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Digital In Arbeit

Krise oder „Beruhigung“:

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Die Nationalökonomen der klassischen Epoche sind, eine Folge ihrer sozialen Apathie, noch von einer Selbstheilung der Wirtschaftskrisen und auch jener Disproportionalitäten ausgegangen, die sie auf den kaum noch organisierten Arbeitsmärkten ihrer Zeit feststellen konnten.

Die Nationalökonomen der Depressionsperiode, deren Thesen heute noch vielfach die Praxis von Arbeitsmarktverwaltungen bestimmen, haben in der Sicherung der Vollbeschäftigung wohl ein erstrebenswertes Fernziel gesehen, richteten ihre Vorschläge aber in erster Linie auf eine Reparatur der Massenarbeitslosigkeit, mit der sie konfrontiert gewesen sind, einer Arbeitslosigkeit, die sie zudem nur in ihrer Breite, nicht aber in ihrer Tiefe zum Gegenstand ihrer Kalküle machten, ließen sie doch die verdeckte Arbeitslosigkeit weitgehend unbeachtet, ebenso die Arbeitskraftreserven und die in Notberufen Beschäftigten. In den Jahren nach dem ersten Weltkrieg schien jedenfalls der Bestand einer massenweise auftretenden Arbeitslosigkeit der Arbeitsgesellschaft geradzeu inkorporiert zu sein.

Anders nach dem zweiten Weltkrieg. In den Industrieländern bildete sich durch eine wirksame Lenkung der Waren- und Artoeitsmärkte und einer, dank wissenschaftlichen Erkenntnissen, neuartigen Transparenz der wirtschaftlichen Prozesse, auf den Arbeitsmärkten ein Zustand heraus, für den es der Theorie noch an ausreichender Erfahrung fehlte: ein Zustand langdauernder Vollbeschäftigung bei permanent steigenden Reallöhnen. Bisher war die Vollbeschäftigung den Theoretikern weitgehend ein Abstraktum gewesen — wenn man von kriegswirtschaftlichen Verhältnissen absieht.

Nun aber schien es allmählich wichtiger zu sein, sich an Stelle der bisher praktizierten Methoden der Arbeitsplatzibeschaffung der Arbeitskraftbeschaffung zuzuwenden. Infolgedessen stellte sich auch die Theorie in den Regionen der reifen Volkswirtschaften auf die Bewältigung des Uberhanges an freien Arbeitsplätzen ein. Die Arbeitslosigkeit schien in vielen Ländern eine Ausnahme und insoweit individuelle Angelegenheit geworden zu sein. Lediglich auf einzelnen Teilarbeitsmärkten, etwa der älteren Arbeitnehmer, gab es noch eine kaum reparable Arbeitslosigkeit (= Senio-riitätsarbeitslosigkeit), der aber bereits ein sozialer, wenn nicht fürsorgerischer und weniger ein ökonomischer Charakter beigemessen wurde. Wohl verringerte sich zuweilen im Bereich schrumpfender Wirtschaftszweige die Nachfrage nach Arbeitskräften bedenklich. Von den älteren Arbeitnehmern abgesehen, war es jedoch möglich, zumindest durch ein organisiertes Pendeln, die freigesetzten Arbeitskräfte rasch und nicht selten zu höheren Löhnen unterzubringen.

Und nun kam die Wende; merkbar erst im Verlauf des Jahres 1966.

Der Anbotsüberhang

Nicht wenige Teilarlbeitsmärkte weisen gegenwärtig einen bedenklichen und in kurzer Zeit kaum abzubauenden Überhang einer sich anbietenden Arbeitskraft auf. Einzelne Wirtschaftsregionen werden in übertriebener, wenn nicht lustvoller Vereinfachung sogar als „Notstandsgebiete“ klassifiziert.

Es soül nicht untersucht werden, ob die Änderung in der Anibot-Nachfrage-Struktur auf den einzelnen Arbeitsmärkten tatsächlich eine Phase des Konjunkturverlaufes reflektieren, die als (gesamtwirtschaftliche) Krise oder als Rezession zu bezeichnen ist. Ebensowenig aber ist es möglich, sich unbedenklich des von der deutschen Bundesregierung geprägten Ausdruckes einer „fortschreitenden Beruhigung“ zu bedienen. In beiden Fällen mangelt es an ausreichenden Kriterien zur eindeutigen Kennzeichnung. Vielfach ist es auch die sogenannte „Kapazitätsaufgahe“, die eine lokale Arbeitslosigkeit hervorruft, welche deswegen oft bedenklich ist, weil es sich bei den Freigesetzten vielfach um Arbeitnehmergruppen handelt, die aus persönlichen und fachlichen Gründen schwer zu mobilisieren sind. Dazu kommt noch, daß bei der strukturellen Krise etwa auf dem Teilarbeitsmarkt der Bergarbeiter eine Arbeitnehmergruppe betroffen ist, die bisher eine Art Lohnführerschaft gehabt hat. In Belgien sollen übrigens im Zeitraum 1968 bis 1970 nicht weniger als 13.000 Bergarbeiter durch die Aufgabe einer Förderungskapazität von 3,26 Millionen Tonnen definitiv freigesetzt werden, was zu einer vorübergehenden Verkümmerung ganzer Wirtschaftsregionen führen kann.

Die Tatsache, daß auf einzelnen Teilarbeitsrnärkten des Westens

(auch Österreichs) mehr Menschen ihre Arbeitskraft anbieten als aufgenommen werden können, kann nicht geleugnet werden. Die Chance einer Anpassung durch Lahnreduktion fehlt, also etwa die Möglichkeit simulierter Kündigungen zum Zweck des Abschlusses neuer Arbeitsverträge mit niedrigeren Tarifen.

Soweit ein Anbotsüberhang lokal begrenzt ist, wird mit Erfolg versucht, die noch mobilen Arbeitskräfte zu bewegen, zu pendeln oder sich beruflich umschulen zu lassen. Je mehr Arbeitsmärkte aber einen kaum behebbaren Überhang an freigesetzten Arbeitskräften melden, desto bedenklicher wird allmählich der Zustand, vor allem, weil es sich um Arbeitslose aus Wirtschaftszweigen handelt, die durch die Inter-dependenz mit einer Reihe von anderen Wirtschaftszweigen eng verbunden sind, weshalb die Wirkung der Primärarbeitslosiigkeit durch eine Sekundärarbeitslosigkeit verstärkt werden kann.

Es soll nun nicht untersucht werden, warum es zu einer Umkehrung der Entwicklung auf den meisten Arbeitsmärkten gekommen ist. Lediglich die tatsächliche oder die scheinbare strukturelle Wandlung auf den Arbeitsmärkten selbst soll durch einige repräsentative Merkmale gekennzeichnet werden.

Die deutsche „Umkehr“

Als Beispiel sollen die Verhältnisse auf den bundesdeutschen Arbeitsmärkten genommen werden. Nicht weil es nur in der BRD krisenhafte Erscheinungen im Anbot-Nachfrage-Verhältnis gibt, sondern weil man in Österreich allen Grund zur Vermutung hat, daß sich deutsche Entwicklungen in unserem

Land besonders stark niederschlagen können.

Im Zeitraum 1951 bis 1956 hat es in der BRD eine Arbeitslosenziffer gegeben, die sich in der Größenordnung von 0,9 bis 1,7 Millionen bewegte. In diesem Zeitraum blieben die Preise relativ stabil. Im Jahre 1963, einam typischen Jahr der Vollbeschäftigung, gab es schon einen Preisanstieg von 3 Prozent, im Jahre 1965 von 3,4 und in der ersten Hälfte 1966 von 4,5 Prozent. Dann kam die Umkehr. Die Aufwärtsbewegung der Preise verflachte. Bis vor kurzer Zeit betrug der Preisanstieg in der zweiten Jahreshälfte 1966 nur noch 2,8 Prozent.

Die Preisbewegungen indizierten gleichzeitig eine Änderung der Nachfrage-Anbots-Verhältnisse auf einem großen Teil der Artoeitsmärkte (Berlin im allgemeinen ausgenommen).

Arbeitslose:

1. Vierteljahr 1965

201.000 1. Vierteljahr 1966

147.000 (minus 54.000) aber:

September 1965

85.000

September 1966

113.000 (plus 28.000)

November 1965

119.000

November 1966

216.000 (plus 97.000)

Bis Ende des des Monats Dezember 1966 stieg die Arbeitslosigkeit (innerhalb von zwei Wochen!) um nicht weniger als 156.000 auf 372.000.

Die Umkehr ist etwa gegen Ende des ersten Viertels 1966 eingetreten. Angesichts der Größe des Arbeitskraftpotentials sind die ausgewiesenen Ziffern völlig unbeachtlich, gar nicht zu reden von den Ziffern zur Zeit der großen Depression. Bemerkenswerter als die Arbeitslosenziffern ist die Entwicklung des Angebotes an offenen Stellen:

1. Vierteljahr 1965

655.000

1. Vierteljahr 1966

621.000 (minus 34.000)

2. Vierteljahr 1965

702.000

2. Vierteljahr 1966

621.000 (minus 81.000)

3. Vierteljahr 1965

700.000 3. Vierteljahr 1966

536.000 (minus 164 000) November 1965

583.000 November 1966

318.000 (minus 265.0001

Im November 1965 hat es noch fast 600.000 offene Stellen gegeben, denen nur ungefähr 200.000 Arbeitslose gegenüberstanden. Im Dezember 1966 ist dagegen das Anbot an Arbeitsuchenden größer als die Zahl der offenen Stellen (252.000), was auch durch Einflüsse der saisonal bedingten Reduktion der Nachfrage nach Arbeitskraft nur unzureichend erklärt werden kann.

Die ersten Reaktionen

Welche Folgerungen zieht man nun auf dem bundesdeutschen Arbeitsmarkt aus der Umkehr der strukturellen Entwicklung?

1. Die Vorsorgenachfrage der Unternehmer, die Arbeitskräfte auch dann in Engagement behielten, wenn sie keine angemessene Beschäftigung für sie hatten, läßt nach. Das Horten von Arbeitern wird nun vielfach als unvertretbar angesehen.

2. Die Fremdarbeiter waren bisher dazu erforderlich gewesen, um das angesichts der Produktionsaufgaben zu kleine Arbeitskraftpotential zu ergänzen. Soweit es sich nicht um langfristig gebundene oder um unentbehrlich gewordene Fremdarbeiter handelt, werden sie in vielen Betrieben entlassen. Im allgemeinen geht man jedoch so vor, daß man die abgelaufenen Verträge nicht mehr erneuert oder für die aus den Urlauben nicht zurückgekehrten Fremdarbeiter keine. Ersatznachfrage organisiert. Die im EWG-Raum mit seinem tendenziell einheitlichen Arbeitsmarkt geltenden Bestimmungen machen es in einzelnen Fällen freilich sehr schwer, Fremdarbeiter, die einem EWG-Staat angehören, zu entlassen. Mit diesem Umstand hängt die bemerkenswerte Fremdenfeindlichkeit eines Teiles der deutschen Arbeiterbevölkerung zusammen. Die Reduktion der Großgruppe der Fremdarbeiter erfolgt nicht gleichmäßig. Die Zahl der weiblichen Beschäftigten aus dem Ausland' ist erst kürzlich gestiegen (Substitutionsnachfrage nach billigeren Arbeitskräften!).

Kurzarbeit und Lohnreduktion

3. Der a-typische Arbeitsmarkt der Überstundenleistungen — ein innerbetrieblicher Arbeitsmarkt — zeigt ebenfalls eine Reduktion. Die Verminderung der Überstunden, deren Erlös in vielen Arbeitnehmerhaushalten einen festen Bestandteil gebildet hatte, wird sich vor, allem beim Erwerb der „non-essentials“ auswirken; auch im Fremdenverkehr (Massentourismus).

4. Die Differenzen zwischen Soll-und Ist-Lohn („wage-drift“) werden bei Abschluß neuer Arbeitsverträge verringert.

5. Unternehmungen, die glauben, einen Auftragsmangel in Kürze beheben zu können, gehen zur Kurzarbeit über. Auf diese Weise sichern sie sich einen angemessenen Stand von Stammarbeitern und auch das in den Arbeitern (vor allem den angelernten) gespeicherte Ausbildungskapital. Das Einlegen von „Feierschichten“, typisch vor allem für den Bergbau (im ersten Halbjahr 1966 wurden in der Montanunion in 93 Zechen Feierschichten eingelegt), begann im dritten Quartal 1966 sichtbar zu werden (6000 Kurzarbeiter). Im November 1966 zählte man bereits 42.000 Kurzarbeiter; für den Jänner 1967 befürchtet man eine halbe Million.

6. Die Arbeitsleistung charakterlicher Grenztypen, deren Bedeutung in unsachlicher Weise übertrieben wird, steigt (so wird zumindest behauptet). Ob man den angenommenen Leistungsanstieg auf eine Verbesserung der sogenannten „Arbeitsmoral“ oder auf rationelle Kalküle der in Frage kommenden Arbeitnehmer zurückführt: Der Beweis, daß die Moral im Arbeits-vollzug lediglich ein Index der Angst, arbeitslos zu werden, ist, wird kaum gelingen. Anderseits wird sicher so mancher Sozialparasit unter den Arbeitnehmern angesichts der Gefahr, entlassen zu werden und längere Zeit arbeitslos zu bleiben, bewegen, gewisse Praktiken der Leistungsvorenthaltung aufzugeben. Nach bundesdeutschen Berichten sind jedenfalls die Fehlzeiten geringer geworden. Ebenso soll sich der Arbeitsplatzwechsel verringert haben.

7. Die Anzahl der imitierten, das heißt nicht zur Gänze aus ökonomischen Sachverhalten heraus, sondern auf Grund von Lohnerhöhungen in anderen Branchen, begründeten Lohnforderungen sinkt. In einem Fall konnte sogar von der Zustimmung der Belegschaft eines Unternehmens zu einer Lohnreduktion auf Zeit berichtet werden.

8. Auf Teilarbeitsmärkten, auf denen Angebot und Nachfrage sich in einer kritischen Weise annähern, hat sich die Marktmacht der Gewerkschaften verringert, weil sie nunmehr eine Arbeitskraft verwalten beziehungsweise zu „verkaufen“ suchen, die nicht mehr so knapp (wenn überhaupt knapp) ist wie bisher. Das Gesetz der Knappheit wirkt sich nun partiell wieder gegen die Arbeitnehmer aus, wenn auch bis jetzt in einer Weise, die vom sozialen Standpunkt aus noch völlig unbedenklich ist.

Trotz der bekannten Disziplin der bundesdeutschen Gewerkschaften ist es möglich, daß sie im Einzelfall durch einen Wortradikaligmus, der leicht in einen faktischen Radikalismus umschlagen kann, die erlittene Machteinbuße zu kompensieren suchen. Unter Umständen wird die bereits vorgesehene Verringerung der Soll-Arbeitszeit früher als beabsichtigt gefordert, um auf diese Weise eine unter Umständen bedenkliche Mehrnachfrage nach Arbeitskraft zu erzwingen.

Und Österreich?

Angesichts einer Entwicklung, die noch nicht drohend, wohl aber beachtenswert ist, soll aus der Fülle an Fragen, die sich nunmehr geradezu zwangsläufig ergeben, auf zwei hingewiesen werden: • Die gesellschaftliche Versorgung und vor allem die Versorgung der marktpassiven Rentner (die wir in Österreich eitel durchweg „Pensionisten“ nennen) beruht auf der Annahme, daß unser Sozialprodukt permanent wächst. Von dieser Annahme ist man sogar bei Festlegung der Berechnungsformeln für die Rentenanpassung ausgegangen. Eine langfristige Berechnung (Vorausschätzung) für die BRD zeigt nun, daß die Zahl der männlichen Rentner bis 1980 um 27 Prozent und jene der rentenberechtigten Frauen bis 1975 um 20 Prozent ansteigen wird. Wenn sich die Hoffnungen auf eine Fortsetzung der Entwicklung unseres Sozialproduktes nicht erfüllen, kann es dazu kommen, daß sich die Größe des Sozialproduktes und die Ansprüche darauf gegenläufig entwik-keln. In dieser nicht von der Hand zu weisenden Möglichkeit ist eine Gefahr begründet, der man sich trotz aller Warnungen bisher nicht bewußt gewesen ist, vor allem weil so manche Politiker weniger an die Realitäten (noch weniger an das Vaterland), sondern in erster Linie an Chancen bei den jeweils nächsten Wahlen denken. • In den letzten Jahren war es durchaus berechtigt, daß sich die Wirtschaftspolitiker mehr um die Beschaffung von Arbeitskraft bemühten, als Vorsorgen für eine Arbeitsplatzbeschaffung zu treffen. Auch wenn man die gegenwärtige und durch die Witterungseinflüsse noch verstärkte Entwicklung nicht dramatisiert, ist sie doch ein Anzeichen dafür, daß man eine größere und länger dauernde Arbeitslosigkeit zumindest in die wirtschaftspolitischen und auch in die politischen Kalküle einbeziehen muß. Die Budgetdebatte in jenem Ringstraßenlokal, das man mit immer weniger Berechtigung ein „Hohes Haus“ nennen kann, hat leider keinen Grund zur Vermutung aufkommen lassen, daß alle Männer und Frauen, die wir gebeten haben, unsere Interessen auf höchster Entscheidungsebene zu vertreten, dies auch durchweg tun. Zumindest kann man in Österreich noch kaum so etwas wie Ansätze eines Konzeptes erkennen, das geeignet wäre, der Bewältigung einer krisenhaften Entwicklung auf unseren Arbeitsmärkten zu dienen.

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