänden stehen halbvolle Bücherregale. Als hätte er begonnen, sein Büro auszuräumen – und es sich dann doch anders überlegt. Seine Assistentin Jolanthe von Montgelas, die Juncker in Anspielung auf ihre Herkunft „Die bayerische Gräfin“ nennt, führt die Besucherin aus Wien herein. „JCJ“ wie er von vielen bezeichnet wird, steht auf, verbeugt sich, nimmt die Hand, die ihm zum Gruß gereicht wird, und deutet einen Handkuss an.

DIE FURCHE, so erzählt der ehemalige Kommissionspräsident, kenne er schon aus seiner Schulzeit. Im katholischen Internat in Arlon (Belgien), das er besucht hatte, gehörte die Zeitung aus Österreich zur Pflichtlektüre. „Aber so katholisch wie damals sind wir heute nicht mehr. Weder Sie noch ich“, sagt Juncker und lacht laut auf. Dem Österreichischen sei er daher bis heute treu geblieben. Jedes Jahr im Sommer verschlüge es ihn nach Tirol, so der 72-Jährige. Dann wird sein Gesichtsausdruck wieder ernst. Mit „Legen wir los!“ eröffnet er das Interview.

DIE FURCHE: Herr Juncker, wie blicken Sie auf das Jahr 2022 zurück?
Jean- Claude Juncker:
Wenn man sich rückbesinnt, kommt man nicht an dem Überfall der Russen auf die Ukraine vorbei. In meinen Augen war das der Schlüsselmoment des Jahres 2022. Er bedeutete das Ende der europäischen Friedensbekundung. Der 24. Februar hat gezeigt, dass Putin die europäische Friedensordnung ohne Bedenken zerstören will.

DIE FURCHE: Wie erfährt der ehemalige Präsident der Europäischen Kommission von so einem Vorfall? Von wem wurden Sie wie in Kenntnis gesetzt?
Juncker:
Das luxemburgische Außenministerium hatte mich am 24. Februar morgens früh angerufen und mich informiert. Und dann habe ich mir die TV-Nachrichten angesehen und mir erklären lassen, was nicht zu erklären ist. Es war ein Schockerlebnis. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass dieser Krieg nicht stattfinden wird. Ich bin auch persönlich betroffen, weil ich Putin gut kenne. Wir saßen oft in stundenlangen Vieraugengesprächen zusammen – er spricht ja Deutsch –, und es war für mich unvorstellbar, dass er zu diesem Schritt bereit sein könnte. Gleichzeitig wird mir immer mehr bewusst, dass er zunehmend zum Westen auf Distanz gegangen war.

DIE FURCHE: Woran machen Sie das fest?
Juncker:
In unseren Vieraugengesprächen betonte er mit steigender Tendenz, dass ihn der Westen verraten hätte. Alles, was ihm in Aussicht gestellt worden sei, wäre – seiner Ansicht nach – nicht eingetreten. Das lasse ich mal unkommentiert im Raum stehen.

DIE FURCHE: Wie erklären Sie sich diesen Sinneswandel? Sie sagten, Sie kennen Putin.
Juncker:
Ich dachte…

DIE FURCHE: Dennoch hatten Sie zahlreiche Begegnungen mit ihm, können sich ein Bild von ihm als Person machen.
Juncker:
Ich habe ihn eigentlich immer sehr gemocht. Denn er war offen im Gespräch, hat mir auch seine innenpolitischen Probleme erklärt. Er redete auch immer wieder von Versprechungen, die gegenüber Russland gemacht und nicht eingehalten worden wären. Und dass sich die NATO in der früheren Sowjetunion oder den ihr zugeneigten Satellitenstaaten breit macht. Ich habe das natürlich mit einschlägigen dokumentarischen Hinweisen widerlegt. Trotz alledem hatte ich den Eindruck – ich spreche jetzt von der Zeit vor 2016 –, dass er prowestlich wäre.

Und er kam mir friedfertig vor. Ich war einmal bei ihm im Kreml. Ich glaube das war 2005, während des luxemburgischen Ratsvorsitzes. Nach der Sitzung meinte er zu mir: „Komm mal mit mir zu meinen Privatappartements“, inzwischen hatten wir uns geduzt. Und als wir dort ankamen, hat er mich in eine Kapelle, die er im Kreml neben seinem Fitnessraum eingerichtet hat, geführt. Dann knieten wir uns nieder und wurden von einem Popen gesegnet, damit unser Gespräch gut verlaufen möge. Putin meinte, wie gesagt, er ist im Deutschen der Nuancen nicht hundertprozentig mächtig: „Wir lassen uns zuerst kreuzigen.“ Das ist mir so in Erinnerung. Also: Das war ein fast intimer Augenblick. Wir haben uns über sein Privatleben unterhalten, er hat sich sehr bemüht um mich. Man darf das ja heute fast nicht mehr sagen: Aber unser Verhältnis von damals kann man als freundschaftlich bezeichnen. Aber es war so.

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