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Das Experiment Kaliningrad ist gescheitert. Was als hoffnungsvolles EU-Labor Russlands begonnen hat, ist als weiterer Beweis für die Entfernung Russlands von Europa zu Ende gegangen.

Das, worum es angeblich geht, ist nicht das, worum es eigentlich geht. Der jüngste EU-Russland-Gipfel hat diesen Befund wieder einmal eindrucksvoll bestätigt. Auch wenn beide Seiten das Gegenteil verlauten ließen: Es war nicht vorrangig ein Streit um Transitdokumente für reiselustige Kaliningrader, der da zwischen der Europäischen Union und Russland zu Wochenbeginn in Brüssel ausgefochten wurde. Eher kam da schon die halbherzige Suche nach gemeinsamen Strategien zur Terrorbekämpfung dem Kernproblem zwischen der EU und Russland näher. Das eigentliche Thema des Treffens aber war die Frage: Wie weit reicht Europa?

Zur Richtigstellung: Das ist keine Frage nach Grenzsteinen, die einmal irgendwo aufgestellt worden sind und ein andermal wieder woanders hin gesetzt werden könnten. Diese Grenze wird vielmehr vom Auffassungsunterschied darüber gebildet, was in einem gemeinsamen Europa erlaubt sein darf und was nicht. Und solange Russlands Politik sich darauf beschränkt, den Nordkaukasus "in Stücke zu bomben", wie es der dänische Ministerpräsident auf den Punkt gebracht hat, steht der Partnerschaft mit Europa ein grundsätzlicher Dissens über die Fundamente dieser Partnerschaft im Wege. Diesen Dissens darüber, was erlaubt ist und was nicht, gibt es übrigens nicht nur in Richtung Osten, sondern auch über den Atlantik hinweg, in Richtung Westen, und daraus resultieren ja auch die gegenwärtigen Spannungen im Verhältnis zwischen Europa und den Vereinigten Staaten. Und letztendlich wird sich an einer möglichen Beseitigung dieser Differenzen auch ein EU-Beitritt der Türkei entscheiden.

Kein Hongkong der Ostsee

"Sind wir in eine Falle getappt?" fragte die größte litauische Zeitung am Tag nach dem EU-Russland-Gipfel, und diese Frage sollten sich auch die EU-Verantwortlichen stellen. Denn am Beispiel Kaliningrad zeigt sich, dass Putins Beteuerungen für eine intensive Kooperation mit der Union keine Taten folgen. Was hätte Kaliningrad nicht alles werden sollen: Russlands Tor zum Westen, das Hongkong der Ostsee, russisches EU-Laboratorium ... Und was ist daraus geworden? Eine gescheiterte "Sonderwirtschaftszone", ein Eiland der Elenden mit rostenden Militärbasen und korrupten Bürokraten, eine Drehscheibe für den Drogenhandel und HIV-verseuchte Krisenzone. Ein Symbol für die trotz aller gegenteiligen Beteuerungen fortschreitende Entfernung Russlands von Europa, für die Ungleichzeitigkeiten entlang der künftigen EU-Grenze im Osten.

Da wundert es nicht, wenn mehr als zwei Drittel aller Kaliningrader unter 25 Jahren noch nie im russischen Kernland waren, wohl aber in Polen, Litauen oder Deutschland. Und vor diesem Hintergrund wird die Argumentation der russischen Seite, die Einführung von Transitvisas für Kaliningrader widerspreche den Menschenrechten, zur völligen Farce. Moskau geht es hier gewiss nicht um Menschenrechte, vielmehr beherrschten die Angst vor einem massiven Machtverlust und das Beharren auf russischer Souveränität die Diplomatie des Kremls. Mit der Folge, dass fast eine Million Russen von ihrer Umwelt abgeschnitten werden - von Russland wie von der EU.

Michail Kalinin, der Namensgeber der Stadt, war sein Leben lang ein treuer und gefügiger Vasall Stalins. Und nach wie vor erinnert die Exklave viel mehr an eine sowjetische Erblast an der Ostsee als an einen Probelauf für Russlands europäische Zukunft. Und auch wenn der Gouverneur des Gebiets, Wladimir Jegorow, dazu auffordert, keine Angst vor Kaliningrad zu haben - ein doppelt isoliertes Kaliningrad, abgeschieden von Russland und abgetrennt von seinen europäischen Nachbarn, gibt genügend Anlass zu berechtigter Sorge.

In die Zange genommen

Wenn aber ein vereinsamtes und verarmtes Kaliningrad schon Anlass zur Sorge ist, wieviel mehr muss sich die Europäische Union vor einer isolierten Ukraine, einem autoritären Weißrussland, einem völlig in die Anarchie entgleitenden Georgien, das vergessene Moldawien nicht zu vergessen, fürchten! Die Entwicklung, die Kaliningrad genommen hat, kann als drohender Anschauungsunterricht dafür dienen, was mit einem Land passiert, das auf der einen Seite von einem Wohlstandswall und auf der anderen Seite vom ungeliebten großen Bruder in die Zange genommen wird.

Die Initiative für ein Aufbrechen der Isolation in Kaliningrad und anderswo muss dabei, das hat auch dieses Gipfeltreffen wieder bewiesen, von der europäischen Seite ausgehen. Nur dann hat man auch das Recht, weiterhin zu bestimmen, was in Europa erlaubt ist und was nicht.

wolfgang.machreich@furche.at

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