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Kunstlicher Staatsnotstand ?

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Die Regierungserklärung Dr. Kreis-kys hätte bei nur wenigen Abänderungen einzelner Punkte und Sprachregelungen auch die Erklärung einer Koalitionsregierung sein können. Daß ein sozialistischer Regierungschef eine akzentuierte Betonung auf die Sozial- und Humanpolitik, auf eine verstärkte Mitbestimmung der Betriebsvertretung und auf die Verbesserung der Ar-r beitsbestimmungen legt, ist naheliegend. Das Ziel, jährlich 5000 Wohnungen mehr zu bauen, wird kaum bei einer anderen parlamentarischen Partei auf Widerstand stoßen. Wie aber die Realisierung dieses Wunsches vor sich gehen soll, dazu benötigt diese Regierung eine parlamentarische Mehrheit, die sie nicht aus sich heraus besitzt, sondern erst auf dem Verhandlungsweg suchen muß. So stellen alle Ankündigungen, wie die Schaffung von Neuland für den Wohnungsbau, wesentliche Verbesserungen des Strafrechtes, die gerechtere Dynamisierung der Renten und Pensionen, die Erhöhung der Witwenpensionen auf 60 Prozent und ähnliche Punkte, zunächst nur den Wunschkatalog einer Regierung dar, die allein nicht imstande ist, auch nur einen einzigen dieser Punkte aus eigener Kraft zu verwirklichen. Das ist der Schönheitsfehler der Regierungserklärung Dr. Kreiskys. Die ÖVP stellte, wie erwartet, keinen Mißtrauensantrag, durch den sie die FPÖ auf. Grund ihrer Wahlerklärung gezwungen hätte, mitzustimmen. Durch den von der Parlamentsmehrheit angenommenen Mißtrauensantrag wäre der Bundespräsident genötigt gewesen, noch klarer, als er es schon dieses Mal getan hat, vor der Öffentlichkeit zu deklarieren, daß er eine SPÖ-Alleinregierung wünscht. Er hätte nämlich nach dem Stand der Dinge das Parlament aufgelöst und Neuwahlen ausgeschrieben. Vor solchen Neuwahlen aber hatten die ÖVP und die FPÖ Angst, und diese Angst der beiden Oppositionsparteien vor Neuwahlen ermöglicht Bundeskanzler Kreisky sein Spiel. Dabei scheint es gar nicht so sicher zu sein, daß nicht auch die SPÖ sofortige Neuwahlen zu fürchten hat.

Der neue Regierungschef hätte das Spiel nicht gewagt, wenn er die Angst der beiden anderen Parlamentsparteien vor Neuwahlen nicht hätte einberechnen können. Sie offenbart zugleich die augenblickliche Schwäche der ÖVP, die aus allen Wolken fiel, als sie bei den Nationalratswahlen nicht nur die absolute, sondern auch die relative Mehrheit verlor, und das noch dazu in einer Zeit guter wirtschaftlicher Verhältnisse, und ohne irgendeine Verletzung demokratischer Spielregeln während einer vierjährigen Alleinregierung.

In der ersten Verwirrung erklärte der gestürzte Bundeskanzler noch in der Wahlnacht, eine kleine Koalition zwischen ÖVP und FPÖ wäre unmöglich, wodurch er dem Führer der Siegerpartei dessen taktisches Spiel erleichterte. Grundsätzlich mochte Dr. Klaus recht haben, aber taktisch war seine Erklärung ein Fehler, weil man auf dem politischen Schachbrett nicht eine Figur von vornherein opfert, noch dazu, wenn man der schwächere Spieler ist. Kreisky wird nämlich sehr geschickt mit dieser Figur, die Klaus so verächtlich beiseite schob, zu spielen verstehen. Hier nun kommen wir zum entscheidenden Punkt. Von den drei Parteien im Parlament ist, soweit man dies jetzt zu sehen vermag, die ÖVP auf allen Gebieten der Verlierer. Weil sie nicht den Mut besaß, den Mißtrauensantrag zu stellen und eine Neuwahl zu riskieren, enthob sie erstens die FPÖ ihrer Wahlverpflichtung und zweitens die Bevölkerung dem Zwang, zu entscheiden, ob sie eine SPÖ-Alleinregierung wünscht oder nicht.

Im Falle eines sozialistischen Sieges mit absoluter Mehrheit wäre zwar die ÖVP gezwungen, sich vier Jahre in die Opposition zu begeben, doch könnte sie in dieser Zeit eine Reform in personellem und vor allem geistigem Bereich durchführen sowie eine Alternativlösung zum SPÖ-Pro-gramm ausarbeiten. Die SPÖ anderseits wäre gezwungen, ihr Programm zu verwirklichen und damit zu beweisen, ob sie eine um soviel bessere innen- und wirtschaftspolitische Lage zu schaffen imstande ist, als die, die sie von der ÖVP übernimmt. Diese Klarstellung der Verhältnisse ist nun nicht mehr möglich. Das Gesetz des Handelns ist der ÖVP faktisch entglitten. Sie besitzt aber auch nicht die Chance einer echten Oppositionspartei, die sich innerhalb von vier Jahren regenerieren kann, da sie immer wieder zur Konfrontation gezwungen wird, nie weiß, wie lange das Spiel der Minderheitsregierung gespielt wird, immer in Bereitschaft stehen muß und in einer ganzen Reihe von entscheidenden Fragen von einer SPÖ-FPÖ-Parlamentsmehrh -' t überstimmt werden wird.

Die SPÖ aber hat den Vorteil, daß sie nur Teile ihres Programms verwirklichen muß — es werden die publikumswirksamsten sein —, weil sie immer wieder darauf hinweisen kann, daß ihr zur völigen Durchführung ihres Programms die gesicherte parlamentarische Mehrheit fehlt. Als Minderheitsregierung aber vermag sie sich einen günstigen Ausgangspunkt zu schaffen, um bei den nächsten Wahlen, deren Zeitpunkt sie mit Hilfe des Bundespräsidenten bestimmt, die absolute Mehrheit zu erringen oder zumindest die relative Mehrheit zu erhalten. Eine Minderheitsregierung ist gewöhnlich nur in einem Zeitpunkt des Staatsnotstandes üblich. Dann nämlich, wenn von links oder rechts eine Radikalisierung des politischen Lebens oder gar eine Diktatur droht. Das war in der Weimarer Republik der Fall, und das wird in der gegenwärtigen Epoche zeitweise in Italien praktiziert. In Österreich aber ist weder eine Bedrohung von rechts noch von links gegeben. Zu einer Minderheitsregierung besteht deshalb keine Notwendigkeit. Sie verfälscht vielmehr das politische Gefüge des Staates und ermöglicht weder echte Lösungen noch echte Alternativen. Sie gibt einzig Doktor Kreisky die Chance, seine Meisterschaft im politischen und parlamentarischen Spiel zu beweisen.

Das einzig Positive nämlich in diesem politisch gewagten Unternehmen ist die Erkenntnis, daß Österreich in Kreisky einen Vollblutpolitiker besitzt, der mit vielen Karten zu spielen versteht, ja sogar mit solchen, die zunächst gar nicht im Spiel waren, und die er aus dem Ärmel hervorzauberte.

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