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Kein Abbruch von Brücken

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Die Weichen sind gestellt. Die Sozialistische Partei Österreichs bildet unter ihrem Parteiobmann Dr. Bruno Kreisky eine Alleinregierung, die Volkspartei muß — für einige ihrer Spitzenpolitiker leidvoll — den Weg in die Opposition antreten. Es ist die erste sozialistische Alleinregierung der österreichischen Geschichte. Seitdem es in Österreich ein parlamentarisches System gibt, und dies sinH immerhin schon über hundert Jahre, war niemals die Sozialistische Partei allein verantwortlich für die Geschicke des Landes. Nicht einmal in den Umsturzzeiten des Jahres 1918 und in der Umbruchszeit des Jahres 1945 hatte sie allein die Fäden der Regierung in der Hand. Die monokolore ÖVP-Regierung von 1966 war die erste Einparteienregierung, die Österreich seit hundert Jahren besaß. Nun erhält Österreich zum zweitenmal eine solche Einparteienregierung. Der Unterschied zum Jahr 1966 besteht darin, daß die ÖVP damals eine wenn auch nicht sehr große absolute Mehrheit im Parlament besaß, während die heutige Regierung eine Minderheitsregierung ist. Diese neue Phase der Innenpolitik der Zweiten Republik wird nicht ohne Probleme sein. Denn noch nie hat eine Regierung über eine so schwache parlamentarische Basis verfügt und noch nie war eine Opposition so stark wie in der kommenden Regierungsphase. Die „Furche“ hat in ihrer letzten Ausgabe vom „Mißtrauen“ geschrieben, das zwischen SPÖ und ÖVP besteht. Und obwohl der Leitartikel noch vor der entscheidenden Schlußrunde der Koalitionsverhandlungen geschrieben wurde, hätte er den Kern des Problems nicht treffender charakterisieren können: SPÖ und ÖVP konnten sich aus stabilisiertem Mißtrauen nicht mehr an einem Tisch auf ein Programm einigen — und haben mit der Weichenstellung für eine Minderheitsregierung der SPÖ die Aufwertung der FPÖ nunmehr endgültig perfekt gemacht, ja sogar institutionalisiert.

Sucht man nach rationalen Überlegungen, die Dr. Kreisky zu seinem ohne Zweifel mutigen Schritt veranlaßt haben, so drängen sich mehrere mögliche Varianten auf:

1. Zwischen SPÖ und FPÖ wären bindende Vereinbarungen getroffen, die es Dr. Kreisky ermöglichen würden, einen Alleingang zu wagen, der ihn im Parlament keinem ernsthaften Risiko aussetzt. Der Preis, den er der FPÖ dafür zahlen müßte, dürfte nicht gering sein; vor allem dann nicht, wenn man die Situation der FPÖ bedenkt, die fast ihre ganze Wählerschaft vor den Kopf stoßen müßte.

Immerhin bleibt die Wahlrechtsreform, die für die FPÖ ein „Zuckerl“ erster Güte wäre, vom verfassungsgesetzlichen Standpunkt nach wie vor ein Fragezeichen. Verfassungsrichter sind nicht so leicht manipulierbar, wie man sich das vielleicht in einem kleinen Sektionslokal vorstellt.

2. Dr. Kreisky könnte hoffen, auch bei „Äquidistanz“ der FPÖ da und dort deren Zustimmung zu erhalten, weil es der FPÖ doch auch darum gehen müßte, sich in der Opposition von der Volkspartei abzugrenzen und „im Spiel zu bleiben“. Eine solche Variante würde die SPÖ auf Gedeih und Verderb der Gnade und den taktischen Überlegungen der Freiheitlichen ausliefern.

3. Dr. Kreisky könnte sehr stark durch Verordnungen zu regieren versuchen und eine populäre Politik einschlagen. Für ÖT“P und FPÖ bliebe nichts anderes übrig, als bei populären Gesetzesvorlagen im Parlament mit den Sozialisten zu stimmen. Auf diese Weise könnte sich die SPÖ eine ideale Absprungsbasis für Neuwahlen schaffen und auf einer Woge der Zustimmung der über Geschenke erfreuten Wählerschaft eine absolute Mehrheit erringen. Vieles spricht für diese Taktik der SPÖ, weil vor allem ihre „Sofortmaßnahmen“ schon bei den Regierungsverhandlungen den Schluß zuließen, daß es ihr zuallererst um Popularität geht.

4. Dr. Kreisky mag schließlich damit spekulieren, daß er die mit ihrem Geschick hadernde, nach Sündenböcken suchende und von unterschiedlichen Interessen zerrissene ÖVP so demoralisieren kann, daß einzelne Abgeordnete oder auch ein ganzer Bund aus dem festen Parteikäfig ausbrechen und die Klubdisziplin zerstören könnte. Sicherlich haben Bauernschaft und Wirtschaftsbund in dieser Beziehung Spezialanliegen.

Vieles spricht bei Kreiskys mutigem Schritt allerdings auch dafür, daß auch emotionelle Argumente in der SPÖ mitgespielt haben. Sicherlich gab und gibt es eine Strömung in der SPÖ, die den 1. März als Schicksalstag dafür betrachtet, endlich den Staat nach sozialistischen Gesichtspunkten umzugestalten. Für die Altmarxisten ist diese „historische Situation“ (wie die „Zukunft“ schrieb) ebenso attraktiv wie die „Stunde Null“ — in der ein Aufbruch zu neuen Ufern eines Humansozialismus für die Jüngeren in der SPÖ erfolgen soll. Dieser Glaube, daß es „schon irgendwie gehen werde“, zeichnet auch das neue Kabinett aus. Dr. Kreisky ist in seinem Parteivorstand bezüglich seiner personellen Vorstellungen der wahre Sieger geblieben, was darauf schließen läßt, daß man das Kräfteverhältnis in der Partei des neuen Bundeskanzlers seit Jahren in der ÖVP falsch eingeschätzt hat. Dr. Kreisky hat recht, wenn er sich vielleicht gesagt hat, daß eine Minderheitsregierung noch das geringere Übel darstellt im Vergleich zu einer Koalition mit der Volkspartei, die ihm nichts als Schwierigkeiten, neue Verhandlungen, Obstruktion jnd ständige Drohungen gebracht hätte. Denn letztlich wäre von einer großen Koalition neuen Stils, wie sie noch in der Wahlnacht zur Debatte stand, nach diesen Verhandlungen nichts mehr übriggeblieben. Trotzdem: der Entschluß der SPÖ vom 20. April darf nicht bedeuten, daß nun alle Brücken zwischen den beiden großen Parteien abgebrochen werden müssen. Verhandlungen wird es ja vor jedem neuen Gesetz geben, weil die SPÖ-Regierung die Zustimmung der beiden anderen Parteien suchen muß. Die Volkspartei wird gut daran tun, nicht eine Politik des Mißtrauens zu betreiben, so sehr die Emotion auch zur rücksichtslosen Opposition drängt. Der Wähler würde der Volkspartei eine solche Rolle nicht lohnen.

Die neue Regierung aber müßte im eigenen Interesse darauf achten, nicht zum Spielball der dritten Partei zu werden, weil sie zum großen Partner im Parlament — mit dem sie immerhin auch 21 Jahre lang auf der Regierungsbank gesessen ist — keinen Weg findet.

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