Kushti: Ringen um ein besseres Leben
Junge Inder, die als Ringer Erfolg haben, können aus der Armut ausbrechen. Eine Reportage.
Junge Inder, die als Ringer Erfolg haben, können aus der Armut ausbrechen. Eine Reportage.
Halb sieben Uhr morgens: Zwei in Lendenschurz gekleidete Männer wälzen sich eng umschlungen auf dem Boden. Einer von ihnen packt den Arm seines Gegenübers und verdreht ihn hinter seinem Rücken – ein Schmerzensschrei weht durch die Luft. Beide sind überdurchschnittlich muskulös, die Bizepse gleichen einer Hügellandschaft durchzogen von Adern anstatt Flüssen. Es ist extrem schwül. Sand geht mit Schweiß eine Liaison ein, verklebt ihr Haar und überzieht die vor Anspannung zitternden Körper. Um die beiden Hünen stehen weitere vom selben Schlag – sie feuern sie brüllend an, erteilen Anweisungen, fiebern mit. Bald werden sie in einer ähnlichen Situation sein. Ein im Vergleich zierlicher Mann in einem weißen Poloshirt sticht heraus. Sobald er seine Stimme erhebt, schweigen alle, sogar die Ringenden halten inne: Coach Maha Singh Rao in seiner Wrestling-Schule Guru Hanuman Akhara.
Kraft und Spiritualität
Seit hundert Jahren werden an diesem Ort Kämpfe ausgetragen. Der Körper des Gründers Guru Hanuman fand sein Ende bei einem Autounfall, sein Geist jedoch scheint über der Schule zu schweben. Jeden Morgen schmücken die Schüler die auf einem Sockel erhaben stehende Statue im Hof mit Blumen und schauen zu ihr auf, gehen in sich, beten. Der Spiritualität folgt harte körperliche Betätigung. Zu diesem Zeitpunkt haben sie bereits einen einstündigen Lauf durch Delhi hinter sich. In der Arena geht es weiter. Doch bevor die Kontrahenten auf Zeit den heiligen Sand betreten – er ist lediglich durch ein Wellblechdach vor Regen geschützt – müssen die kleinen Sanddünen beseitigt werden. Das ist die Aufgabe der zehn- bis 15-Jährigen. Hierfür ziehen sie an einem dicken Schiffstau einen Betonblock über den Sand, der Schnappschuss erinnert an einen Ochsen vor einen Pflug gespannt. Drei bis vier Stunden ziehen sich die Kämpfe bis in den Vormittag. „Das ist mein Lieblingsteil des Tages. Beim Ringen vergesse ich alles um mich herum“, sagt Kamal. Der 17-Jährige kommt aus einem kleinen Dorf aus dem Bundesstaat Assam, im Osten Indiens. Für die Tausende Kilometer lange Reise haben seine Eltern Geld sparen müssen. Er ging nicht zur Schule, kann weder lesen noch schreiben. Länder in Europa, wie Österreich, sind ihm fremd. „Mein Vater ist Teebauer, meine Mutter Hausfrau. Wir hatten nicht viel, dafür kocht meine Mutter den besten Chai (Schwarztee mit Gewürzen) der Welt. Als kleiner Junge habe ich auf dem Feld geholfen, bis ich von einem Bekannten von Kushti gehört habe.“
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