6733611-1966_10_04.jpg
Digital In Arbeit

Krise als schöpferische Pause

Werbung
Werbung
Werbung

„Man kann die Bürgertugend als Cesetzestreue und Vaterlandsliebe definieren. Diese Liebe, die verlangt, daß man ständig das Gemeinwohl über den eigenen Nutzen stellt, verleiht zusätzlich alle besonderen Tugenden; sie bestehen nur in solchem Darüberstellen.” (Montesquieu.)

Der Politologe Professor Friedrich hat die politischen Verhältnisse Europas nach dem 2. Weltkrieg als „negative Revolution” bezeichnet. Damit wollte er andeuten, daß den damaligen revolutionsähnlichen Zuständen weniger das Motiv einer Begeisterung für eine schöne Zukunft zugrunde lag als die Abscheu vor einer unsauberen Vergangenheit. In Frankreich, Deutschland und Italien schuf man — auch die vorfaschistische Zeit verleugnend — neue Verfassungen. Einige Staaten — Belgien, Holland, Luxemburg und Norwegen — setzten die früheren Verfassungen wieder in Geltung; hier bewahrte und bewährte sich die parlamentarischmonarchische Kontinuität. Österreich war die einzige demokratische Republik, die in die von rechts- und volksstaatlichen Idealen getragene alte Verfassung zurückkehrte. Diese Rückkehr wurde nicht durch den äußeren Druck der vier Alliierten bestimmt; die staatstragenden Parteien setzten — im Gegensatz zur „Erklärung der Sowjetregierung über Österreich”, wonach die „Zustände wiederhergestellt werden”

sollten, „die bis zum Jahre 1938 in Österreich bestanden haben”, was vielleicht auch eine Restauration der ständisch-autoritären Verfassung 1934 bedeutet hätte — die Verfassung 1920/29 wieder in Geltung. Das österreichische Volk hatte es nicht nötig, eine neue Verfassungsordnung zu schaffen. Es galt die Identität mit der alten Ordnung zu finden, um eine Renaissance des Staates und der Nation Österreich zu bewirken. Die Einigung der staatstragenden Parteien hat ihren Grund in der Tatsache, daß die konstituierende Substanz unseres Staates erkannt worden ist. Die Einigung hatte zur Folge, daß das Volk den „neuen” alten Staat bejahte, an ihn zu glauben begann.

Die geistige Substanz unseres Staates wird genährt von der rechts- und volksstaatlichen Idee und von der Idee des nationalen Österreich. Renė Marcic hat das Rechts- und Staatsdenken des Abendlandes mit dem Bild einer Ellipse verglichen, die um zwei Brennpunkte kreist; Rechtssouveränität und Volkssouveränität. Bezüglich der Elemente des österreichischen Verfassungslebens hebt er hervor: „Zweifach ist der Grund, der die Einheit Österreichs stiftet. Rechtssouveränität ist der eine, Volkssouveränität der andere; jener ist im aristotelischen Sinn formal, dieser material; jener greift gleichsam von außen zu: klammerartig transzendent; dieser vollbringt die Einheit von innen, immanent.”

Das Unbehagen an unserem politischen Stil

Wozu die Erinnerung? Wozu die Besinnung? Die Antwort lautet: Die Krise in der österreichischen Innenpolitik hat ihre Ursache nicht zuletzt darin, daß die einheitsstiftende geistige Substanz unseres Gemeinwesens im politischen Alltag nicht genügend Resonanz findet. Gerade aber im politischen Alltag müssen die Stilregeln, die dem geistigen Fundament des Staates entsprechen, pedantisch eingehalten werden. Man mag einwenden, daß es hier um Fragen der Macht, nicht um Fragen der Form gehe. Wohin aber ein „Sich-ge- hen-Lassen”, Nachlässigkeit und Formlosigkeit im politischen Machtkampf führen, ist bekannt. Politischer Kampf ohne Einhaltung von Formen führt bestenfalls zu ainem Gleichgewicht des Mißtrauens, meist aber zu Anarchie und Chaos. Politische Kämpfe aber, in denen die Rivalen gemeinsame Elemente und Formen unter allen Umständen anerkennen, geben der Politik Dynamik und dem Fundament des Staates Stabilität.

Die Umgangsformen und Verhaltensweisen in unserem politischen Alltag, der Mangel an politischem Taktgefühl, der sich insbesondere in Angriffen auf rechtsstaatliche und föderalistische Tabus und in der Mißachtung demokratischer Einrichtungen gezeigt hat, haben zu einem Unbehagen an unserem politischen Stil geführt, das jeder fühlt, dem unsere res publica eine Herzenssache ist.

Solche Stilsünden können negative Folgen haben: politische Abstinenz der Volksschichten, die an sich der Politik passiv gegenüberstehen; politische Resignation der an Politik interessierten Nichtpolitiker; politische Absenz der Jugend, die Vorbilder und Leitbilder für eine demokratische Lebensform sucht; Isolierung der Parteien und Politiker voneinander und gegenüber den Volksmassen durch Vergrößerung der sozialen Außendistanz; Verdrängung politischer Affekte in die Sphäre des Unterbewußtseins. Die reale Demokratie, für die nach Kelsen die „Rationalisierung der Führerschaft” mit ihren Konsequenzen: Publizität, Kritik, Verantwortlichkeit, Führerwechsel, charakteristisch ist, würde immer mehr in ihr Gegenteil umgewandelt werden. An die Stelle eines steten Aufströmens aus der Gemeinschaft der Geführten in die Führerstellung träte totale Entfremdung von Herrschern und Beherrschten; die Herrschaftsakte unterlägen mehr und mehr dem System der Verhüllung und Geheimhaltung.

Die Krise als Bewährungsprobe

Der Wert einer Demokratie bewährt sich gerade in Krisenzeiten. Da Unbehagen an unserem politischen Leben hat zu einer Belebung der Demokratie geführt, zu einer Aktivierung der politischen Diskussion innerhalb und außerhalb der Parteien, zu konstruktiven Ideen und zu programmatischen Ansätzen eines neuen Stils der Sachlichkeit. Die Aktionsgemeinschaft der Regierungsparteien, die „Koalitionsdemokratie” als solche wird in das Zentrum der Diskussion gestellt, das Verhältnis von Koalition und Verfassung wird untersucht. Es werden die Fragen aufgeworfen, ob es nicht Alternativen oder Variationen zum Koalitionsregime gibt, die Kritik der Nichtpolitiker, insbesondere die Kritik der parteigebundenen Presse an der Politik ist aktiver als je, neue Möglichkeiten der politischen Opposition werden erörtert.

Gewiß, manches mag wenig realistisch klingen. So etwa, wenn die Identität von Exekutive und Legislative im Kreuzfeuer der Kritik steht. Die Verschmelzung von Legislative und Exekutive ist in allen parlamentarischen Ländern zu registrieren. Auch in Großbritannien ist der Gegensatz von Regierung und Parlament nur Fassade. Darunter operieren die beiden Parteien, von denen die eine in ihren Händen die wesentlichen Zügel der Macht zusammenfaßt: Ihr gehört sowohl das Kabinett wie die Parlamentsmehrheit an. Parlament und Regierung sind nach Professor Duverger zwei Maschinen, die vom selben Motor angetrieben werden — von der Partei. In Österreich sind es zwei Parteien. Sollen diese beiden Motoren synchron arbeiten, ist besondere Selbstdisziplin der Parteiführer erforderlich. Daß Kontakt und Sympathie interdepen- dente Größen sind, ist ein anerkanntes Theorem der Gruppendynamik. Der Umgang der Koalitionspolitiker in der Alltagspraxis erfordert daher ein spezifisches Klima, einen spezifischen Stil, die Pflege der Kunst des Miteinander-reden-Könnens. Bei uns sind weniger institutionelle als personelle Fragen und Fragen der Atmosphäre der Partnerschaft brennend. Will man nicht die Koalition aufgeben, ist eine konsequente Verfeinerung der Verfahrenstechnik der Zusammenarbeit eine wesentliche politische Aufgabe. Die Technik dieses Verfahrens ist jeweils der sozialrealen Entwicklung anzupassen. Nur die Anpassungsfähigkeit der Koalition an die Realität wird ihre Dauerhaftigkeit gewährleisten.

Dem Koalitionsregime wird vorgeworfen, daß es zum Verlust echter Führung und echter Verantwortung geführt hat. Tatsächlich wohnen der Koalitionsdemokratie Elemente einer Versicherung auf Gegenseitigkeit lnne, das System des do ut des führt zu Scheinkompromissen und zur stillschweigenden Duldung politischer Entgleisungen des Partners. Man weist auf die Unfähigkeit und Unwilligkeit der beiden Großparteien zur konstruktiven Opposition hin. Dieser Hinweis ist aber zu ergänzen: Das Wählervolk ist für einen Übergang zum Regierungs- Oppositions-Regime überhaupt nicht vorbereitet. Der Staatsbürger kann sich eine der „Republik loyale Opposition” einfach nicht vorstellen. Für die Parteien wieder kann man die These aufstellen, daß sie noch nicht jene Sättigung mit Macht erreicht haben, die ihnen die Einhaltung von Regierungs-Oppositionis-Regeln leichter ermöglichen würde. Dazu fehlt es an bestimmten „Glaubensgewißheiten” darüber, wer herrschen und wer gehorchen soll. Das Koalitionsregime ist bis jetzt die einzige Regierungstechnik, die die Gesamtintegration des österreichischen Volkes bewirkt hat. Das Verhältniswahlsystem hat die einmal gegebene Parteienkonstellation im wesentlichen ein- frieren lassen. Diese Konstellation hat zusammen mit der sich wiederholenden plebiszitären präsidialen Legitimation der Regierungsweise die Entwicklung Österreichs zu einer konservativen Demokratie besonderer Art gefördert. Anders ausgedrückt: Die Spaltung des Wählervolkes ln zwei Parteien hat einen solchen Grad erreicht, daß jedes Wahlsystem und Regierungssystem, das den beiden Gruppen nicht eine angemessene Vertretung im Parlament und in der Regierung garantiert, unakzeptabel ist.

Ein wesentlicher Teil der Erneuerungsvorschläge zielt auf eine Aufwertung des Parlaments. Dabei erscheint die Forderung nach mehr parlamentarischer Freiheit des einzelnen Abgeordneten kaum realistisch. Das hieße eine Idealvorstellung früherer Zeiten im Gegensatz zur geschichtlich gewachsenen und gewandelten Stellung des Parlamentariers künstlich zu beleben, nämlich die Idealvorstellung, wonach ein Abgeordneter ein Richteramt heiligster Art innehabe, es nur nach seinem Wissen und Gewissen ausübe und dabei das gesamte Volk vertrete. Das Prinzip des freien Mandats wurde zu einer Zeit in unsere Verfassung aufgenommen, in der es schon längst im praktisch- politischen Leben eine Fiktion geworden war. Heute wäre eher eine gesetzliche Garantie zu fordern, wonach sich der Abgeordnete von Zeit zu Zeit seiner Wählerschaft innerhalb und außerhalb der politischen Parteien zu stellen hätte. Diese doppelte Verantwortlichkeit entspräche einem dringenden Bedürfnis der modernen Demokratie.

Kontrolle durch die Opposition

Konstruktiv ist der Vorschlag, die mündliche Fragestunde im Parlament zu extensivieren und zu intensivieren, also die Fragestunden- Opposition auszubauen. Auf diese Weise könnte einerseits die sogenannte innere (Bereichs-) Opposition zu einer effektiven Kontrollstelle in der Öffentlichkeit werden, anderseits könnte die sogenannte äußere Opposition durch im Parlament vertretene Minderheitsparteden verstärkt werden. Damit würde der influenzartige Einfluß, den die Minorität an sich auf die Bildung des Majoritätswillens ausübt (Kelsen), als koalitionsneutraler Zusatz zur „Bereichskritik” wirksam: Die Erweiterung und Verfeinerung von Möglichkeiten der Kontrolle und Opposition im Parlament würde dem Parlamentarismus seinen fast schon verlorenen Sinn wiedergeben.

Friedrich Koja schlägt in diesem Zusammenhang vor, das Recht auf Einsetzung von Untersuchungsausschüssen, die Befugnis, Anträge an den Verfassungsgerichtshof zur Überprüfung von Gesetzen auf ihre Verfassungswidrigkeit und Verordnungen auf ihre Gesetzeswidrigkeit, allenfalls auch das Recht auf Ministeranklage vor dem Verfassungsgerichtshof einer qualifizierten Minderheit des Parlaments zu geben. Derartige Befugnisse nur der Parlamentsmehrheit einzuräumen erscheint sinnlos, weil hier Interessenübereinstimmung mit der Regierung vorliegt.

Ermacora stellt die Belebung der Opposition und Kontrolle durch den Bundesrat (vertikale Kontrolle) zur Diskussion, ein Vorschlag, der eine aktuelle Ergänzung des Länderprogrammes wäre. Die Länder beklagen sich über Unitarisiieruhgs- und Zentralisierungstendenzen des Bundes, Tendenzen, die durch die Koalition auf Bundesebene besonders verstärkt werden. Er kann sich dabei auf die Verfassungsväter Mayr und Danne- berg berufen, die 1920 die Besten der Länder aufriefen, sich der Arbeit im Bundesrat zu stellen und feststellten: „Soll der Bundesrat seine Funktionen erfüllen können, so muß es möglich sein, daß die Vertreter eines Landes unter Umständen stramm nach Landesinteressen stimmen, auch wenn im Parlament die Parteien entgegengesetzt stimmen.” Der Bundesrat übt aber die ihm von der Verfassung übertragene retardierende Funktion nicht auis. Hier könnte das freie Mandat einen neuen Sinn bekommen: In Ausübung ihres Amtes sind Mitglieder des Bundesrates an keinen Parteiauftrag gebunden.

Ein Ansatz zu einem neuen Stil der Sachlichkeit liegt im Versuch der Verbindung von Politik und Wissenschaft. In der pluralistischen Massendemokratie stellt sich für die Parteien die Frage, womit sie ihre Programme und ihre Politik legitimieren.

Ideologische Atavismen sind fehl am Platz. Progressive Politik kann heute nur mit Hilfe der Wissenschaft legitimiert und betrieben werden. Die Affinität von Wissenschaft und Demokratie ist längst erkannt worden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung