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Krieg - nicht Englands Sorge

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Ira September 1938, zur Zeit der ominösen Konferenz von Godesberg, wurde im Londoner Hyde Park eine Batterie von vier schweren Fliegerabwehrgeschützen in Stellung gebracht. Dort stand sie mit ihren drohend gehobenen Läufen, offenbar mehr als warnende Geste denn als wirksame Verteidigungsmaßnahme gedacht, bis Neville Chamberlain mit seinem „Frieden für unsere Lebensdauer” aus München zurückgekehrt war; dann verschwand sie wieder in ihrem Depot.

Diesmal, in einer weltpolitischen Krise, die an Ernst wohl kaum hinter jener vor 23 Jahren zurücksteht, ist, in der Öffentlichkeit wenigstens, von irgendwelchen militärischen Schutzvorkehrungen der Regierung nichts zu bemerken. Es wird vielmehr emsig gebaut, an Wohnblocks, an Büropalästen, an der Verbreitung von Autostraßen, aber vom Graben von Unterständen, von. der Ausgabe von Gasmasken und Schutzhelmen an die Zivilbevölkerung, vom Ausprobieren der altbekannten „blimps “, ob sie noch ihre Aufgabe als Sperrballons erfüllen können, ist keine Rede. Das ist irgendwie symptomatisch. Wohl herrscht allgemein das Empfinden, daß die internationale Lage, die ja seit dem Ende des zweiten Weltkrieges nie ganz befriedigend war, wieder einmal eine bedenkliche Verschlechterung erfahren hat, und man wartet mit einiger Ungeduld auf ihre Klärung im Verhandlungswege, aber daß sie zu einem neuerlichen bewaffneten Konflikt unvorstellbaren Ausmaßes führen könnte, an eine solche Möglichkeit will man einfach nicht denken. Zum Teil ist das sicherlich auf das oft zitierte und in der Regel mißverstandene Wort MacMillans zurückzuführen, der erklärt hat, um Berlin werde niemand kämpfen; zum Teil aber wohl auch auf die halb unbewußte Überheblichkeit, um nicht zu sagen Geringschätzung, mit der der Brite auf die „Eingeborenen” fręįnder Efde. Iick gleich, welcher Hautfarbe,; sje senj mögen. Was kann man von Ausländern schon erwarten! — mit diesem Satz ungefähr läßt sich die Haltung präzisieren, die in allen Klassen und Schichten des britischen Volkes traditionell und tief verwurzelt ist und das richtige Verständnis oder auch nur ein tieferes Interesse für politisches Geschehen in der Fremde nicht gerade fördert.

Ablenkung nach innen

Allerdings war in den letzten Monaten auch die Entwicklung im eigenen Land geeignet, die allgemeine Aufmerksamkeit von außenpolitischen Vorgängen abzulenken. Zwar ist der Schock, den der Schatzkanzler mit seinem Nachtragsbudget ausgelöst hatte, verklungen, aber die Folgen sind empfindlich geblieben und erregen Unmut nicht bloß bei den vielen, denen die „brutale” Erhöhung der LImsatzsteuer den Ankauf eines begehrten, wenn auch vielleicht nicht unbedingt notwendigen Symbols gesteigerter Lebenshaltung erschwert oder für den Augenblick unmöglich gemacht hat. Lloyd hat im Schatzamt bestimmt ausgezeichnete Statistiker zur Verfügung, die ihm genau ausrechnen können, um wieviel Prozent der Auslandabsatz englischer Kühlschränke, oder Waschmaschinen, oder Fernsehempfänger, erhöht werden könnte - vorausgesetzt, es finden sich die Käufer wenn der Inlandkonsum durch die Minderung der Kaufkraft einzelner Einkommensgruppen eine Drosselung erführe. Offenbar fehlen in seinem Stab aber die Psychologen, die ihn darauf aufmerksam gemacht hätten, daß ein solches Mittel zur Verbesserung der notleidend gewordenen Zahlungsbilanz nicht unbedenklich ist. Jedenfalls ist nichts so geeignet, auch im Lager der Gewissenhaftesten und Arbeitswilligsten Unruhe und Unzufriedenheit zu erzeugen, als wenn bei jeder Schwäche des Pfundes die Gefahr besteht, daß durch Schiedsspruch bereits bindend zugesagte Gehaltserhöhungen von der Regierung für unbestimmte Zeit storniert werden. Die üble Erfahrung, die unlängst die britische Lehrerschaft in dieser Hinsicht machen mußte, obzwar der da in Frage kommende Betrag von insgesamt 5 Millionen Pfund relativ unbedeutend war und währungstechnisch überhaupt keine Rolle spielen konnte, hat zweifellos dazu beigetragen, den Widerstand der Gewerkschaften gegen einen von der Regierung bis auf weiteres geforderten allgemeinen Lohnstopp zu verstärken.

Daß ein solcher Appell an die wirtschaftliche Vernunft und das Gefühl nationaler Solidarität wenig Gehör finden würde, hat der Verband der Schiff- und Maschinenbau-Gewerkschaften soeben mit demonstrativer Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht. Er verlangt namens der 39 ihm angeschlossenen Einzelorganisationen für ihre insgesamt drei Millionen Mitglieder eine Erhöhung des Wochenlohnes um durchschnittlich ein Pfund, die Verkürzung der Arbeitszeit von 42 auf 40 Stunden, und den gleichen Lohn für weibliche wie männliche Arbeitskräfte. Eine restlose Erfüllung dieser Forderungen, die der britischen Industrie eine zusätzliche Belastung von 300 Millionen Pfund im Jahr auf erlegen und zudem die geplante Einschränkung des Inlandkonsums illusorisch machen würde, kommt wohl nicht in Frage. Aber daß eine solche Wunschliste im gegenwärtigen schwierigen Moment überhaupt erwogen, geschweige denn vorgebracht werden konnte, läßt kaum erwarten, daß die Zeit der mutwilligen Arbeitsniederlegungen, der offiziellen und inoffiziellen Streiks, der gewerkschaftlich eingeführten Maßnahmen zur Hemmung und Verteuerung der Arbeitsleistungen, kurz, all der Unbesonnenheiten und Disziplinlosigkeiten, unter denen das wirtschaftliche wie auch das persönliche Leben der Briten seit Jahren empfindlich gelitten hat, zu Ende sei; was nirgends mehr Mißvergnügen erregt als beim sprichwörtlichen Mann auf der Straße, der freilich, wenn seine unmittelbaren Interessen auf dem Spiel stehen, von der

Rücksicht auf das Allgemeinwohl, die er bei anderen als selbstverständlich voraussetzt, selbst nicht viel hören will.

Energieanfall des Gewerkschaftsbundes

Allgemein begrüßt wurde hingegen, namentlich auch in den Reihen der industriellen Arbeiterschaft, das energische Vorgehen des Trades Union Congress, des britischen Gewerkschaftsbundes, in einem besonders krassen Fall kommunistischer Infiltration einer gewerkschaftlichen Organisation. Als Handhabe diente dem TUC eine oberstgerichtliche Entscheidung, in der festgestellt worden war, daß es einer kleinen kommunistischen Clique gelungen war, sich durch Wahlschwindel und als Folge der Indolenz der meisten Gewerkschaftsmitglieder der entscheidenden Posten in der Gewerkschaft der Elektriker zu bemächtigen und diese 250:000 Mann starke Organisation, deren Angehörige eine Vielzahl von Schlüsselstellungen in der britischen Industrie einnehmen, den Zwecken der britischen KP dienstbar zu machen. Der daraufhin von der Jahresversammlung der TUC-Delegier- ten in Portsmouth mit einer Mehrheit von 10 zu 1 beschlossene Ausschluß der Elektriker aus dem Bund der Gewerkschaften war ein sensationelles Ereignis, ohne Parallele in der Geschieht e der britischen Arbeiterbewq gung. Ob es hingereicht hat, die Masse der britischen Gewerkschafter zu einer stärkeren Teilnahme an der Frage ihrer Führung zu ermuntern, bleibt abzuwarten. Kenner der Lage halten es nicht für ausgeschlossen, daß bei den bevorstehenden Neuwahlen in der Elektrikergewerkschaft die Kommunisten wieder vierzig der insgesamt fünfzig Delegiertensitze gewinnen werden, obzwar die Zahl der kommunistischen Gewerkschaftsangehörigen fast sicher nicht einmal ein Prozent des Gesamtstandes erreicht.

Harter Brocken: EWG

Noch mehr im Vordergrund des allgemeinen Interesses steht begreiflicherweise das Problem eines britischen Beitritts zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Die Regierung MacMillan ist nicht ganz unschuldig daran, daß die Diskussion über dieses Thema mit mehr Eifer und oft mit mehr Heftigkeit als mit Sachkenntnis geführt wird; im offenbaren Bestreben, dem künftigen EWG-Ver- bandlungspartner gegenüber ihre Karten möglichst lang verdeckt zu halten, hat sie bei der Darlegung ihres Beitrittsplanes alle näheren Angaben darüber vermieden, wie sie die der Durchführung im Wege stehenden Schwierigkeiten zu überwinden gedenkt, und dadurch Anlaß zu vielfach übertriebenen Befürchtungen hinsichtlich der Größe und Bedeutung solcher Hindernisse gegeben. So wird bei der Frwägung der bangen Frage, wie sich Großbritanniens Anschluß an die

EWG mit den britischen Verpflichtungen gegenüber dem Commonwealth in Einklang bringen lassen wird, in der Regel übersehen, daß die Bezeichnung „die Interessen des Commonwealth” nichts Gemeinsames deckt, sondern ein Durcheinander heterogenster Bestrebungen, die sich nur insofern auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen, als die Stärkung der britischen Wirtschaft den überseeischen Mitgliedern der Commonwealthfamilie, die immer wieder britische Hilfe in Anspruch nehmen, zum offenkundigen Vorteil gereicht. Jedenfalls liegt hier einer der wichtigsten Gründe, weshalb selbst in konservativen Kreisen jetzt die Frage aufgeworfen wird, ob die letzte Entscheidung über den Beitritt Großbritanniens zur EWG oder sein Fernbleiben nicht einem unter diesem besonderen Gesichtspunkt neugewählten Parlament Vorbehalten bleiben sollte.

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