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Kirche im Staat von heute

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Die Entwicklung des modernen Verfassungsstaateg 9eit den großen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts hat die revolutionäre Verbindung von Kirche und weltlicher Ordnung fast überall aufgelöst oder doch erschüttert und die Länder mit staatskirchliohen Einheitssystemen unter den modernen europäischen Staaten in die Minderheit verwiesen. Dennoch ragt jene ältere Einheit von Kirche und Staat noch immer mit bedeutenden Resten in das moderne Europa hinein. Ich erinnere nur an die verschiedenen nordischen Länder— Dänemark, Norwegen, Schweden, Island, Finnland — mit ihren staatlich privilegierten Volkskirchen, die noch heute nominell 92 bis 97 Prozent der Bevölkerung umfassen, oder an Großbritannien und seine beiden Staatskirchen, die Church of England und die Church of Scotland, denen gleichfalls die große Mehrheit der Bevölkerung angehört; auch an die katholischen Länder des Südens, Italien und Spanien, ist hier zu denken, in denen der Katholizismus Staatsreligion ist. Wohl sind alle diese Länder in den letzten 50 Jahren (manche schon früher) dazu übergegangen, anderen Kulten Toleranz zu gewähren, und haben schließlich generell die Religionsfreiheit erklärt. England ist hierbei am weitesten gegangen, Spanien, wo erst zur Stunde ein Gesetz zur Emanzipation der Protestanten vorbereitet wird, am stärksten zurückgeblieben. Aber ungeachtet dieser Toleranzgesetzgebung ist doch die enge Verbindung von Kirche und Staat, Religion und Staat erhalten geblieben; Wir haben hier einen Typus der Ordnung von Kirche und Staat vor uns, der auf dem Prinzip der Einheit beider Mächte aufgebaut ist. Kirche und politische Welt bilden hier noch zwei konzentrische Kreise. Der Staat ist gleichsam der erweiterte Leib des Kirchenvölkes. Der Bezug zum Mittelalter ist noch überall greifbar. Der Kürze halber wollen wir diese Länder Staatskirchenländer nennen.

Die „Trennungsländer”

Den Staatskirchenländern stehen gegenüber die Trennungsländer. Auch dieser Begriff umfaßt eine Vielzahl unterschiedlicher Ordnungen, die nur abkürzungsweise auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind; so sind die drei Hauptformen des Trennungssystems — die amerikanische, französische und russische — unter ganz verschiedenen Umständen erwachsen und in ihrer politischen Absicht keineswegs einheitlich. Die amerikanische Form der Trennung, wie sie das erste Amendment von 1790 nach dem Vorgang mehrerer Einzelstaaten für den Bund fixiert hat, will die Kirchen nicht unterdrücken, sondern ihre Freiheit sichern: den Refugiės der europäischen Religionskriege — aus ihnen ist ja Amerika geschichtlich hervorgewachsen — soll Sicherheit geboten werden, daß nicht irgendeine Religion, die zu gesellschaftlicher Macht gelangt ist, den Staat erobern und mit seiner Hilfe die andern unterdrücken kann. Die Trennung sichert hier mit Hilfe des Verbotes der Staatskirche die Pluralität der religiösen Bekenntnisse (mit Einschluß des Unglaubens); sie hält den Staat außerhalb der Sphäre religiöser Konflikte, statt ihn, wie im europäischen Absolutismus, zum Zwangsschlichter der streitenden Bekenntnisse zu machen. Anders die französische Form der Trennung, wie sie in der großen Revolution und später in den Trennungsgesetzen von 1905 verwirklicht wurde; sie geht, im Gegensatz zur amerikanischen, nicht von der Inkompetenz des Staates in puncto Religion aus, sondern von seiner — wenn man so sagen will — Omnikompetenz. Dementsprechend hält sie sich für befugt, nicht nur die Kirche ihrer öffentlichen Stellung zu entkleiden, sondern ihr zugleich ihre innere Rechtsform bindend vorzuschreiben — in der Trennung von 1905 durch das Gebot privatrechtlicher Neuorganisation der Kirche in Gestalt der „Associations culturelles”. Noch weiter geht die russische Form der Trennung nach 1917: hier ist die Trennungsidee eindeutig ein Mittel zur Unterdrückung der Kirche, einer Kirche, die sich — im Gegensatz zum westlichen Trennungssystem — nicht in eine Sphäre grundrechtlich gesicherter Bekenntnisfreiheit oder sozialen Dienstes an der Gesellschaft zurückziehen kann, da es eine solche Sphäre — wenigstens in den frühen Formen des Sowjetkommunismus — nicht gibt. Ein offizieller Text der KPdSU aus dem Jahre 1933 bringt den Gegensatz auf folgende Formel: „Es ist notwendig zu betonen, daß das Dekret über die Trennung der Kirche vom Staat, und der Schule von der Kirche von Anfang an gegen die Religion gerichtet war, die sowjetische Regierung hat nie eine zweideutige Politik der gleichstarken Mitarbeit mit der Religion und dem Atheismus geführt.”

Anpassung an den modernen Staat

Es soll nun hier keine These darüber aufgestellt werden, welche der beiden Ordnungen — Staatskirchen oder Trennungssystem — besser zum modernen demokratischen Staat paßt, oder auch nur darüber, ob die Demokratie ein bestimmtes staatskirchenpolitisches Gefälle, etwa zur konfessionellen Neutralität des Staates oder zum Trennungssystem hin, geschaffen hat. Gewiß kann man statistisch einen gewissen Trend zum Trenniungssystem nachweisen, der mit der Demokratisierung parallel zu gehen scheint. In Südamerika zum Beispiel ist diese Parallelbewegung deutlich sichtbar, auch in den romanischen katholischen Ländern im 19. Jahrhundert tritt sie hervor; man erinnere sich nur an Cavours „chiesa libera in stato libero”. Ein Gelehrter vom Rang Zaccaria Giacomettis hat darum noch im Jahre 1926 in der Trennung „das kirchenpolitische System der Zukunft” gesehen. Inzwischen sind wir bedeutend vorsichtiger geworden. Denn einmal ist der statistische Beweis angesichts der eben geschilderten Vielfalt der Trennungsideen und -Systeme nicht durchschlagend: es gibt, wie man in Frankreich zu sagen pflegt, freundschaftliche Trennungen und stürmische Konkordate. Sodann aber hat die Übersteigerung der antikirchlichen Dynamik des Trennungsgedan- kens in den modernen totalitären Bewegungen einen Rückschwung des Pendels herbeigeführt und die radikalen Formen der Trennung zumindest innerhalb des westlichen Staatenbereichs entschärft, teilweise sogar abgebaut. Das heißt nicht, daß eine Rückkehr zu quasistaatskirchlichen Formen eingetreten wäre; denn auch in diesem Bereich zeigt sich heute ein deutlicher Abbau älterer Formelemente. Viel eher ließe sich die Meinung begründen, daß der moderne demokratische Staat zwar einerseits für beide Verhältnisord nungen, die vorrevolutionäre der Einheit und die nachrevolutionäre der Trennung, Platz hat — im Gegensatz etwa zu einer stets in Richtung der Einheit strebenden christlichen Monarchie —, daß er aber anderseits dazu neigt, extreme Polaritäten zu entschärfen und die Gegensätze irgendwo in der Mitte sich einpendeln zu lassen.

Von hierher gesehen, äußert sich die Wirkung der modernen Demokratie (einschließlich ihrer totalitären Nebenformen) auf die Kirche in einer stillen, aber nachdrücklichen Erosion sowohl der im Staatskirchensystem wie der im Trennungs- sytem gesicherten Formen des Nebeneinanderlebens von Staat und Kirche. Dieser Erosionsprozeß scheint mir der eigentlich bezeichnende sta kirchenpolitische Vorgang unserer Zeit zu sein.

Um Statusbegründung der Kirche

Noch einmal: nicht um die Frage mehr Einheit oder mehr Trennung geht es — der Ruf nach politischreligiöser Einheit wie der Ruf nach Trennung scheint mir vom Standpunkt des modernen demokratischen Staates gleichermaßen am Problem vorbeizugehen. Die Aufgabe liegt vielmehr in einer dem demokratischen Gemeinwesen adäquaten Statusbegründung der Kirche. Eine solche Statusbegründung braucht sich nicht auf den Standpunkt eines absoluten Pluralismus zu stellen, der im Staat nur die res fungibilis gesellschaftlicher Prozesse sieht; denn auch das demokratische Gemeinwesen ist nicht beliebige Schöpfung des Volkswillens, der unkontrolliert und souverän im Hier und Heute schaltet, sondern beruht auf der Treuhänderschaft gegenüber der Vergangenheit wie gegenüber der Gegenwart und Zukunft.

Die Rolle der Kirche verdolmetschen

Der moderne Staat, zumal der Kultur- und Leistungsstaat, kann nicht verfallen lassen, was erhalten zu werden verdient; er hat die Verpflichtung, die Vergangenheit, die Tradition zu schützen — eine Tradition, zu der auch die Kirche gehört. Aber dieser demokratische Staat kann doch wiederum — da ihm eine Kognition über das Wesen der Kirche als Stiftung und ihr aus dieser Stiftung fließendes göttliches Recht verwehrt ist — die Schutzwürdigkeit der Kirchen nur aus der gesellschaftlichen und geistigen Mächtigkeit ihrer Glieder in der Gegenwart erschließen; und so ist gesellschaftliche Organisation für die Christen in einem demokratischen Staat eine schlichte Lebensnotwendigkeit. Nur daß diese Organisation kein Selbstzweck ist, daß sich dahinter keine Politik verbirgt, sondern daß hier einzig der Versuch gemacht wird, dem säkularen Staat die Existenz der Kirche in der Sprache zu verdolmetschen, die er versteht.

Die Christen in der modernen Demokratie werden das Schwierige lernen müssen: einerseits durch ihre gesellschaftliche Existenz dem Gemeinwesen zu zeigen, daß sie da sind, daß man mit ihnen zu rechnen hat, daß man die Kirche — ungeachtet der ekklesiologischen Neutralität und Farbenblindheit des säkularen Staates — als ihre Sache schützen und respektieren muß; anderseits zu wissen, daß das zu diesem Zweck aufgebaute Netz gesellschaftlich-politischer Hilfs- und Auffangstationen niemals mit der Kirche identisch ist.

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