Knöcheltief in Brasiliens POLIT-SUMPF

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Die Olympischen Spiele von Rio 2016 beginnen. Während Brasiliens Industrie Schönwetter für die Wirtschaft des Landes macht, versinkt das Land in seinem Korruptionschaos.

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Die Olympischen Spiele von Rio 2016 beginnen. Während Brasiliens Industrie Schönwetter für die Wirtschaft des Landes macht, versinkt das Land in seinem Korruptionschaos.

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Spielt Brasilien weiter in der ersten Wirtschaftsdivision?" Zu einem Seminar mit dem Titel hatte die Wirtschaftskammer (WKÖ) am 27. Juni geladen. Als wichtigster Gastredner hielt Thomaz Zanotto, Direktor der Industrie- und Gewerbekammer des Bundesstaates São Paulo (FIESP) ein Plädoyer für mehr Investitionen in seinem Land. Es werde nicht von Grenzkonflikten geplagt, es habe kein Immigrationsproblem und keinen Terrorismus: "Brazil is a country where you can make money". Dieses wirtschaftsfreundliche Klima sei dem Umstand zu verdanken, dass jetzt wieder die richtigen Leute an den Schalthebeln der Macht sitzen. Zanotto reagierte höchst ungehalten auf Einwürfe aus dem Publikum, in Brasilien habe eine korrupte Clique via Putsch die Macht übernommen.

Die vorübergehende Absetzung von Präsidentin Dilma Rousseff sei verfassungskonform, versicherte der Wirtschaftsboss sichtlich erregt. "Leute wie Sie haben wir satt!", beschied er der Teilnehmerin, die erkennbar nicht dem Umfeld der Wirtschaftskammer entstammte. Die sozialistische Regierung habe die Demokratie kaputt gemacht. Einwände, dass nicht die Präsidentin, sondern viele der Abgeordneten, die für ihre Absetzung gestimmt haben, unter Korruptionsverdacht stehen, ließ er nicht gelten.

Tatsächlich wird Rousseff nicht der Korruption bezichtigt. Was man ihr vorwirft, sind Budgettricks, die im Wahlkampf die Wirtschaftslage besser aussehen ließen. Zanotto verstieg sich zu einem gewagten Vergleich: Auch den Mafia-Boss Al Capone habe man im Chicago der 1930er-Jahre nicht wegen Mordes und Drogenschieberei verurteilt, sondern wegen eines Steuervergehens. Das konnte man ihm nachweisen, schwere Verbrechen nicht.

Tobender Machtstreit

Es ist umstritten, ob die Suspendierung Rousseffs rechtens ist, denn das von der Verfassung von 1889 vorgesehene Impeachment ist nur dann möglich, wenn der Rechtsbruch in der laufenden Amtsperiode stattgefunden hat. Außerdem erweckten die Abstimmungen in Senat und Abgeordnetenkammer den Eindruck eines politischen Rachefeldzuges gegen die Linke, die Brasilien zwölf Jahre erfolgreich regiert hatte. Da erschienen Abgeordnete zum zehnstündigen Abstimmungsmarathon in die Flagge ihrer Bundesstaaten gehüllt und gaben ihre Stimme mit großem Pathos "für die Verfassung", "für meine Frau" oder für ihre evangelikale Kirche ab. Wes Geistes Kind er ist, enthüllte der christdemokratische Mandatar Jair Bolsonaro -auch "Bolsonazi" genannt - der seine Stimme dem berüchtigten Folterer Carlos Alberto Brilhante Ustra widmete. Denn der, so Bolsonaro wörtlich "hat es Dilma richtig besorgt", als sie während der Diktatur von der Geheimpolizei gefoltert wurde.

Nach der Abstimmung im Mai wurde in Windeseile ein neues Kabinett angelobt, das ein Spiegelbild des Parlaments ist: weiße, begüterte Männer, die in der Politik sind, um persönliche oder Lobby-Interessen zu vertreten. Der mit Einsparungen erklärten Verschlankung des Kabinetts fielen die Ministerien für Frauen, Rassengleichheit und Menschenrechte, zunächst auch das Kulturministerium zum Opfer. Nachdem Künstler aus Protest öffentliche Gebäude in Brasilia besetzten, wurde zumindest Letzteres erhalten. Eingespart werden auch das Landreforminstitut und der Rechnungshof. Neu ist ein Privatisierungsministerium. Der weltgrößte Sojaproduzent Blairo Maggi, der für die Abholzung enormer Regenwaldflächen im Bundesstaat Mato Grosso verantwortlich ist und Umweltverträglichkeitsprüfungen abschaffen will, bekam das Landwirtschaftsministerium übertragen. Marcos Pereira, ein evangelikaler Pastor und Kreationist, wurde Handelsminister. Mehrere Kabinettsmitglieder stehen unter Korruptionsverdacht. Auch gegen Interimspräsident Michel Temer selbst und gegen Planungsminister Romero Jucá laufen Ermittlungen wegen des Bestechungsskandals im staatlichen Erdölkonzern Petrobras.

Zufriedene Wirtschaftstreibende

Uneingeschränkt zufrieden mit den politischen Entwicklungen ist die Unternehmerschaft. Denn Privatisierungen werden vorangetrieben, die Rechte der Arbeitnehmer eingeschränkt. So kürzte die Regierung die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall um 30 Prozent. Die Demonstrationen haben nach der Suspendierung Rousseffs nicht aufgehört. Allerdings ist jetzt nicht mehr die Mittelklasse auf der Straße, sondern eine bunte Mischung von Armen und Intellektuellen, die das Impeachment-Verfahren als kalten Putsch sehen. Der Vorwurf des Gesetzesbruchs wirkt reichlich konstruiert. Denn die Budgettricks, die man Rousseff nachweisen konnte, waren und sind auf vielen Ebenen der brasilianischen Politik gängige Praxis.

Im brasilianischen Parlament haben die Klubchefs ihre Fraktionen nicht unter Kontrolle und können daher keine glatten Abstimmungsergebnisse für die Regierungsmehrheit garantieren. Von den 28 Parteien im Kongress in Brasilia stellen nur acht jeweils mehr als fünf Prozent der Abgeordneten. Stärkste Fraktion ist mit 13 Prozent die PMDB von Übergangspräsident Michel Temer. Die Arbeiterpartei (PT) von Dilma Rousseff hält nur elf Prozent der Mandate. Jede Regierung benötigt also eine hoch komplizierte Koalition, um ihre Gesetze durchzubringen. Selbst der populäre Lula da Silva musste sich mit rechten Parteien verbünden. Parteiloyalitäten spielen aber - mit Ausnahme der PT - eine untergeordnete Rolle.

Eingekaufte Abgeordnete

Denn viele Abgeordnete werden von jenen Interessengruppen, die ihnen den Wahlkampf bezahlen, ins Parlament geschickt. Die Wähler können für eine Liste, eine Partei oder auch für einen einzelnen Kandidaten stimmen. So suchen sich die Parteien Stimmenfänger, die jeder kennt. Die meisten Stimmen bekam zuletzt der bekannte Clown Francisco Everardo Oliveira Silva, der ohne die geringste politische Erfahrung ins Parlament kam. Ähnliches gilt für den Fußballer Romário de Souza Faria oder evangelikale Fernsehprediger.

Bei den meisten Abstimmungen entscheiden die Lobby-Gruppen, die parteiübergreifend organisiert sind. So können 153 der insgesamt 513 Abgeordneten dem agroindustriellen Komplex und 217 der Unternehmerschaft zugeordnet werden. Die Evangelikalen stellen insgesamt etwa so viele Abgeordnete wie die Arbeiterpartei, nämlich knapp mehr als zehn Prozent, auch Interessenvertreter der Gewerkschaften, der Frauen und Vorkämpfer für die Sicherheit finden sich fraktionsübergreifend zusammen. Seit der Bundesgerichtshof 2007 mit der "Anhängertreue" eine Art Klubzwang light verordnet hat, haben diese Lobbys nicht mehr dieselbe Durchschlagskraft wie vorher. Aber im Ausnahmefall sind Abweichungen immer noch erlaubt.

Bei anhaltendem Wirtschaftswachstum konnten die PT-Regierungen unter Lula und Rousseff ihre Koalitionen zusammenhalten. So konnte die Verdoppelung des Mindestlohnes durchgesetzt werden, die mit sinkender Arbeitslosigkeit und weniger Ungleichheit einherging. Die extreme Armut konnte von 15 auf vier Prozent gesenkt werden. Gleichzeitig verzeichneten wichtige Industriezweige wie Automobilbranche, Bauunternehmen und Finanzsektor hohe Profite. So waren alle zufrieden. Seit dem Sinken der Rohstoffpreise und dem Nachgeben der Konjunktur ist es nicht mehr möglich, Arm und Reich gleichermaßen zu bedienen. Die Demonstrationen werden wohl auch während der Olympischen Spiele anhalten.

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