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Kommt das Jahr 1929 wieder?

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Seit der renommierte Harvard-Ökonom. Galbraith vor kurzem feststellte, „der Wahnsinn von 1929 wiederholt sich“, ist die aufgeworfene Frage als legitim zu bezeichnen; dennoch erscheint sie übertrieben und in gewissem Sinne irreführend. Die Frage erscheint übertrieben, weil sich .mit ihr die Vorstellung verbindet, als ob die Vollbeschäftigung in der Welt ernstlich gefährdet sei; sie scheint irreführend, weil sie übersieht, daß die Verantwortlichen in Theorie und Praxis vieles gelernt haben, was man 1929 noch nicht wissen konnte und weil heute nicht eine weltweite Deflation droht, sondern inflationäre Prozesse in Gang sind, die nicht unterschätzt werden dürfen.

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Seit der renommierte Harvard-Ökonom. Galbraith vor kurzem feststellte, „der Wahnsinn von 1929 wiederholt sich“, ist die aufgeworfene Frage als legitim zu bezeichnen; dennoch erscheint sie übertrieben und in gewissem Sinne irreführend. Die Frage erscheint übertrieben, weil sich .mit ihr die Vorstellung verbindet, als ob die Vollbeschäftigung in der Welt ernstlich gefährdet sei; sie scheint irreführend, weil sie übersieht, daß die Verantwortlichen in Theorie und Praxis vieles gelernt haben, was man 1929 noch nicht wissen konnte und weil heute nicht eine weltweite Deflation droht, sondern inflationäre Prozesse in Gang sind, die nicht unterschätzt werden dürfen.

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Die gegenseitige Verflechtung der Industrieländer hat im Waren- und Leistungsverkehr einen vor 40 Jahren nicht gekannten Grad erreicht. Diese Abhängigkeit macht die Wirtschaft einerseits anfällig für die internationale Übertragung von Lohn- und Preissteigerungen, Zinsbewegungen und güterwirtschaftlichen Veränderungen in wichtigen Ländern, sie bewirkt aber gleichzeitig, daß eine echte „Flucht in die Isolation“ nicht mehr möglich ist, daß also kein Land das Interesse an seinen Partnern verlieren kann. Niemand kann heute hoffen, aus dem Prozeß des Sich-ins-Schnecken-haus-Zurückziehens einen entscheidenden Vorteil zu ziehen. Im Gegenteil, jeder weiß, daß in seiner Ausfuhr- und Einfuhrwirtschaft ein großer Teil des nationalen Wohlstandes begründet liegt. Dazu kommt, daß in der Gegenwart in Europa schon die leisesten Anzeichen einer wirklichen Gefährdung der Vollbeschäftigung mit zum Teil massiven Mitteln beantwortet werden, und daß im Rahmen der OECD, der EWG und anderer internationaler Organisationen ein Minimum an wirtschaftspolitischer Abstimmung bereits in die Wege geleitet und praktiziert wird.

So töricht es wäre, ernsthaft eine Entwicklung zu Massenarbeitslosigkeit, Devisensperren, finanziellen Zusammenbrüchen und gegenseitiger Abschnürung zu erwarten, so unvernünftig wäre es auch jene Spannungssymptome auf einzelnen Fi-nanzmärkten übersehen zu wollen, die international ausgeprägten Inflationstendenzen zu ignorieren und so zu tun, als ob alles zum Besten stünde. Die Antwort auf die im Titel gestellte Frage soll natürlich kein „Jein“ sein, sie ist, was die güterwirtschaftlichen Seiten der beginnenden dreißiger Jahre anlangt, mit einem Nein zu beantworten, erfordert aber, was die internationalen Finanzbeziehungen anlangt, eine1 differenzierte Behandlung. Was Unbehagen verursacht, sind das starke Fallen der Preise an den internationalen Wertpapierbörsen, die Schwierigkeiten des „wankenden Finanzimperiums IOS“, das Mißtrauen in die Leitwährung Dollar sowie in die Haltbarkeit der Wechselkursrelationen mancher Devisen, und die in gewissem Sinne ganz neue Erfahrung, daß es trotz hoher Inflationsraten erhebliche Arbeitslosigkeit geben kann.

Wenden wir uns zuerst den Wertpapiermärkten zu. Was die Aktienbörsen anlangt, so ist in Europa die große Erholungsphase (Ende 1966 bis Sommer 1969) vorübergegangen; auf die erheblichen Kursbesserungen jener Zeit sind im Zusammenhang mit den Entwicklungen der Leitbörse New York ziemlich einschneidende Kurssenkungen gefolgt. Diese allein wären noch kein Unglück, wenn dahinter nicht auch eine gewisse Entzauberung verschiedener Institutionen und vielgepriesener Finanzmanager stünde, die — und das ist ein großer Unterschied zu 1929 — nicht innerhalb, sondern außerhalb des Bankapparates zu suchen sind.

Schon vor zehn Jahren, so wußte kürzlich eine vielzitierte deutsche Zeitschrift zu berichten, hatte Hermann Abs, Sprecher der Deutschen Bank, in bezug auf die IOS vorausgesagt: Das wird der größte Finanzskandal der sechziger Jahre. Das Magazin fügte hinzu: „Abs verschätzte sich nur um vier Monate.“ Mit diesem Zitat sind wir bei einer Ursache der gegenwärtigen Unsicherheit an den internationalen Wertpapierbörsen, einer Ursache, die in bezug auf die Vertrauenskomponente der Wertpapieranlage nicht unterschätzt werden soll. Aber es wäre zu einfach, die verschiedenen Unsicherheiten, die es an den Finanzmärkten der Welt gibt, mit drei Buchstaben erklären zu wollen. Hier zeigt sich auch, wie eng in der heutigen Presse das Hosianna und das „Kreuziget ihn!“ zusammenliegen. So brachte ein großes Wirtschaftsmaga-zin in der Nummer 3/1970 noch im Inhalt den kritiklosen Titel „IOS-Cornfeld: Jährlich 80 Prozent mehr Gewinn“, während in der Nummer 6/1970 desselben Magazins auf der Titelseite ein in Flammen stehendes IOS-Symbol mit dem Titel „Rettung nach der Pleite“ steht. Vielleicht gehört auch dieser Wankelmut und die auf Opportunität beruhende Haltung eines Teiles der Publizistik zur Unsicherheit der heutigen Welt. Heute so, morgen so. Der Leser hat hoffentlich vergessen, was in der vorletzten Nummer stand!

Aber nicht nur an den Aktienmärkten herrscht Unsicherheit! Wenn es heute an den internationalen Anleihemärkten erstklassige Schuldner gibt, die für ihre Anleihestücke neun Prozent und mehr Zinsen bewilligen müssen, und wenn nicht nur der Finanzplatz New York durch die seit Jahren wirksame Zinsausgleichsteuer in seiner Leistungsfähigkeit beeinträchtigt ist, sondern unlängst auch in der Schweiz ein unbefristeter Stop für Auslandsanleihen eingeführt wurde, weil man nach verschiedenen Mißerfolgen mit Aus-landsemissionen und angesichts eines hohen Finanzibedarfes von schweizerischen Anleiheschuldnern einen unzureichenden Zufluß an Spargeldern feststellte, so dienen derartige Entwicklungen, noch dazu im Zusammenhang mit einmalig hohen Zinsen, nicht dazu, das nun einmal notwendige Vertrauensklima positiv zu beeinflussen.

Vor allem darf nicht übersehen werden, daß es nicht nur die internationalen Wertpapiermärkte sind, die von einer keineswegs wohltuenden Unruhe getrieben werden, sondern daß als Ausgangspunkt für diesbezügliche Unsicherheiten in den letzten Jahren auch die Devisenmärkte gesehen werden müssen. Die Unruhen um die deutsche, englische, französische, italienische Währung und die skeptische Einschätzung der amerikanischen Währung waren auch nicht aus der Luft gegriffen, sondern durch eindrucksvolle Zahlenreihen (Preisentwicklung, Aus1 ands Verschuldung, Zahlungsbilanz, unsichtbare Transaktionen) verursacht. Schon bei kleinsten technischen Änderungen, wie beim Alleingang Kanadas in der Frage einer begrenzten Freisetzung der Wechselkurse, wird das ganze Dollarpro-blem gewissermaßen wieder hervorgeholt. Weil sich viele Länder und Verantwortliche, die von der Überbewertung der US-amerikanischen Währung überzeugt sind, nicht dazu verstehen, den als unbefriedigend empfundenen Zustand durch entsprechende Vorkehrungen ihrerseits zu korrigieren, erhöhen sich Spannung und Nervosität. Neben den Unruhen auf den nationalen Devisenmärkten und den Wertpapiermärkten kommt noch die Skepsis gegenüber dem sogenannten Euro-Dollarmarkt hinzu, der den Handel mit allen jenen Dutzenden Milliarden amerikanischer Dollars betrifft, die nicht zwischen New York und den übrigen Finanzplätzen gehandelt werden, sondern außerhalb der USA und der offiziellen Notenbankreserven umlaufen.

Als weiteres Element der Beunruhigung im internationalen Geldwesen sind die Inflationssymptome zu nennen, die sowohl im Leitwährungsland USA als auch in Europa beobachtet werden. Galt es früher einmal als eine Regel, daß in Amerika die Arbeitslosenrate und die Preissteigerung zusammenaddiert sechs Prozent betragen, also beispielsweise dreieinhalb Prozent Arbeitslosigkeit und zweieinhalb Prozent Preissteigerungsrate, so steht man dieser Faustregel angesichts derzeit fünfprozen-tiger Arbeitslosenrate und sieben-prozentiger Preissteigerung hilflos gegenüber. Die westliche Welt hat gelernt, mit einer jährlichen Preissteigerungsrate von etwa drei Prozent zu leben, nicht aber mit einer doppelt so hohen.

Fassen wir die Überlegungen zusammen: Keine generelle Wirtschaftskrise, keine generelle Finanzkrise, aber schwere'Beeinträchtigung gen einzelner Märkte, erhebliche Einbußen an Vertrauen in gewisse Vertriebs- und Anlageformen, Fortbestand des Mißtrauens in eine Reihe von Währungen sowie in die Fähigkeit und (oder) den Willen der Regierungen, die Dinge in kurzer Zeit in ein ruhiges Fahrwasser zurückzusteuern. Niemand soll sich wundern, wenn er Sonderbares von den internationalen Devisen- und Wertpapiermärkten vernimmt.

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