6641717-1957_50_01.jpg
Digital In Arbeit

Kranke Politik

Werbung
Werbung
Werbung

Es begann mit Churchill.

In den letzten Jahren seiner Regierung wurde mehrfach sichtbar, daß dieser große alte Mann den vielfältigen Geschäften der Politik nicht mehr gewachsen war. Dann kam Eden. Ein kranker Mann, der in der Durchführung von Plänen scheiterte, die zum allergrößten Teil ganz im Sinn seines Lehrmeisters lagen. Dann kam Eisenhower. Eine um Frieden und Freiheit hochverdiente Persönlichkeit, um deren Wohl die freie Welf und auch viele seiner Gegner in der weniger freien Welt besorgt sind, sehen sie doch ,in ihm eine Art Symbol für Stabilität und Charakter im politischen Leben.

Sollen alle die kranken Männer in und um Europa näher charakterisiert werden? Es genügt wohl, einige wenige Fälle kurz zu vermerken. Eine Grippe hat genügt, Bundeskanzler Doktor Adenauer bei den wichtigen und schwierigen Verhandlungen in England ausfallen zu lassen. Ein wirklich gutes Verstehen zwischen England und Deutschland heute ist ja nicht nur für die NATO wichtig, deren „Gipfelkonferenz” angesichts der Krankheit führender Staatsmänner problematisch geworden ist. Im nahen Südosten, am Balkan, ist seit Wochen ein unterirdisches Beben, tiefe Unruhe spürbar: Tito ist krank. Vielleicht sehr krank. Dieser kranke Mann bildet nun nicht durch seine Weltanschauung und Politik, wohl aber durch seine Persönlichkeit ein. Element der Stabilität für den ganzen Balkan und weit darüber hinaus. Bei uns in Oesterreich ging, als die Nachricht von den Erkrankungen unseres Kanzlers laut wurden, jedesmal ein kleines, aber spürbares Beben durch das Volk.

Der Westen und die ihm nahestehenden Völker werden durch alte und kranke Männer geführt. Diese harte Tatsache will richtig verstanden werden. Wir alle wollen diese Männer nicht entbehren. Kein Ressentiment, keine politische Gegnerschaft vermag ihnen ihre Bedeutung, ihr Gewicht abzusprechen und ihre Verdienste zu schmälern. Ein anderes aber ist, und das hat der T e s t f a 11 Churchill bereits gezeigt: allein gestellt auf das große, teilweise überragende Können der alten und kranken Männer, vermag die freie Welt ihr großes Potential nicht hinreichend zu entfalten und in die Waagschale der großen und langwierigen Auseinandersetzungen zu legen, die ihr in Asien, Afrika, Europa, Südamerika bevorstehen, in die sie zum großen Teil bereits verwickelt sind.

Es ist nämlich schlechthin unmöglich, daß auch das größte politische Genie die Inter- dependenzenzu erfassen vermag, die. heute in Weltpolitik, Weltwirtschaft, Kultur, Gesellschaft, geistigen Bewegungen ins große Spiel gekommen sind.

Nicht zufällig stellte sich gerade zur rechten Zeit das rechte Wort ein; bei den. letzten Besprechungen um eine Neugestaltung der NATO, um ihren Ausbau und Umbau zu einer politischen Gemeinschaft der Völker, die ihr- angehören, wurde dieses Wort nachdrücklich-in den Vordergrund gestellt. Fast als ein Zauberwort; vielleicht wird es bald ein Modewort sein und in der Hand von Bürokraten und Managern jeden Wert verlieren. Nun, die Wirklichkeit, die es ansagt, und die etwa Soziologen und Psychologen, Naturwissenschaftler seit langem mit diesem Wort andeuten, ist erregend genug. Interdependenz besagt: alleshängt an allem; die politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und geistigen Kraftfelder hängen eng und dicht verwoben aneinander. Ein Ausfall in einem Feld zieht schwerwiegende Folgen nach sich und schwächt das Ganze; gefährdet das Leben.

Nun ist nichts in der letzten Zeit so sichtbar geworden wie eben der Mangel an Interdependenz, an der Kenntnis der Zusammenhänge und an einem Handeln aus ihrer Erkenntnis heraus.

Es fing an mit den roten Monden. Erschrocken stellt zunächst Amerika fest, daß eine Verachtung der „Eierköpfe”, der Intellektuellen, und eine gewisse Hexenjagd in der Periode McCarthy die USA fähigster Arbeiter beraubt hatte. Fast so wie Hitlerdeutschland durch Austreibungen und Absetzungen auf vielen wissenschaftlichen Sektoren plötzlich ohne erste Kräfte dastand. In Paris, der ehrwürdigen „Mutter der Weisheit”, demonstrierten die Studenten mit großen Plakaten, um der Oeffėntlichkeit zu zeigen, daß die Einrichtungen der Pariser Universität, die bekanntlich alle in verschiedenen Anstalten untergebrachten „Fakultäten” umfaßt,- völlig unzureichend sind. Auch in Italien sind die Studenten auf die Straße gegangen, um für bessere Studieneinrichtungen, , Unterstützungen, Ausbau der Hohen Schulen zu demonstrieren. In Westdeutschland war mehrmals in den letzten Jahren von Studentenstreiks die Rede. Dabei besitzen Westdeutschland und Berlin die einzige moderne, wirklich neuzeitliche Studentenförderung, die in diesejn Herbst 1957 zu arbeiten beginnen wird.

Europas Jugend steht auf der Straße. Die Demonstrationen der Studenten und die Krawalle von Gruppen Jugendlicher, die mit dem Namen „Halbstarke” nur schwach angesprochen werden, zeigen, so verschieden sie ihrer Natur nach sind, das gemeinsame Vakuum - auf. Die freie Welt weiß mit ihren besten Kräften, mit der Jugend, und mit ihren geistigen Arbeitern nichts oder doch herzlich wenig anzufangen.

Nun hat man, gerade .in unserem alten, jungen Europa, in eben diesem Spätherbst, im November versucht, ‘ einen neuen Anfang zu machen. In Amsterdam fand der erste Kongreß der „Europäischen Kulturstiftung” statt. Prinz Bernhard der Niederlande als Vorsitzender des Rates der Gouverneure dieser Stiftung begrüßte als Gastgeber rund dreihundert Gäste. Weniger „Kulturschaffende” selbst, sondern vor allem Politiker und Industrielle waren da versammelt, um eine starke, von den Regierungen unabhängige europäische Stiftung zu schaffen, die private Gelder Mer „Förderung, dem Schutze und der Weiterentwicklung europäischer Erziehung und Kultur” zuführt. Von deutscher Seite war — als Privatmann — Dr. Adenauer zugegen, und dem Rat der Gouverneure gehören drei der stärksten Männer der deutschen Wirtschaft an: Dr. H. J. Abs, Dr. T. Reusch und Gustav Stein.

Worum es hier unter anderem gehen sollte, hat auf eben diesem Kongreß in Amsterdam ein deutscher Kunsthistoriker (Werner Haftmann) ausgesagt: die Förderung der „Europäischen Kulturstiftung” soll sich nicht allein auf Bewahrung und Erhaltung richten, sondern mit aller Kraft dem Neuen, Kühnen, Außerordentlichen, dem Experiment und Versuch zugewandt sein, der Ermutigung auch der jungen Generation und ihres Kampfes um ihre eigene Denkform.

Die Politik der freien Welt ist krank; die „kranken” Männer an ihrer Spitze sind nur ein Symptom. Diese Politik ist krank, weil sie glaubt, mit alten Mitteln eine neue Welt meistern zu können. Und nicht erkennen will, daß die vielfältigen Zusammenhänge aller politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und geistigen Prozesse nicht durch ein Managen, nicht durch einen Rüstungsplan und nicht durch das Genie dieses und jenes Einzelnen erschlossen und genutzt werden können. Unsere Politiker und unsere Politik verfallen, wenn sie sich nicht zur Partnerschaft mit den geistigen Arbeitern, der freien Forschung, den Künstlern und allen jenen Menschen bekennen, die Phantasie, Mut des Denkens und der Einbildungskraft besitzen.

Kleines Beispiel: Berlin, Hansaviertel. Die bekanntesten Architekten der freien Welt, von Finnland bis Amerika, haben hier neue Häuser, neue Räume geschaffen. Für freie, freiheitsliebende Menschen, die sich frei bewegen und die frei wohnen müssen, um frei atmen zu können. Die Anziehungskraft der eben in diesem Sommer und Herbst eröffneten Bauten ist außerordentlich. Sie bedeutet für den ganzen „Westen” mehr an Wirkmacht als hunderttausend Propagandasendungen, Worte, ins Dunkel gesprochen.

Man hat errechnet, daß die Wohnraumnot in Westdeutschland, behoben mit Mittel in eben dem großzügigen Maßscab, in dem im Hansaviertel geplant und gebaut wurde, rund 10 Milliarden Mark kosten würde. Die Kosten der Rüstung betragen füf das Jahr in Westdeutschland jetzt 12 Milliarden DM :. !

Was ist daraus zu erschließen,, für jeden, derdie Freiheit liebt? — Wenn sie, die Politiker der freien Welt, schon nicht ablassen können, innerlich gehemmt und durch harte Tatsachen mitbestimmt, von diesen äußeren und sehr problematischen Rüstungen, dann müssen sie doch heute bereits anfangen zu begreifen, daß alle diese Rüstungen umsonst, schlechthin vergeblich sind, wenn sie nicht innerlich aufgefangen und aufgewertet werden durch eine „kulturelle” Aufrüstung.

Es ist für uns kein Trost, daß die große Interdependenz in Wien nicht besser verstanden wird als in Washington, in Rom nicht besser als in Paris. Daß also hüben und drüben Worte und falsche „Tröstungen” die harte Tatsache verdecken, daß die Politiker um Eisenhower die „Kultur” ebensowenig ernst’zu nehmen geneigt sind wie jene weitsichtigeren, politischen und intellektuellen Köpfe, die sie im Notfall einmal als Handlanger nützen wollen. Adlai Stevenson, der einzige prominente amerikanische Politiker, von dem in den letzten Jahren wirklich eigenständige Konzeptionen bekanntwurden, hat sich geweigert, sich Eisenhower in Paris als „Experte” zur Verfügung zu stellen. — So einfach geht es nicht: man kann nicht einen Karren, der sich verfahren hat, mit ein paar Handgriffen und. eilfertig berufenen Handlangern aus dem erstarrten Boden ziehen.

Die „Europäische Kulturstiftung” und das Hansaviertel zeigen in diesem schweren, düsteren Herbst Europa und der freien Welt, daß neue Anfänge gemacht werden müssen. Und daß einige Menschen, die Einfluß haben, im Beginn des Begreifens sind.

Aber das ist noch zuwenig. Die Politik der freien Welt wird so lange weiterhin krank bleiben, als die Herren in der Politik und Wirtschaft nicht die Partnerschaft wagen mit der „Kultur”. Mit jenen Arbeitern im Innenraum des i Menschen, die in neuen Bildern, Farben, Formen, Gedanken neue Wege für die Politik des Menschen erschließen. Eben weil sie als allererste, Sturmvögel der Neuzeit, das Zauberwort der NATO in einem größeren, tieferen und ‘lebendigeren Zusammenhang als offenbares Geheimnis alles Lebens erfahren haben: Interdependenz. ‘Alles hängt an allem.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung