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Kleine Koalitionskrise

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Diese Affäre war noch nicht bereinigt, als es zu einem heftigen Konflikt zwischen der CDU/CSU und der FDP kam, der sich zu einer kleinen Koalitionskrise auswuchs. In der Beratung über die Reform des Kindergeldes wurde die CDU/CSU mit ihrem Antrag, das Kindergeld erst ab 1. Juli 1964 auf den Bundeshaushalt zu übernehmen, von der SPD und FDP überstimmt, die eine Vorverlegung auf den 1. April forderten. Hier war freilich die CDU in eine selbstgebastelte Falle gerannt. Schon am Vortag nämlich hatte die FDP erklärt, daß sie gegen den Antrag der CDU/CSU stimmen werde. Der amtierende Fraktionsvorsitzende, Rainer Barzel, aber hatte geglaubt, auf einen Zerfall der Einigkeit der FDP-Fraktion rechnen zu können. Als nun das Unglück geschehen war, bemächtigte sich der CDU-Fraktion ungeheure Erregung. Man sprach von Koalitionskrise, und Altbundeskanzler und Parteivorsitzender Konrad Adenauer forderte seinen Nachfolger auf, die FDP energisch zur Raison zu bringen. Dabei schwang in seinen Worten auch etwas Schadenfreude darüber mit, daß Erhard nun dasselbe widerfahren war, was ihm das Regieren in den letzten beiden Jahren so sauer gemacht hatte. Anstatt die eigentlich Schuldigen heranzuziehen, sprang Erhard sofort in die Bresche und berief eine Sondersitzung des Kabinetts ein. Auf ihr brachte er zwar die FDP auf seine Linie, aber er mußte ihr ein Zugeständnis machen, das ihm in den nächsten Wochen noch einigen Kummer bereiten wird. Die FDP ließ sich versprechen, daß das geplante Gesetz über die Lohnfortzahlung erkrankter Arbeiter nur mit Zustimmung der FDP beschlossen werden soll. Da der linke Flügel der CDU hier in scharfer Opposition zur FDP steht, so dürfte es darüber noch zu heftigen Auseinandersetzungen kommen.

So ist Erhard auf einmal in den Parteienstreit geraten und mußte erleben, daß er zur FDP und SPD in einen ähnlich scharfen Gegensatz geriet wie sein Vorgänger. Ob das Vorgehen der FDP in der Kindergeldfrage sehr überlegt war, muß allerdings bezweifelt werden. Die FDP müßte sich darüber im klaren sein, daß ihre Aufgabe in der Koalition darin besteht, Erhard den Rücken gegen die Scharfmacher seiner Partei zu stärken. Jedes Uberstimmen im Bundestag aber treibt Erhard schon aus Prestigegründen in deren Arme.

In der Passierscheinfrage aber ist ein Gegensatz zwischen Erhard und Brandt aufgebrochen, der sich im nächsten Jahr vielleicht noch verschärfen wird, weil dabei die ersten Position im Wahlkampf bezogen wurden. Seit Brandts Wahl zum Vorsitzenden der SPD ist die Berlinfrage in Gefahr, in den Wahlkampf einbezogen zu werden. Der plötzliehe Wechsel in der Haltung der CDU/CSU dürfte davon höchst bestimmt worden sein. Umfragen haben nämlich ergeben, daß etwa 75 Prozent der Bundesbürger in der Passierscheinregelung zu Weihnachten einen großen Erfolg Brandts sahen. Etwa mit dem Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Umfrage versteifte sich die Haltung der CDU. Ob allerdings die CDU durch eine Haltung, wie sie Barzel propagiert, etwas gewinnen wird, ist mehr als fraglich. In Berlin hat sie sich vor einem Jahr ihre böseste Niederlage dadurch zugezogen. Anderseits war Brandts Erklärung auch nicht ganz überlegt. Gerade in der Frage der Berlinpolitik muß jeder Alleingang des West-Berliner Senats böse Folgen haben und zur Bestätigung der von Ulbricht vertretenen Dreistaatentheorie führen. Brandt kann sich kein Abweichen von der Außenpolitik der Bundesregierung leisten. — Er riskiert mit solchen Erklärungen nur, zur Zurücknahme gezwungen zu werden, was seinem Ruf als Außenpolitiker auf die Dauer nicht bekommen kann. Seine Stellung als Haupt der Opposition und Regierender Bürgermeister von Berlin wird um so schwieriger werden, je härter er und Erhard im Wahlkampf aneinandergeraten. In Berlin und für Berlin braucht Brandt einen Bundeskanzler, der unabhängig von Parteirücksichten hinter ihm steht. Als Haupt der Opposition muß ihm ein solcher Kanzler höchst unangenehm sein.

Ein solcher Kanzler ist das Gebot der Stunde. Erhard schien bisher dieser Maxime folgen zu wollen. Sollte er aber die Befürchtungen wahr machen, die vor seiner Wahl zum Bundeskanzler weit verbreitet waren, daß er nämlich zu weich sei, um seine Politik gegen seine eigene Partei durchzusetzen, so kann er, falls Brandt sich zurückhält, 1965 eine böse Überraschung erleben. Den nächsten Wahlkampf wird nämlich der gewinnen, der Deutschlands Interessen am überzeugendsten vertritt. Dos verlangt von Brandt Zurückhaltung und von Erhard, daß er über den Parteien steht. Läßt er sich von seinen Wahl-strategeri zu einen Wahlkampf ä la Adenauer verleiten, so kann er nur verHereri. Dieses Metler hat er noch1 nie verstanden, und seiner eigenen Partei wird es nicht verborgen bleiben, daß sie dafür in ihren eigenen Reihen geeignetere Kandidaten hat als Ludwig Erhard, dessen Chance darin besteht, ein Kanzler des ganzen deutschen Volkes zu sein.

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