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Jelzins Schwanengesang hat schon begonnen

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Trotzdem wäre gerade jetzt die politische Präsenz des Präsidenten dringend erforderlich. Auch im Interesse der Stabilität des Landes.

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Trotzdem wäre gerade jetzt die politische Präsenz des Präsidenten dringend erforderlich. Auch im Interesse der Stabilität des Landes.

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Die russischen Bürger haben sich deutlicher als erwartet für die personelle Kontinuität im Kreml entschieden. Die Unwägbarkeit einer national-kommunistischen Kehrtwende mit Gennadi Sjuganow erschien vielen doch zu riskant. Freilich haben die Wahlgänge etliche tiefe Gräben innerhalb der russischen Gesellschaft hinterlassen. Als besonders nachhaltig und für die Stabilität Bußlands gefährlich könnte sich mittelfristig der sich vertiefende Gegensatz zwischen dem reformwilligen russischen Norden und dem strukturkonservativen, beharrenden Süden erweisen. Wenn es nicht gelingt, diese Polarisierung durch eine behutsame Korrektur des politischen Systems Bußlands zu neutralisieren, wird sich die strukturelle Instabilität der russischen Politik verfestigen. Das Präsidialsystem, das den Wahl Verlierer zur politischen Ohnmacht verurteilt, ist unbrauchbar, Gräben zuzuschütten. Die Teilung der Macht, wie sie parlamentarische Systeme kennen, wäre dafür sehr viel tauglicher.

Die Kommunistische Partei wird ihre schwere Wahlniederlage nicht unbeschadet überstehen. Das Wahlergebnis hat erneut deutlich gemacht, daß es den Kommunisten nicht gelingt, die Wähler der Mitte für sich zu gewinnen. Die Partei bleibt das Sammelbecken rückwärtsgewandter Nostalgiker und perspektivenloser Beformverlierer. Die Spaltung des kommunistischen Lagers ist das vordringliche Ziel der Jelzin-Administration. Sicherheitsberater Alexander Lebed und - etwas verhaltener - auch der alte neue Ministerpräsident Viktor Tschernomyrdin zielen auf die Beteiligung reformorientierter Kommunisten an der Begierung. Das ist unumgänglich, wenn Tschernomyrdin in der Staatsduma eine Mehrheit der Abgeordneten für seine Begierung gewinnen will. Zudem wäre eine Koalitionsregierung ein erster Schritt, um die politische Polarisierung der russischen Gesellschaft zu mildern. Die Aufnahme gemäßigter Kommunisten wäre so gesehen ein Signal an die Beformverlierer. Mit gravierenden Änderungen des Wirtschaftskurses müßte man dennoch nicht rechnen - dafür hätte keine Begierung den erforderlichen Spielraum.

Die drängendste Frage der kommenden Wochen aber ist, inwieweit der siegreiche Jelzin physisch in der Lage sein wird, den Gang der Ereignisse zu bestimmen. Gerade jetzt ist seine volle Präsenz auf der politischen Bühne unverzichtbar. Bund um die Bildung der neuen russischen Begierung zeichnet sich ein scharfer Konflikt zwischen Lebed und Tschernomyrdin ab. Lebed ist es vor den Stichwahlen nicht ausreichend gelungen, sich eine wirkliche politische Machtbasis zu verschaffen. Seine Macht bleibt von der Gunst des Präsidenten abhängig.

Autoritärer Halbdemokrat Lebed

Es ist daher abzuwarten, inwieweit es Lebed gelingen wird, bei der Begierungsbildung seine Positionen durchzusetzen. Insbesondere die Auswahl des neuen Verteidigungsministers und des Leiters der Sicherheitsdienste werden Aufschluß darüber geben, ob es dem autoritären Halbdemokraten gelingen wird, sich gegenüber dem Energiebaron Tschernomyrdin durchzusetzen. Die Ernennung des Karriereagenten Ni-kolaj Kowaljow zum Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB machte bereits deutlich, daß Jelzin auf drängende Batschläge Lebeds einzugehen bereit ist. Kowaljow hat sich bisher vor allem mit der Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität befaßt -gerade hier aber will Lebed zukünftig starke Akzente setzen.

Die einzige wirkliche Machtposition, die Lebed erreichen konnte, ist sein Vorsitz in der Personalkommission, die über die Führungsfunktionen in den Streitkräften entscheidet. Mit Geschick und Geduld könnte sich Lebed im Verteidigungsministerium und in der Armee ein Netz von Gefolgsleuten auf höchster Ebene aufbauen. Dies würde ihm erlauben, ein denkbares Scheitern Tschernomyrdins in der Wirtschaftspolitik abzuwarten und in ein bis zwei Jahren selbst das Amt des Ministerpräsidenten zu übernehmen.

Jelzin hat zwei Wahlgänge siegreich geschlagen. Ob er aber in der Lage sein wird, den „dritten Wahl-gang”, den Wettlauf um seine Nachfolge, in seinem Sinne zu entscheiden, bleibt abzuwarten. Gegenwärtig scheint es, als ob der strahlende Sieger der Stichwahlen eher zur Bolle des Zuschauers in diesem Diado-chenkampf verurteilt sein könnte. Kaum zuvor war Jelzin daher so sehr auf Tschernomyrdin angewiesen wie gerade jetzt. Dessen Loyalität ist Jelzin sicher, Lebeds Gefolgschaft hingegen nicht. Gut möglich, daß Jelzin den Geist, den er rief, nun nicht mehr los wird und mit Lebed (russisch: Schwan) Jelzins Schwanengesang begonnen hat.

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