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Kinder in São Paulo: Der Tod ist ihnen sicher

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Gewalt ist in São Paulo weit verbreitet, auch Kinder und Jugendliche sind betroffen. Eine Reportage.

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Gewalt ist in São Paulo weit verbreitet, auch Kinder und Jugendliche sind betroffen. Eine Reportage.

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Sie sind erst zehn oder 15 Jahre alt - aber ihr Schicksal ist schon besiegelt. 1.000 Jugendliche und Kinder, die in den Straßen von São Paulo leben, sind innerhalb von zwei Jahren ermordet worden. Wie in einem Mitte Oktober veröffentlichten Bericht der Brasilianischen Anwaltskammer (OAB) bestätigt wird, fielen sie Todesschwadronen und der Militärpolizei zum Opfer. Im Grunde aber sind sie Opfer des Elends.

In São Paulo habe ich diesen namenlosen „Krieg in den Straßen" miterlebt - weitab von allen romantischen und idealisierten Vorstellungen über Straßenkinder. Ich habe eine Welt der Gewalt, der Drogen und der Prostitution erlebt, wo jeder kämpft, wie er kann, wo es aber auch unerwartete Solidarität gibt.

Nach Angaben des rechtlich-medizinischen Instituts von Rio de Janeiro werden in der „carioca"-Metropole jeden Monat ungefähr 40 Kinder und Jugendliche umgebracht. Eine Untersuchung des Zentrums für Studien über die Gewalt (NEV) in Säo Paulo belegt, daß monatlich 60 Minderjährige in dieser Stadt mit zwölf Millionen Einwohnern getötet werden.

Jonas Beltrao de Oliveira sieht mit seinen langen, gepflegten schwarzen Haaren ein bißchen aus wie ein Poet, ein Intellektueller. Er ist Mitarbeiter der Jugendseelsorge der Diözese São Paulo; nachts geht er in den Bezirk Praca da Se, mitten in der „paulista"-Metropole, um die Straßenkinder zu begleiten und zu beschützen. Der ehemalige Philosophiestudent warnt gleich: „Diese Arbeit ist überhaupt nicht romantisch, man verliert dabei viele Illusionen und wird oft enttäuscht; man muß einen kühlen Kopf bewahren. Wenn ich nicht einen starken Glauben hätte, würde ich es nicht aushalten."

Die Infrastruktur São Paulos ist seit langem überlastet; dennoch kommen jeden Tag 1.000 bis 2.000 neue Migranten vom Land in die Stadt, denn auf dem Land gibt es für sie keine Möglichkeit, zu überleben - es gab keine Landreform und die Infrastruktur im Gesundheits- und Bildungswesen ist ungenügend. Heute leben nur noch 25 Prozent der 150 Millionen Brasilianer auf dem Land.

Oft bringen nur noch die Kinder und Jugendlichen Geld nach Hause. Sie können das, weil sie auf der Straße und von der Straße leben. Die Eltern, erzählt Jonas, glauben, daß sie Arbeit gefunden haben, mit etwas handeln oder betteln. Bald aber fallen die Mädchen Zuhältern und Besitzern von zweifelhaften Bars in die Hände, die Buben schließen sich zu Diebesbanden zusammen oder geraten in den Drogenhandel. Schließlich leben sie ganz auf der Straße und beginnen Leim oder Lösungsmittel zu inhalieren. Dann kommen „maconha" (Canna-bis), „crack" (free base) und Kokain. Die Straßenkinder merken schnell, daß sie mit dem Verkaufen von Orangen viel weniger verdienen als mit Angriffen auf Passanten.

Die Uhr, die sie stehlen, überlassen sie fast gratis einem erwachsenen Hehler - oft einem Wächter oder Sicherheitsbeamten -, der ihnen eine bestimmte Menge Leim zum Inhalieren liefert. So schließt sich der Teufelskreis mit immer härteren Drogen. Mädchen und Buben werden „Flugzeuge", das heißt, sie transportieren Drogen von einem Ort zum anderen. Und wer aussteigen will, wird „eliminiert" - mit einem Kopfschuß von den erwachsenen Chefs des Handels. Diese Morde nennt man „queima de arqui-vo", das „Verbrennen der Archive" -das heißt, das Ausschalten von Zeugen.

Die unmenschlichen Lebensbedingungen entmenschlichen auch den, der einen gefestigten Charakter hat; sie lassen Menschen zu Raubtieren werden. Das habe ich auch bei den „catadores de pabelao" erfahren. Diese Arbeiter leben von der Wiederverwertung von Papier und Karton und wollen, daß ihr Beruf anerkannt wird. Die Hälfte des Recycling-Papiers von São Paulo stammt aus ihrer Arbeit, und mit jeder Tonne so gewonnenen Papiers spart die Stadt 33 Dollar. Mitten im Stadtzentrum, unter den Viadukten, über die unaufhörlich eine lärmende Blechlawine rollt, steht ein Betonrohbau ohne Wasser und Elektrizität, der „das Skelett" genannt wird. Hier leben etwa 200 Menschen, „catadores de pabelao". Einer von ihnen ist ein junger Migrant aus Bahia, den man „O Baiano" nennt. Er hat eine lange Narbe auf dem Bauch und mehrere Spuren von Schußwunden an der Seite. „Ich habe schon drei Menschen umgebracht", sagt er. Ich denke, er macht nur Spaß.

Er lädt uns zu sich „nach Hause" ein, bietet uns Kaffee an und redet lange von menschlicher Würde und der Gesellschaft, die die Armen diskriminiert. Als wir uns verabschieden wollen, zieht er auf einmal seinen Revolver; einer seiner Kumpane, den ich eben interviewt und fotografiert habe, hält mir eine Pistole an die Schläfe: „Setz dich, Gringo, sonst schieße ich dich tot!" Wieder glaube ich an einen Scherz. Der „Baiano" zittert, brüllt, die Augen blutunterlaufen. Joao, der Lehrer, der mich begleitet, bedeutet mir, mich zu fügen.

Joao ist bestürzt; er fühlt sich verraten - seit fünf Jahren passiert so etwas zum ersten Mal. Seine Organisation wird ihre Arbeit überdenken müssen; das Zentrum Gaspar Garcia Lavania hilft den Leuten, sich zu organisieren und gewisse Erleichterungen von der Stadt São Paulo zu erlangen. Unterdessen wird mir meine Uhr brutal weggerissen, daß sie ein Geschenk meines verstorbenen Paten ist, interessiert die Angreifer nicht. Sie durchsuchen mich gründlich und lassen mir nur mehr einen Dollar und 300 Cru-zeiros; damit kann man nicht einmal telefonieren. Die übrigen Bewohner des „Skeletts" sind betroffen: „So geht man doch nicht mit Freunden um, man greift nicht Leute an, die uns helfen wollen. Man stiehlt nie zu Hause." Sie fürchten auch eine mögliche Razzia der Militärpolizei, und hier kann so etwas leicht zu einem Massaker ausarten.

Sogar die Diebe haben einen Ehrenkodex. Aber diese hier offensichtlich nicht. Einige Stunden später können die Straßenbetreuer zusammen mit einer Gruppe Jugendlicher aus dem Haus die meisten Traveller-Schecks wiederbekommen; die Diebe konnten sie nicht absetzen. Die Angreifer sind wieder in ihrer behelfsmäßigen Unterkunft und rauchen „maconha". So sicher sind sie, ungestraft davonzukommen, daß sie mir nicht einmal mein Tonbandgerät und meine Fotoapparate abgenommen haben. Später wird ein Betreuer mir sagen: „Denen da ist der Tod sicher, die leben nicht mehr lange, sie haben überhaupt keinen Ehrenkodex mehr, sie denken nicht mehr nach, und den Tod - den kennen sie."

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