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Kirche, Katholiken, Parteien

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Eine der bemerkenswertesten Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens besteht in der Beharrsamkeit, um nicht zu sagen Trägheit, menschlicher Lebensformen, politischer Anschauung und gewohnter Denkbahnen, in ihrem Nachhinken gegenüber geistigen Entscheidungen. Die Tatsache des Nachhinkens des gesellschaftlichen und politischen Lebens gegenüber den Entscheidungen im geistigen Raum bringt es mit sich, daß wir uns von Zeit zu Zeit mit Problemen befassen müssen, die in Wirklichkeit gar keine mehr sind, da sie schon längst gelöst wurden, daß wir uns mit Gespenstern längst abgeschiedener Fragen herumschlagen müssen und gerade dadurch in Gefahr geraten, unsere aktuellen Aufgaben zu übersehen.

Die Fragen des Verhältnisses von Kirche und Parteien, Religion und Politik sind, was Oesterreich betrifft, und nur von Oesterreich soll hier die Rede sein, in ihrer typischen Fragestellung Fragen von gestern. Wenn wir uns heute die Köpfe darüber zerbrechen, ob und wie weit es eine Kongruenz zwischen der katholischen Kirche und einer politischen Partei geben kann, wie weit es für Katholiken möglich ist, in verschiedenen Parteien tätig zu sein, wie weit eine Annäherung der österreichischen Sozialisten an die Kirche ehrlich gemeint oder nur taktisch zu verstehen sei, ob die Kirche eine solche Annäherung annehmen oder zurückweisen müsse, in welchem Ausmaß die kirchliche Hierarchie durch Anweisungen und Empfehlungen an die Gläubigen in das politische Tagesgeschehen eingreifen kann oder soll, wie weit überhaupt die weltanschauliche Durchdringung oder Fundierung der politischen Parteien geht, so sind alle diese und eine Reihe anderer Fragen nur von einer Scheinaktualität. Sie stehen in Oesterreich zumindest in Wirklichkeit schon seit langem nicht mehr zur Debatte.

Um hier gleich einem Einwand zu begegnen: Die Feststellung, daß es sich hier im wesentlichen um Fragen handelt, die grundsätzlich schon gelöst sind, heißt nicht, daß sie für uns uninteressant geworden sind, oder gar, daß die Kirche hier vielleicht resigniert hätte, daß sie jeden Versuch einer Gestaltung des öffentlichen Lebens aufgegeben, daß sie sogar den ausgesprochenen oder nicht ausgesprochenen Standpunkt von der „Religion als Privatsache” akzeptiert hätte. Es heißt nur, daß wir nicht auf vergangenen, historisch bedingten Lösungsmöglichkeiten beharren, daß wir uns selbst taub machen dürfen für den Ruf unserer Zeit, blind für die Wege unserer Tage.

Die Kirche steht über der Zeit. Sie steht aber auch als historische Institution in der Zeit. Die Position der Kirche in Oesterreich und daher auch die Stellung der Katholiken sind in Oesterreich stärker vielleicht als anderswo, stärker als in den westeuropäischen Ländern, von ihrem Verhältnis zum Staat geprägt.

Die Kirche des alten Oesterreich hat sich, wenn auch nicht immer bewußt, fast als eine Eunktion des Staates empfunden. Der Liberalismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der gegen die Staatsomnipotenz josefinischer und franziszäischer Prägung Front machte, war eine antikirchliche und a-religiöse Bewegung; er drängte die Kirche nur noch stärker unter den schützenden Arm des Staates, dessen Dynastie wohl katholisch war, dessen Staatsethos jedoch kaum mehr vom katholischen oder christlichen Geist durchdrungen war. Die Erste Republik — in jeder Beziehung eine Zeit des Ueber- ganges — sah auch die Kirche und die Katholiken in einer Liebergangssituation. In der Christlichsozialen Partei, die schon früh aus ihrer revolutionären Jugendphase mit der Last der Staatsverantwortung belastet worden war, und in der sich nun alle konservativen Elemente der jungen Republik sammelten, in dieser Partei sah die Kirche, sah ein Großteil der Katholiken die dem verlorenen Reich und der untergegangenen Dynastie nachfolgende Schutzmacht, dies um so mehr, als sie anfänglich zur Republik selbst, zum neuen kleinen österreichischen Staat, kein näheres Verhältnis finden konnten. Diese Symbiose, die nahezu bis zu einer Identifikation von Partei und Kirche ging, diese, um mit einem mittelalterlichen Ausdruck zu sprechen, „Vogteigewalt” einer Partei über die Kirche ist eine historische Tatsache. Wie weit diese Tatsache durch die historische Entwicklung bedingt war, wie weit sie historisch notwendig oder Fehler war, soll hier nicht untersucht werden. Vielleicht war sie staatspolitisch eine Notwendigkeit; daß sie seelsorglich nachteilige Folgen zeitigte, kann heute nicht geleugnet werden. Daß die Kirche selbst sich in dieser Lage innerlich nicht ganz wohl gefühlt hat, ist daraus zu ersehen, daß sie nach der Auflösung der Parteien im Jahre 1934 und der Errichtung eines autoritären Regimes, hinter das sie sich voll und ganz stellte, ihren Priestern verbot, politische Funktionen anzunehmen, bei welchem Verbot es bekanntlich bis zum heutigen Tag geblieben ist.

Wir haben 1945 und in den folgenden Jahren gemeint; wir könnten dort wieder anknüpfen, wo wir vor der deutschen Besetzung Oesterreichs auf hörten, und wenn schon nicht an 1938, so doch an 1934. Erst heute spüren wir, daß die Zeit zwischen 1938 und 1945 trotz aller restaurativer Anknüpfungsversuche einen unüberwindlichen Graben darstellte. Wir konnten noch so tun, als ob nichts gewesen wäre, wir waren 1945 nicht mehr dieselben wie 1938. Die Zeit zwischen 1938 und 1945 war nicht nur eitle Zeit der Unterdrückung, der Verfolgung, sie war auch eine Zeit der Besinnung. All das, was man früher als Grundvoraussetzung für das Wirken der Kirche betrachtet hatte, die katholische Presse, deren Existenz und Durchschlagskraft ein Gradmesser des katholischen Bewußtseins schien, die verschiedensten Vereine und Organisationen, ohne die ein religiöses Leben nicht vorstellbar war, und natürlich vor allem die politische Verahkerung, die Partei als Schutzmacht der Kirche, waren über Nacht verschwunden, aufgelöst, gleichgeschaltet, weggefallen. Zu Tausenden und aber Tausenden fielen die Halbchristen ab, Tausende aber auch, die in der Kirche früher nur die Vertreterin gegnerischer Partei- und Wirtschaftsinteressen sahen, traten in ein neues Verhältnis zur Kirche, erlebten ihr katholisches Bewußtsein neu, vertiefter und verstärkter.

Die große Zeit der Prüfung war zu einer Zeit der Lieberprüfung geworden, und als 1945 die Kirche aus den Luftschutzkellern und den Sakristeien wieder an das Tageslicht trat, da schwebte vielen Köpfen ein neues Programm vor. Trotz aller äußerlichen restaurativen Anknüpfungen an die Zeit vor 1938 war diese Zeit doch im Geistigen bereits überwunden. So wie es keine Rückkehr meh’r geben konnte zu einer Symbiose von Partei und Kirche — niemand mehr dachte daran, das 1934 erlassene Verbot der Annahme politischer Funktionen durch Priester rückgängig zu machen —, so sollte auch die Kirche selbst in die Weite wirken können, eine Weite, deren Ausmaße man erst richtig in den Zeiten der Verfolgung erkannt hatte, als die Schranken parteimäßiger Klassifizierungen, sozialer Schichtungen und politischer Uebąr- zeugungen fragwürdig geworden waren.

In dieser geistigen Haltung des Jahres 1945, in dieser Stimmung, die Heimat von Grund auf neu zu gestalten, in dem Hochgefühl der Befreiung aus furchtbarer Bedrängnis, in dem Gelöbnis, die wiedergewonnene Freiheit und den so bitter erkauften Frieden wenigstens im Innern des Volkes nicht mehr leichtfertig aufs Spiel zu setzen, liegen die Wurzeln zum Verständnis der politischen Haltung der Kirche und der Katholiken in den folgenden Jahren.

Hier liegen auch die Wurzeln des Verständnisses für manche Erscheinungen, deren Konsequenzen man damals nicht voraussah. Man hat 1945 in manchen katholischen Kreisen die Haltung der Kirche so verstanden, als ob damit eine politische Abstinenz der Katholiken proklamiert würde. Die bittere Erfahrung der Vergangenheit hatte eine katholische Generation beranwachsen lassen, die nicht selten die Politik als etwas Böses, Verabscheuungswürdiges verbannte, von dem man sich nicht weit genug entfernt halten könnte. Der Beschluß der österreichischen Bischofskonferenz, eine Anzahl katholischer Vereine und Verbände, die als Instrumente einer politischen Willensbildung in Frage gekommen wären, nicht Wiederaufleben zu lassen, trug dazu bei, daß in den Jahren nach 1945 auf katholischer Seite ein politisches Vakuum eintrat. Man mag dies heute gewiß bedauern, da dadurch jene Generation und jene Institution fehlt, die im Zeitalter der Massendemokratie Politik betreiben kann, die insoweit von der katholischen Hierarchie unabhängig ist, als sie diese nicht durch eigene Entscheidungen zu belasten braucht, und die auch jenes Maß von Eigenständigkeit gegenüber den politischen Parteien besitzt, das absolut notwendig scheint, um im politischen Raum eigene Anliegen durchzubringen, und die auch nur dadurch den politischen Parteien nützlich werden kann, daß sie als eigene unabhängige Institution in freier Entscheidung eine politische Richtung unterstützt. Eine solche politische Organisation der österreichischen Katholiken gibt es zur Stunde nicht. Man hat eine Zeitlang geglaubt, die Katholische Aktion zu einer solchen Massenorganisation, die fähig wäre, ihre Stimme auch in der öffentlichen Meinung zur Geltung zu bringen, ausbauen zu können. Dies war jedoch schon deswegen nicht möglich, da die Katholische Aktion ihrem innersten Wesen nach ein Instrument der Hierarchie, ein Werkzeug der Bischöfe ist, und jede politische Tätigkeit der Katholischen Aktion sofort natürlich auch die Bischöfe hineingezogen hätte.

Wenn man sich auch über neue Wege und Möglichkeiten lange nicht klar war, so war man sich im Lager des österreichischen Katholizismus doch immer klar, daß es eine Rückkehr zur Vergangenheit, in welcher Form auch immer, nicht mehr geben könnte. Wer glaubt, daß eine gewisse Betonung der selbständigen Haltung der Kirche gegenüber den Parteien eine Angelegenheit der jüngsten Entwicklung sei, möge einmal nachlesen, was der österreichische Katholikentag von 1952, der die erste Summe aus Krieg- und Nachkriegszeit zog, in dieser Hinsicht proklamierte. Die Mariazeller Deklaration des Katholikentages von 1952, die heute noch die große Charta des österreichischen Katholizismus ist, spricht klar und deutlich von einer „Freien Kirche in einer freien Gesellschaft”.

„Eine freie Kirche” — so lautet es in der Mariazeller Deklaration — „soll heißen, die Kirche ist auf sich selbst gestellt und nur auf sich selbst. Jede geschichtliche Epoche hat ihre eigenen Notwendigkeiten und ihre eigenen Möglichkeiten. Heute aber hat die Kirche keinen Kaiser und keine Regierung, keine Partei und keine Klasse, keine Kanonen, aber auch kein Kapital hinter sich. Die Zeit von 1938 bis 1945 bildete hier eine unüberschreitbare Zäsur; die Brücken in die Vergangenheit sind abgebrochen, die Fundamente für die Brücke in die Zukunft werden heute gelegt. So geht die Kirche aus einem versinkenden Zeitalter einer Epoche neuer sozialer Entwicklungen entgegen.”

Und weiter heißt es in der Mariazeller Deklaration:

Eine freie Kirche bedeutet daher: Keine Rückkehr zum Staatskirchentum vergangener Jahrhunderte, das die Religion zu einer Art ideologischen Ueberbaues der staatsbürgerlichen Gesinnung degradierte, das Generationen von Priestern zu inaktiven Staatsbeamten erzog. Keine Rückkehr zu einem Bündnis von Thron und Altar, das das Gewissen der Gläubigen einschläferte und sie blind machte für die Gefahren der inneren Aushöhlung. Keine Rückkehr zum Protektorat einer Partei über die Kirche, das vielleicht zeitbedingt notwendig war, aber Zehntausende der Kirche entfremdete. Keine Rückkehr zu jenen gewaltsamen Versuchen, auf rein organisatorischer und staatsrechtlicher Basis christliche Grundsätze verwirklichen zu wollen.”

In dieser Mariazeller Deklaration hat die katholische Führung des Landes allen vergangenen Lebensformen des österreichischen Katholizismus abgeschworen, dem Josefinismus ebenso wie den dynastischen Bindungen, den Parteibindungen ebenso wie dem Versuch eines christlichen Ständestaates auf autoritärer Grundlage. Sie hat sich zu neuen Wegen in die . Zukunft bekannt.

Diese Entwicklung des Verhältnisses von Religion und Politik in Oesterreich läuft parallel mit einer Entwicklung in den Parteien selbst. Die bitteren Erfahrungen der Vergangenheit, die leidvolle Geschichte der Ersten Republik mit ihren politischen Auseinandersetzungen volleiner uns heute unverständlichen Schärfe und Härte, wollten sich die Parteien 1945 eine Lehre sein lassen. In der Demokratie sollte es gewiß politische Differenzierung, politische Diskussionen und politische Auseinandersetzungen geben, aber der politische Kampf sollte nicht mehr in Art von Religionskriegen ausgetragen werden.

Die Volkspartei hat diese Neuentwicklung am ehesten erkannt, indem sie sich nicht mehr als eine konfessionelle, katholische Partei konstituierte, sondern auf den gewiß nicht verleugneten Grundsätzen einer christlich-abendländischen Geisteshaltung eine Partei werden wollte, die allen Schichten des Volkes offen stand. Wir erinnern uns daran, daß die Volkspartei im Jahre 1945 mit dem Slogan in den Wahlkampf ging, daß sie die wahre österreichische Labour Party darstelle. Die Volkspartei ist diese Entwicklung konsequent weitergegangen, eine Entwicklung weg von der Betonung des Weltanschaulichen, zumal dann, als es galt, jene Schichten als Wähler zu gewinnen, die auf Grund ihrer liberalen oder nationalen Herkunft kaum von einer betont katholischen Partei anzusprechen gewesen wären. Bei der Sozialistischen Partei ging diese Entwicklung langsamer vor sich. Hier waren die Kräfte, die das weltanschauliche, in diesem Fall marxistische Gedankengut vertraten, stärker. Aber auch die Sozialistische Partei ist dem Gesetz jeder politischen Organisation unterworfen, dem Gesetz, mit allen Mitteln an die Macht zu kommen oder mit allen Mitteln diese Macht zu verteidigen, wobei unter diesen Mitteln die in der Demokratie erlaubten, ja notwendigen Maßnahmen der Werbung und der Lieberzeugung verstanden sind. Erst als die Sozialistische Partei erkannte, daß sie als marxistische Klassenpartei niemals die Mehrheit in Oesterreich erlangen konnte, so wie eine solche Mehrheit für die Volkspartei gewiß auch nicht als konfessionell katholische Partei gegeben wäre, erst in dem Maße begann sie, sich von ihrer alten weltanschaulichen Grundlage loszulösen und sich jenen Kreisen zu öffnen, die sie als sozial ihr zugehörig betrachtet, für die aber der doktrinäre Marxismus und seine antireligiöse und antikirchliche Haltung ein unüberschreitbares Hindernis bildete.

So richtig dies ist, so falsch wäre es jedoch, die in der letzten Zeit verstärkter zu beobachtende Aufgeschlossenheit der Sozialistischen Partei gegenüber den Wünschen der Katholiken, nun ausschließlich auf eine Aenderung in der politischen Taktik zurückzuführen. Auch die Sozialisten müssen mit dieser Aenderung ihrer Haltung einer geänderten Stimmungslage des Volkes, und vor allem jenes Teiles des Volkes, der in ihren Reihen steht, Rechnung tragen. In dieser Aenderung der sozialistischen Haltung spiegelt sich aber auch eine Aenderung der Sozialisten in ihrer Einstellung zu den Institutionen wider. Es ist nicht allein nur das Bestreben, ein verspätetes Alibi zu erlangen, sondern es steckt gewiß ein Gran Wahrheit darin, wenn die Sozialisten heute feststellen, daß sie in ihrer Jugendzeit deswegen die Kirche bekämpften, weil ihnen die Kirche als eine Funktion des Staates und der Gesellschaft erschien, gegen die sie das Lebensrecht der Arbeiter erkämpfen mußten und die sie nur als Gegner und als Feinde empfanden, die es zu vernichten galt. So wie die Sozialisten aus einer staatsverneinenden zu einer staatsbejahenden und den Staat tragenden Partei wurden, so mußten sie auch von einer Bewegung, die die Religion ablehnte und die Kirche bekämpfte, zu einer Partei werden, die den Frieden mit der Kirche suchte. So wie es heute nicht angeht, die Ehrlichkeit der Aenderung in der sozialistischen Haltung zum Staat anzuzweifeln, so glaube ich, ist es auch nicht gut möglich, den tatsächlichen Willen, mit der Kirche und den Katholiken zu einem Ausgleich zu kommen, nur als eine bloße Taktik, als ein bloßes Manöver abzutun.

Kann die Kirche von sich aus dieses Entgegenkommen, diesen Versuch einer Entspannung, kann sie hier Bedingungen stellen, und welcher Art wären diese Bedingungen?

Da ist nun gewiß der Marxismus! Und so sehr die Sozialistische Partei in ihrer Entideologisierung vom verpflichtenden Bekenntnis zum Marxismus abrückt, eine offizielle Verurteilung wird sie kaum riskieren wollen, will sie nicht jene vor den Kopf stoßen, die noch in dieser Ideologie aufgewachsen sind. Aber die Hunderttausende, die Millionen, die heute sozialistisch wählen, tun dies ja keineswegs, weil sie sich als „Marxisten” fühlen, sondern deswegen, weil ihre soziale Lage und ihre politische Tradition, vererbt vom Großvater auf den Enkel, es ihnen unmöglich erscheinen läßt, sich zu einer anderen Partei zu bekennen, als der ihres Standes. Sosehr sie sich als Arbeiter zu ihrer Partei bekennen, der sie ihre soziale Sicherheit und ihren sozialen Aufstieg zu verdanken glauben, sowenig wollen Zehntausende, ja Hunderttausende dieser Arbeiter mit ihrem politischen Bekenntnis ein weltanschauliches Bekenntnis ablegen.

Und damit kommen wir zu einer dritten Entwicklungslinie, die auch nicht von gestern oder vorgestern herrührt, die sich aber gerade jetzt mit den beiden anderen oben geschilderten Entwicklungslinien zu berühren scheint. Die Entwicklung nämlich, daß die Menschen selbst Politik nicht mehr als Weltanschauung betrieben sehen wollen, daß sie unterscheiden wollen, zwischen der Vertretung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Interessen, die sie in dieser oder jener Partei zu finden meinen, und ihren persönlichen, religiösen und weltanschaulichen Ansichten und Bedürfnissen. Die hunderttausende Arbeiter, die den Kern der sozialistischen Bewegung in Oesterreich bilden und die ihre Kinder in den Religionsunterricht schicken, sie sogar in die Katholische Jugend gehen lassen, die — wenn auch gewiß nur zum geringeren Teil — praktizierende Katholiken sind, sie haben die Frage Religion — Politik für sich gelöst. So wie auf der anderen Seite viele Zehntausende von Oesterreichern auch aus ihrer sozialen Stellung heraus seit Jahren zu den Anhängern der Volkspartei gehören, ohne irgendwelche Beziehungen zur Religion und Kirche zu haben. Niemand wird verlangen, daß die Volkspartei diese Menschen von sich stößt, weil sie sich kaum als Christen, geschweige denn als Katholiken empfinden und schon gar nicht mit ihrer politischen Haltung ein weltanschauliches Bekenntnis ablegen wollen. Kann jemand im Ernst von der Kirche verlangen, daß sie letztlich zehntausende Gläubige aus ihren Reihen stößt, die als Arbeiter nicht verstehen können, daß man von ihnen verlangt, eine Partei zu wählen, die sich selbst als „bürgerliche” Partei bezeichnet?

Man mag darüber streiten, ob es jemals eine lückenlose Kongruenz von Politik und Religion, von Partei und Kirche geben könnte. Es besteht aber kein Zweifel darüber, daß es dies heute in Oesterreich nicht gibt und nicht geben kann. Man mag es beklagen oder begrüßen, es ist jedenfalls eine Tatsache, daß sich die Parteien in Oesterreich und nicht nur seit heute und gestern ihres weltanschaulichen Charakters entkleiden, daß sie immer mehr zu Vertretern wirtschaftlicher und sozialer Interessen werden.

Die Aufgabe der Kirche, vor .allem die seelsorgliche, kann sich jedoch niemals auf zeitbedingte Erscheinungen beschränken. Die Kirche wird sich nicht mit einem Kulturkreis, auch nicht mit dem abendländischen Kulturkreis identifizieren, noch viel weniger mit einem bestimmten sozialen oder wirtschaftlichen System. Das bedeutet jedoch nicht, daß die Kirche nicht das Recht oder die Pflicht habe, sich zu diesen Systemen zu äußern. Der Auftrag der Kirche reicht hier über die private Sphäre weit hinaus und berührt Grundfragen des öffentlichen gesellschaftlichen Lebens. Das heißt auch nicht, daß die Katholiken als Staatsbürger aus ihrer gegebenen wirtschaftlichen und sozialen Lage heraus nicht bestimmte Ansichten haben können und daß sie diese Ansichten nicht auch als Katholiken vertreten können. Und das heißt schließlich auch nicht, daß es nicht zu Formen echter Kooperation, ehrlicher Zusammenarbeit der Katholiken mit den Parteien kommen könnte. Eine Kooperation organisierter Katholiken oder kirchlicher Institutionen mit den Parteien setzt jedoch gegenseitige Respektierung und gegenseitige Unabhängigkeit voraus. Die Kirche oder die Religion darf auf der einen Seite nicht zu einer Art ideologischen Facette oder gar einem Zweckverband einer Partei werden, die Partei aber auch nicht Exekutivorgan der Kirche. Aehnlich wie sich in der modernen Gesellschaft eine verständnisvolle Zusammenarbeit, auf Grund der Respektierung der Eigenrechte zwischen Staat und Kirche, herangebildet hat oder sich heranzubilden im Begriffe ist, kann sich eine ähnliche Scheidung, Respektierung, aber auch Kooperation zwischen der Kirche und ihren Institutionen und den politischen Parteien als Träger der Staatspolitik in den Massendemokratien herausbilden. Auf die österreichische Gegenwart übertragen heißt dies, daß die Parteien nicht verlangen können, daß die Kirche ihre Interessen vertritt, daß aber auch die Kirche nicht verlangen kann, daß die Parteien ihre eigenen Zielsetzungen hinter den Wünschen der Kirche zurückstellen.

Je klarer dies erkannt wird, je reinlicher hier die Scheidungen sind, je eher die Katholiken bereit sind, das Eigenrecht und das Eigeninteresse der Parteien und die Parteien wiederum das Eigenrecht der Kirche, aber auch das Recht der eigenen politischen Entscheidung des einzelnen Katholiken anzuerkennen, desto eher wird sich aus dem gegenwärtigen Zustand einer gewissen Verwirrung eine echte Zusammenarbeit ergeben. Voraussetzung ist der Ausschluß jedes Monopolanspruches. Es wird niemand bestreiten, daß es einen Idealzustand darstellen würde, wenn es den Katholiken möglich wäre, als Katholiken in allen Parteien katholische Anliegen zu vertreten. Diese katholischen Anliegen reichen ja über die Grenzen der Parteien weit hinaus. So ist zum Beispiel das Konkordat, wie dies kürzlich Unterrichtsminister Dr. Drimmel erklärte, ein solches Anliegen aller österreichischen Katholiken, gleichgültig in welchem politischen Lager sie stehen. Wenn wir in Oesterreich heute noch nicht dieselben Verhältnisse haben wie in England oder Amerika oder zum Teil auch in Frankreich, wo Katholiken in den verschiedensten Parteien führend tätig sind, so dürfen die Katholiken und darf die Kirche den Weg zu einer solchen Entwicklung von sich aus wohl nicht versperren.

Politische Konstellationen und Entwicklungen, die heute für den oberflächlichen Betrachter den Anschein des Ueberraschenden und Sensationellen tragen, sind in Wirklichkeit nur die Folge von Entscheidungen im geistigen Raum, die schon vor vielen Jahren gefallen sind. Die Volkspartei hat im Jahre 1945 bewiesen, daß sie dieser neuen Entwicklung wohl zu entsprechen versteht. Sie wird sich auch durch manche, vielleicht überraschende Entscheidungen im politischen Raum nicht verleiten lassen, diese dadurch korrigieren zu wollen, daß sie auf Lösungsmöglichkeiten von vorvorgestern zurückgreift. Diese Möglichkeiten sind heute nicht mehr gegeben. Sie wird auch verstehen, daß die Kirche diese Lösungen der Vergangenheit heute nicht akzeptieren kann. Nach einem Wort des Theoretikers des Austromarxismus, Dr. Otto Bauer, ist es das Schicksal der Kirche, immer gemeinsam mit ihren Feinden von vorgestern gegen die Feinde von morgen zu kämpfen. Der Sozialismus, so wie er sich heute in Oesterreich repräsentiert, ist für die Kirche ein Feind von gestern. Der Feind von morgen steht anderswo. Die Volkspartei und ihre Vorläuferin war ein Freund von gestern, warum sollte sie nicht auch ein Freund von morgen sein? Monopolansprüche aber schaden nur der Freundschaft. Denn die Kirche ist für alle da.

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