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„Kultur der demokratischen Demut muss her“

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Jacek Żakowski ist einer der profiliertesten Publizisten Polens. Im Interview spricht er über die Nachbeben der Wende von vor 30 Jahren in Polen – und Auswege für die Opposition.

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Jacek Żakowski ist einer der profiliertesten Publizisten Polens. Im Interview spricht er über die Nachbeben der Wende von vor 30 Jahren in Polen – und Auswege für die Opposition.

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Vor 30 Jahren durften nach langen Verhandlungen am „Runden Tisch“ zwischen Regime und Opposition erste „freie“ Wahlen in Polen abgehalten werden. Die Stimmabgabe war frei, jedoch die Sitze im Parlament zugunsten der regierenden Kommunisten gewichtet. Die Wahlen waren der Auftakt für den Fall des Kommunismus in ganz Osteuropa. Ein Gespräch über Polen gestern und heute.

DIE FURCHE: Der im Jahr 2000 verstorbene Geistliche und Philosoph Józef Tischner verbreitete in Polen den Begriff „homo sovieticus“ und meinte damit Menschen, die im Realsozialismus gelernt hätten, anstrengungslos Ansprüche zu erheben und deshalb nach der Wende von 1989 Probleme mit der Freiheit hatten. Gibt es diesen Menschenschlag, und: Wären dies die Wähler der heute regierenden Recht und Gerechtigkeit (PiS)?
Jacek Żakowski: Ich denke nicht, denn wenn der homo sovieticus das Problem wäre, dann hätten wir in Griechenland, Italien, Frankreich oder Spanien kaum ähnliche Proteste. Spezifisch polnisch sind eher die bis ins 20. Jahrhundert bestehenden dörflich-feudalen Strukturen, die eine Kultur der fehlenden Handlungsfähigkeit prägten. Der Realsozialismus lehrte die Menschen indes weniger ein Anspruchsdenken als eher Vorsorglichkeit – denn kaum jemand hatte damals den Mut, Forderungen zu stellen. Im Realsozialismus wirkte folgendes Muster: Die große Politik läuft da oben, und wir versuchen, unten irgendwie zurechtzukommen – nehmen nicht an Wahlen teil, interessieren uns wenig für Politik, weil es lange gefährlich war. Diese Einstellung sehen wir bis heute.

DIE FURCHE: Haben also nicht jene recht, die, wie etwa Karol Modzelewski, meinten, nach den Wahlen am 4. Juni 1989 sei der Mythos der Solidarność-Bewegung benutzt worden, um den gesellschaftlichen Widerstand gegen die neoliberale Transformation zu brechen – mit Auswirkungen bis heute?
Żakowski: Bis zu einem gewissen Grad trifft dies zu. Die Solidarność war eine Protest-, keine Projektbewegung. Sie verwarf die kommunistische Realität im Namen einer „Normalität“, die jedoch nicht präzisiert war. Das Jahr 1989 war der Moment, als man diese Leere mit etwas füllen musste – und in jener Zeit war der Neo­liberalismus weltweit in Mode, und er, nicht die Solidarność-Eliten, füllte diese Leere. Die Gesellschaft nahm die ‚Wahrheiten‘ der neoliberalen Ideologie an, denn sie verfügte über keine anderen, wie man Gesellschaft, Staat und Ökonomie hätte gestalten können. Ich denke, dass heute genau dies das polnische Problem ist: Bei uns war in den letzten Jahrzehnten der Glaube an den Neoliberalismus unverhältnismäßig höher als in der West-EU, daher hinterließ der Zusammenbruch dieser Ideologie infolge der Krise von 2008 eine weitaus schmerzhaftere Lücke. Denn die Deutschen konnten und können sich wieder auf ihre Tradition des Ordoliberalismus berufen, die Briten auf ihre lebendige Klassentradition. In Polen aber hieß es: wenn nicht Leszek Balcerowicz (mit dem Namen des Ex-Finanzministers werden die Wirtschaftsreformen assoziiert; d. Red.), was dann? Hier erzeugt das Defizit an positiven Antworten eben negative, autoritäre Antworten, wie wir sie heute sehen.

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