Kriegstrauma in UNO-Blau

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"Ex-Soldat Ronald Wentink sagt:'Ich würde zurückgehen, um es noch einmal zu machen -aber mit den richtigen Mitteln.'"

"Haben die Mitglieder von Dutchbat, der niederländischen Blauhelm-Truppe, Schuld an der Ermordung von 7000 Menschen? Hätten sie 'Srebrenica' nicht verhindern können, ja müssen?"

Es ist der 11. Juli 2017: über Het Plein, den cafégesäumten Platz vor dem niederländischen Parlament in Den Haag, hat sich feierliche Stille gelegt. Der Imam spricht ein Totengebet für jene Ermordeten, deren Leichen seit der letzten Gedenkfeier im Vorjahr gefunden wurden. Andächtig stehen die Besucher in langen Reihen auf dem Pflaster. Von seinem Reiterstandbild aus blickt Willem van Oranje auf die Versammlung. Dann erhebt sich irgendwo ein Schwarm Möwen. Mitten in das Schweigen klingt ihr Krächzen. Ein akustischer Ausdruck davon, wie eng Scheveningen und Srebrenica, der Nordsee-Strand und der bosnische Genozid, miteinander verbunden sind.

Die Gedenkfeiern finden seit 1996 statt. Und fast von Beginn an geschieht dies vor dem Parlament. Man will damit an die Rolle der Niederlande erinnern bei dem, was als schlimmstes Kriegsverbrechen nach dem Zweiten Weltkrieg auf europäischem Boden in die Geschichte einging: die Ermordung von 7000 bis 8000 Muslimen durch die bosnisch-serbischen Truppen. Auf seiner Website bekennt sich das "Vorbereitungskomitee" zur "Anerkennung dessen, was geschehen ist, Wahrheit und Gerechtigkeit. Wir gedenken weiter der Opfer und unterstützen die Hinterbliebenen".

Friedenssicherung im Dilemma

Soweit es um Gedenken und Hilfe für die Angehörigen geht, ist das Ganze unumstritten. Anders sieht es mit "Wahrheit und Gerechtigkeit" aus. Folglich treibt die "Anerkennung dessen, was geschehen ist" die Niederlande nun schon seit 23 Jahren um. 2006 wurde "Srebrenica" in den 50 Themen umfassenden nationalen "Kanon" aufgenommen, der für den Geschichtsunterricht maßgeblich ist. "Dilemmas der Friedenssicherung" ist der wohlweislich neutral gewählte Ausdruck für die beherrschende Frage: Haben die Mitglieder von Dutchbat, der niederländischen Blauhelm-Truppe, Schuld am Genozid? Hätten sie "Srebrenica" nicht verhindern können, ja müssen? Bezeichnend für die Debatte war der Report des Niederländischen Instituts für Kriegsdokumentation (NIOD), der im Frühjahr 2002 erschien und den Fall der Regierung Kok auslöste. Er bescheinigte der Dutchbat-Mission in der als "Safe Area" deklarierten Enklave: schlechte Vorbereitung, mangelhafte Ausstattung und ein unklares Mandat. Letzteres sei völlig unzureichend gewesen, um dem Ziel der Mission gerecht zu werden: die lokale Bevölkerung zu schützen.

Dem niederländischen Verteidigungsministerium wird vorgeworfen, die Möglichkeit des Abhörens der Bürgerkriegsparteien verworfen zu haben. Zudem habe man nach dem Fall der Enklave und dem Bekanntwerden des Massenmords nicht transparent kommuniziert. Weiter wird bemängelt, Dutchbat habe von bosnisch-serbischen Gräueltaten vor dem Genozid nicht vollständig, doch in Teilen gewusst, darüber aber keine Meldung gemacht. Im Anschluss an die Ermordungen habe es die Bataillon- Leitung dann versäumt, Informationen über das Schicksal der abgeführten muslimischen Männer einzuholen.

Nuanciert fällt die Bewertung der Frage aus, die in der Öffentlichkeit zentral steht: Wieviel Schuld trifft die Blauhelme am Genozid? Die Lage im völlig überfüllten Dutchbat-Compound in Potocari, so heißt es, sei "eine Geiselnahme-Situation" gewesen, in der "jeder gewaltsame Widerstand auf ein Blutbad hinausgelaufen wäre". Folglich sei den militärisch deutlich unterlegenen Blauhelmen klar gewesen, dass die Flüchtlinge so schnell wie möglich aus dieser Situation herausgebracht werden mussten. Also halfen sie den Abtransport durch die bosnisch-serbische Armee zu organisieren -"auch wenn das unter diesen Umständen faktisch Assistenz bei einer ethnischen Säuberung bedeutete".

Verantwortung ja, Schuld nein

Die ambivalente Haltung in der Öffentlichkeit brachte der Ex-Premier Wim Kok zum Ausdruck: Die Niederlande hätten ihre Verantwortung für das Geschehen übernommen, nicht aber die Schuld. Nicht zuletzt die Tatsache, dass Dutchbat-Ersuchen um Luft-Unterstüzung abgewiesen wurden, sorgt seit jeher für die Einschätzung, die UN habe die niederländischen Blauhelme allein gelassen. 2016 nahm das NIOD gar neue Untersuchungen auf. Hintergrund waren vermeintliche Anweisungen, dies sei zuvor zwischen den USA, Großbritannien und Frankreich abgesprochen gewesen. Am Ende wurden die Untersuchungen aus Mangel an Beweisen eingestellt.

Serie an Verfahren

In den letzten zehn Jahren hielten verschiedene Prozesse das Thema in der Öffentlichkeit. 2008 wies ein Den Haager Gericht die Klage der "Mütter von Srebrenica" gegen den niederländischen Staat und die UN ab. Laut den Hinterbliebenen hätten diese keine ausreichenden Schutzmaßnahmen ergriffen. Das Gericht bekräftigte jedoch die Immunität der UN-Mitarbeiter. Eine zweite Klage von Hinterbliebenen gegen den niederländischen Staat wurde auch abgelehnt, da die Soldaten unter UN-Kommando gestanden hätten. 2014 allerdings befand das Gericht in Den Haag, die Niederlande träfe eine Mitschuld an der Ermordung von 300 Schutzsuchenden, deren Deportation vom Dutchbat-Gelände sie hätten verhindern müssen. 2017 wurde dieses Urteil in einem Berufungsprozess bestätigt.

Von erheblichem Einfluss auf den niederländischen Diskurs war das Jugoslawien- Tribunal (ICTY) in Den Haag, das erst zum Jahreswechsel offiziell abgewickelt wurde. Der bosnisch-serbische Präsident Radovan Karadzˇic´ wurde dort 2016 zu 40 Jahren Gefängnis verurteilt, General Ratko Mladic´ ein Jahr später zu lebenslanger Haft. Die Verantwortung für den Genozid in Srebrenica stand in beiden Begründungen zentral. In den niederländischen Medien lag dieser Aspekt vor dem Hintergrund der Dutchbat-Rolle im Vergleich noch mehr im Mittelpunkt als in anderen Ländern. In diesem Jahr laufen im ehemaligen ICTY-Gebäude noch die Berufungsprozesse von sowohl Karadzˇic´ als auch Mladic´.

Unabhängig von deren Ausgang hat "Srebrenica" im niederländischen Selbstverständnis tiefe Spuren hinterlassen. "Politik und Gesellschaft wurden in diesem Moment mit der Machtlosigkeit gegenüber bewaffneter Aggression konfrontiert", analysiert Peter Romijn, Leiter der Forschungs-Abteilung am NIOD-Institut in Amsterdam. "Die Rolle der niederländischen Truppen stimmte nicht überein mit dem Selbstbild einer Nation, die dachte, durch bloße Anwesenheit Schutz bieten zu können."

Schwer erschüttert wurde in jedem Fall das niederländische Selbstverständnis als fortschrittliche, tolerante Gesellschaft, die kriegerische Aggressionen vor allem als Opfer der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg erlebte -ein Image, das just in den 1990er-Jahren noch weit weniger durch kritische, post-koloniale Diskurse hinterfragt wurde als dies heute der Fall ist.

Für die Sensibilität des Themas steht ein Vorfall aus dem Jahr 2006: Damals wurde mehreren Hundert Dutchbat-Soldaten eine Auszeichnung verliehen. Offiziell war dies gedacht als "Anerkennung der schweren Umstände" ihrer Arbeit und des "schlechten Lichts, in dem sie dafür zu Unrecht lange Zeit standen". Kritiker monierten, es hätte sich um eine Auszeichnung besonderer Tapferkeit gehandelt. Im In-und vor allem Ausland löste die Ehrung Entrüstung aus.

In den Niederlanden indes wurde 2015, zum 20-jährigen Jahrestag des Genozids, auch Ex-Blauhelmen Aufmerksamkeit zuteil, die noch heute mit den psychischen Folgen des Einsatzes zu tun haben. In einem Regionalsender kam der Ex-Soldat Ronald Wentink zu Wort: "Ich würde noch immer zurückgehen, um es noch einmal zu machen - aber dann mit den richtigen Mitteln."

Der Fall golan

Einsatz als Schulungsvideo

Verteidigungsminister Mario Kunasek (FPÖ) will nach den Berichten der Kleinen Zeitung über die Verwendung des Golan-Videos als Schulungsvideo zur Einsatzvorbereitung von Soldaten dies untersuchen lassen.

Der Verteidigungsminister wolle nun aufklären lassen, welcher Personenkreis der verantwortlichen Kommandanten zu welchem Zeitpunkt von dem Video Kenntnis hatte, erklärte er am Freitag in einer OTS-Aussendung. Kunsaek hatte nach dem Bekanntwerden des Videos, das zeigt, wie österreichische UNO-Blauhelme am 29. September 2012 auf den Golanhöhen syrische Geheimpolizisten in einen Hinterhalt fahren ließen, eine Kommission eingesetzt.

Die Kommission untersuchte bisher primär die Befehlslage, den konkreten Ablauf des im Video gezeigten Vorfalls sowie die Meldekette an die vorgesetzten Kommanden. Kunasek betonte: "Ich stehe weiter hinter jenen Soldaten, die nach bestem Wissen und Gewissen einen schwierigen Auftrag zu erfüllen hatten. Ich möchte aber lückenlos aufgeklärt haben, wie sich die Befehlslage darstellte und welchen Kenntnisstand die Verantwortungsträger zu den Vorfällen hatten!"

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