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Kommt ein roter Napoleon”?

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Ausgelöst durch das Unbehagen, ja den zeitweisen Alpdruck ob der Leistung des weit-’ revolutionären Sowjetstaates, hegt die westliche Welt seit Jahrzehnten den eigenartigen Wunschtraum: die russische Armee, geführt von ihren Generälen, ergreift eines Tages die Macht, und die dadurch verwirklichte Militärdiktatur verwandelt schlagartig den revolutionären Sowjetstaat wiederum in ein friedliebendes Rußland, mit dem wieder vernünftig zu reden sein wird. Insbesondere nachdem sich der große gemeinsame Sieg über den deutschen .Nationalsozialismus in den gegenseitigen kalten Krieg umgekehrt hatte, ist dieses Wunschdenken vor allem in den Vereinigten Staaten Amerikas ein wesentlicher Bestandteil der außenpolitischen Spekulation geworden. Jede politisch noch so geringfügige Aenderung in Moskau und jeder irgendwie bedeutendere Personenwechsel im Kreml lassen jeweils eine Flut von Gerüchten aufkommen über die mögliche Machtübernahme durch einen sowjetischen Marschall.

In letzter Zeit ist besonders die Person Marschall Schukows Gegenstand von Spekulationen der erwähnten Art. In den Augen von Amerikanern ist Schukow geradezu das russische Gegenstück zu General und Präsident Eisenhower, der politisch profilierteste Heerführer der Sowjetunion, der insbesondere während der Endphase des zweiten Weltkrieges alle seine Mitgeneräle an Popularität überrundet und nach errungenem Sieg über die Trümmer des zusammengebrochenen Hitlerreiches dem amerikanischen Oberbefehlshaber die Hand gereicht hat, ein Kriegs- und Waffenkamerad Eisenhowers also, ja beinahe dessen intimster Freund. Wenn also Marschall Schukow, so wird argumentiert, die Macht im Kreml übernähme, dann würden sich auf einen Schlag alle Probleme lösen lassen. Unzweifelhaft würden die beiden Kriegskameraden an der Spitze der beiden Weltreiche sich in die Arme fallen, und einer geplagten Welt wären Friede und Eintracht gesichert. Der neueste Szenenwechsel im Kreml, der Sturz der „konservativen” Opposition innerhalb der obersten Parteileitung hat naturgemäß erneut all diesem Wunschdenken mächtigen Auftrieb verschafft. Bereits gehen Gerüchte um, daß demnächst Marschall Schukow an Stelle Bulganins die Ministerpräsidentenschaft übernehmen werde.

Niemand kann hier den Propheten spielen, nicht einmal die unmittelbar Beteiligten. Denn die sowjetische Entwicklung bewegt sich nach ganz eigenen Gesetzen. Das politische Leben des riesigen Sowjetreiches konzentriert sich im engen Rahmen einer einzigen Partei, der höchstens fünf Prozent der Staatsbürger angehören. Damit aber diese einzige politische Körperschaft auch nur eine einzige politische Richtung vertrete und so ihre monolithische Struktur bewahre, ist ihr Leben in den noch engeren Rahmen des Zentralkomitees mit seinen kaum 200 Mitgliedern: die Ersatzmänner mit eingerechnet, eingezwängt und schließlich noch in das noch kleinere Gremium des Parteipräsidiums.

Jedesmal wenn nun diese erste Parteispitze vor allem innenpolitisch schwerwiegende Entscheidungen zu treffen hatte, bildeten sich naturgemäß verschiedene Auffassungen heraus. Ebenso mußten auch jedesmal die Vertreter der unterlegenen Richtung, wenn auch nicht immer so dramatisch wie kürzlich, ausscheiden. Es liegt durchaus nicht außerhalb des Bereiches des Möglichen, daß bei der Ersetzung der Ausgeschiedenen auch einmal auf Schukow gegriffen wird, nicht auf den „Marschall”, sondern auf den Kommunisten „Schukow”, wobei wie bei Marschall Woroschilow aus dem einstigen sehr prachtvollen Marschall ein weniger farbiger Zivilist würde.

Es ist ratsam, die politische Bedeutung der Armee nicht zu überschätzen, denn diese besitzt in der Sowjetunion kein besonderes politisches Gepräge. Vor allem, wenn nicht sogar ausschließlich, wird die Stimmung in der Armee von der Mannschaft, ausgehoben auf Grund der allgemeinen Wehrpflicht, gebildet. Und das ist die Stimmung, welche in den Bevölkerungsschichten herrscht, aus welchen die Soldaten in die Armee einrücken und nach abgeleisteter Dienstpflicht wieder zurückkehren. Noch in der jüngsten Vergangenheit war die russische Armee eine ausgesprochene Bauernarmee. Darum war es schon 1917 nicht die Armee im politischen Sinn, welche die Revolution gemacht hat, sondern es waren vielmehr die Bauern im Soldatenrock und mit dem Gewehr in der Hand. Ebenso war es 1922 beim Kronstäatei Aufstand, der Lenin gezwungen hat, den wirtschaftlichen Wünschen der Bauern nachzugeben. In den letzten Jahren hat sich die soziale Struktur der Sowjetarmee in etwa verändert. Die Soldaten aus dem städtischen Milieu sind infolge der zunehmenden Industrialisierung gegen früher stärker vertreten. Auch das Berufsoffizierskorps kann man trotz seiner Aeußerlichkeiten nicht als eine politisch in sich geschlossene Kaste betrachten. Dafür ist es zu jung. Die Mehrzahl seiner Mitglieder sind Bauern- oder Arbeitersöhne. Zum Offiziersberuf kamen sie beinahe alle durch die Partei oder dann vor allem durch den kommunistischen Jugendbund. Damit ist gegeben, daß das Offizierskorps einstweilen und wohl noch für lange Zeit keine von der Partei unabhängige Sonderkraft darstellt. Dasselbe gilt von der Gruppe der Marschälle. Auch sie bilden keine in sich geschlossene Einheit. Zweifelsohne gibt es in ihr Freundschaften, jedoch auch Eifersüchteleien. Alle Marschälle sind natürlich überzeugte Kommunisten. Das heißt jedoch nicht, daß sie politisch besonders aktiv sind. Vielmehr betätigen sie sich fast ausschließlich nur als einfache Parteimitglieder. So hat der Kriegsminister in der Regierung keine irgendwie politisch geschlossene Sonderkörperschaft mit Sonderinteressen hinter sich. Die Parteiorganisationen in der Armee funktionieren genau so wie in allen übrigen Bereichen der

Sowjetunion, zum Beispiel in der Industrie oder in der Landwirtschaft. Die Instruktionen kommen von ein und derselben Stelle. Als in den letzten Tagen die Parteiorganisation der Moskauer Garnison tagte, um die Beschlüsse des Zentralkomitees zu billigen, so taten dies zur gleichen Zeit und in der gleichen Weise auch alle anderen Parteiorganisationen der verschiedenen Industriebetriebe oder der verschiedenen Berufsarten. Allein das Ausland mißt den militärischen Parteiorganisationen und, im vorliegenden Fall, ihren Zusammenkünften eine besondere Bedeutung zu. Ein Grund hierzu liegt jedoch nicht vor.

Der Verteidigungsminister in der Sowjetunion besitzt keineswegs jene Machtstellung, die ihm im Westen zugeschrieben wird. Trotzki, welcher die Rote Armee geschaffen und innerhalb ihrem Offizierskader weit mehr persönliche Anhänger als. je ein Marschall heute besessen hat und vor allem als Vorsitzender des Kriegsrevolutionsrates eine weit einflußreichere Position einnahm, konnte einst geradezu schmerzlos von einer Stunde auf die andere entmachtet werden.

Wie in vielen anderen Staaten ist auch in der Sowjetunion der Kriegsminister der Chef der Militärverwaltung. Die Tradition macht ihn zum rangältesten Offizier der Armee. Darum wird ihm seit Bestehen dieses Grades auch die Marschallwürde verliehen, selbst dann, wenn er, wie dies bei Bulganin der Fall war, Zivilist ist. Doch diese Respektstellung ändert nichts an der Tatsache, daß er eben nur Chef der Militärverwaltung ist und seine Kommandobefugnisse recht Beschränkt sind. Der Chef des Generalstabes ist offiziell erster Stellvertreter des Kriegsministers zur besseren Koordinierung des Dienstes. Trotzdem ist der Generalstab eine dem Kriegsministerium gegenüber autonome militärische Körperschaft Eine beinahe ebenso große Rolle wie das Kriegsministerium und der Generalstab spielt der Hauptstab der Armee mit seinen besonderen Aufgaben. Endlich gibt es die politische Abteilung der Armee. Ihr Chef ist auch stellvertretender Kriegsminister. Diese Abteilung ist vollkommen autonom. Ihr unterstehen die politischen Funktionäre der Armee, die sogenannten Kommissare. Diese Abteilung für die politische Erziehung der Offiziere und Soldaten beschäftigt sich mit deren Freizeitgestaltung, wozu sie ja ein ausgedehntes System von Theatern, Kinos, Offiziers- und Mannschaftsklubs zur Verfügung haben. Ihr untersteht die militärische Presse, wie etwa die bekannte Moskauer Tageszeitung ..Roter Stern”. Ueberhaupt fällt das Wohlergehen der Armee unter ihr Ressort. Diese Abteilung verkehrt direkt mit der Parteizentrale und erhält auch direkt von dort ihre Weisungen. Denn sie ist gleichzeitig die Militärabteilung des Zentralkomitees.

Die Kommandogewalt besitzen in Friedenszeiten die kommandierenden Generäle der einzelnen Militärregionen. Sie werden nicht vom Kriegsministerium, sondern vom Staatsoberhaupt, dem Präsidium des Obersten Sowjets und damit indirekt vom Parteipräsidium ernannt und abgesetzt. Der Kriegsminister hat auf diese Ernennung nur einen sehr geringen Einfluß. Wie auch in anderen Ländern können diese kommandierenden Generäle ihre Befehle direkt von der Regierung erhalten. Es ist zum Beispiel glatter Unsinn, wenn seinerzeit behauptet wurde, daß der Sturz Berias nur darum möglich gewesen wäre, weil Schukow und die Armee sich hinter das Parteipräsidium gestellt haben. Bestimmt sind bei der Verhaftung Berias Truppenabteilungen bereitgestellt worden. Es wäre ja gut möglich gewesen, daß einzelne Kommandanten der kasernierten Polizeieinheiten, Komplicen Berias, bei der Verhaftung ihres bisherigen Chefs Zwischenfälle verursacht hätten. Für die Bereitstellung dieser Truppen brauchte man Schukow gar nicht. Es war durchaus legal, wenn die Regierung direkte Befehle an den kommandierenden General in Moskau gegeben hat.

Im Zusammenhang damit, daß jetzt Schukow vom Ersatzmann zum Vollmitglied des Parteipräsidiums aufgerückt ist, wird nun von einem großen Zuwachs seines politischen Einflusses gesprochen. Zweifellos hat Schukow durch die letzten Ereignisse als politische Persönlichkeit gewonnen. Das in doppelter Hinsicht:

Durch das Ausscheiden Molotows und Kaganowitschs ist er automatisch zu einem der rangältesten Parteimitglieder geworden. Nur der alte Woroschilow ragt noch in die Zeit vor dem ersten Weltkrieg und in die illegale Epoche des Bolschewismus hinein. Mikojan und Chruschtschow sind nur um einige Jahre „parteiälter” als Schukow. Das Parteialter spielt in der Sowjetunion eine ziemliche Rolle.

Außerdem ist Schukow jetzt, der bisher Ersatzmann war, zum Vollmitglied der höchsten Körperschaft der Partei gewählt worden. Doch auch das darf man nicht überschätzen. Der Unterschied zwischen Vollmitglied und Ersatzmann ist eigentlich nur sehr gering. An der denkwürdigen Sitzung, die der Absetzung der vier Oppositionellen vorausging, hat Schukow ja auch, da drei Vollmitglieder fehlten, als solches teilgenommen. Außerdem wäre er auf jeden Fall sehr bald Vollmitglied geworden, denn nach einem ungeschriebenen Gesetz ist der Kriegsminister ebenso wie der Staatspräsident und der Vorsitzende des Ministerrates immer auch Mitglied des Politbüros, das heißt heute des Parteipräsidiums. Alle Kriegsminister seit 1919, Trotzki, Frunse und Bulganin, waren es. Warum es Schukow nicht sofort geworden ist, entzieht sich unserer Kenntnis. Es war jedenfalls klar, daß er bei nächster Gelegenheit aufrücken würde. Nachdem jetzt nicht nur drei Mitglieder für die Ausgeschlossenen gewählt werden mußten, sondern auch noch vier neue für, die von 11 auf 15 erweiterte Zahl der Vollmitglieder des Parteipräsidiums, war es absolut selbstverständlich, daß auch Schukow aufrückte. Die Erhöhung der Zahl der Vollmitglieder verwässert den Einfluß des Einzelmitgliedes.

So stellen sich die westlichen Erwartungen auf einen vermehrten Einfluß der Sowjetarmee oder sogar auf eine Militärdiktatur Schukows bei nüchterner Betrachtung als Schaum heraus. Vielleicht ist es auch besser so. Denn auch in der Vergangenheit hat eine bonapartistische Beendigung einer großen Revolution nicht zu Ruhe, Frieden und Sicherheit, sondern zum geraden Gegenteil geführt.

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