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Labour vor der Spaltung?

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Im Parlament zu Westminster ist die etwa dreißig Millionen zählende Wählerschaft Großbritanniens durch 630 Abgeordnete vertreten. Jeder von ihnen repräsentiert, aus direkten Wahlen hervorgegangen, einen bestimmten Wahlkreis, und jeder mußte, um eine Chance für die Betrauung mit dieser Mission zu haben, eine eifrige Schar persönlicher Anhänger und darüber hinaus einen im betreffenden Distrikt bekannten Namen besitzen. Sehr anders, und nichts weniger als demokratisch, ist der Vorgang, der bei der Wahl des Führergremiums der mächtigsten außerparlamentarischen Körperschaft im Lande, des Gewerkschaftsbundes, beobachtet wird. Nur auf der untersten Stufe der Organisation, den lokalen Gewerkschaftszellen oder Logen, steht dem einzelnen Gewerkschaftsmitglied ein direktes Wahlrecht zu; auf den höheren Stufen der Distrikts-, Regional- oder fachgewerkschaftlichen Zusammenschlüsse versickert dieses Recht, so daß die große Masse der Gewerkschaftsangehörigen, die theoretisch zu je 5000 einen Delegierten in die Jahresversammlung des TUC entsenden, bei deren Auswahl nichts mitzureden hat, geschweige denn, daß sie einen Einfluß darauf nehmen könnte, welche Resolutionen der Versammlung vorgelegt und angenommen oder verworfen werden, und wie sich das von „ihren“ Delegierten gewählte Direktorium des TUC, der 35köpfige Generalrat, zusammensetzt. So sind es in der Praxis fast ausnahmslos richtige „Apparatschiks“, aus deren Reihen die Mitglieder des Generalrats hervorgehen.

Wenn man zu diesen Umständen und Gegebenheiten noch in Betracht zieht, daß der TUC kaum ein Viertel aller britischen Gewerkschaften umfaßt, mit allerdings 90 Prozent aller gewerkschaftlich Organisierten, und daß von den 22 Millionen Arbeitnehmern im Vereinigten • Königreich rund 60 Prozent außerhalb jeder gewerkschaftlichen Bindung stehen, verliert das Bild der Niederlage, die der Parteitag in Scarborough dem „Schattenkabinett“ Hugh Gaitskelis bereitet hat, ein wenig von seinem gk l sensationellen und im Hinblick ..^fk^e wfos tärische Sicherheit des Westens beunruhigenden Charakter. Bei den vorjährigen Parlamentswahlen sind für Labour mehr als 12 Millionen Stimmen abgegeben worden. Wenn nun auf dem Jahreskongreß dieser Partei, so wie es bei Tagungen der Konservativen der Fall ist, neben der Parteiführung bloß die Vertreter der regionalen Parteiorganisationen in den einzelnen Wahlkreisen Sitz und Stimme hätten, dann müßte es schwere Sorgen erregen, daß das bisherige offizielle Verteidigungsprogramm des „Schattenkabinetts“, welches mit dem der Regierung weitgehend übereinstimmt, verurteilt und der bedingungslose Verzicht Großbritanniens auf jegliche atomare Bewaffnung von einer großen Mehrheit gefordert wurde, ungeachtet der eindringlichen Warnung Gaitskelis, daß eine solche einseitige Abrüstung die Sprengung der NATO und eine kaum mehr abwendbare Kriegsgefahr zur unmittelbaren Folge hätte. Aber bei den Labour-Tagungen, die über die Parteilinie entscheiden, ist es eben so, daß die Haltung einiger großer Gewerkschaften den Ausschlag gibt, ohne Rücksicht darauf, ob nicht vielleicht sehr viele ihrer Mitglieder wegen ihrer Zugehörigkeit zur konservativen oder liberalen Wählerschaft, oder aus anderen Gründen, anders stimmen würden, so sie Gelegenheit dazu hätten, als der Gewerkschaftsboß es will, der ihr Votum selbstherrlich in die Waagschale wirft. Unter den außerhalb der Gewerkschaften stehenden Sozialisten gibt es manche, die diese Abhängigkeit vom Gutdünken der kaum drei Dutzend TUC-Magnaten als eine bedenkliche Schwäche ihrer Partei empfinden und beklagen. Aber, wie das Sprichwort sagt, wer zahlt, der bestellt die Musik, und da die Parteiführung auf den ihr zufließenden Ertrag der sog3nannten politischen Umlage, die die meisten Gewerkschaften von ihren Mitgliedern erheben, nicht verzichten kann, ist schon aus diesem Grund an eine Zurückdrängung des überragenden Einflusses, den der TUC auf die Labour-Politik ausübt, kaum zu denken.

Welchen Fortgang die im sozialistischen Lager ausgebrochene Krise nun nehmen wird,' muß sich bald zeigen, denn am 3. November eröffnet die Königin die neue Session des Parlaments, und bis dahin müssen die Rollen innerhalb der parlamentarischen Labour-Fraktion neu verteilt oder in ihrer bisherigen Verteilung bestätigt, und vor allem natürlich die Frage geklärt sein, wer als Führer der Opposition auf die Thronrede erwidern wird. Bis jetzt hat Gaitskell an dem Standpunkt festgehalten, daß die parlamentarischen Vertreter der Partei in ihren Beschlüssen unabhängig seien und sich daher — was von der Parteiexekutive allerdings bestritten wird — um die vom Kongreß bestimmte Linie nicht zu kümmern brauchten. Es kann also sein, daß er sich seinen Klubgenossen zur Wiederwahl als Fraktionsvorsitzender und „Schattenpremier“ stellt, und sogar, daß er dabei mit knapper Not noch Erfolg hat; in welchem Fall eine offene Revolte des linken Flügels unvermeidlich würde. Neben der offiziellen Labour-Opposition im Parlament gäbe es dann noch eine vermutlich etwa fünfzig Mann starke inoffizielle, mit der Gruppe um Michael Foot, Harold Davis, K. Zilliacus, Swingler, Allaun. Sollte anderseits Gaitskell beim bevorstehenden Wahlgang unterliegen oder sich doch noch zum freiwilligen Rücktritt vom Posten des Fraktionsführers entschließen, so ist eben so sicher damit zu rechnen, daß er sich nicht geschlagen geben, sondern mit der ihm treu gebliebenen Gefolgschaft im Sinn des bisherigen Parteiprogramms weiterkämpfen wird. Der Führer der dissidenten Gruppe hieße dann eben Hugh Gaitskell, und sein Gegenspieler an der Spitze der offiziellen Fraktion voraussichtlich Harold Wilson, der bereits zu verstehen gegeben hat, daß man sich, ob gern oder ungern, den von der Parteikonferenz beschlossenen Direktiven zu fügen habe.

Wie sich die nun kaum noch zu überbrückenden Gegensätze innerhalb der Partei auf den TUC auswirken werden, bleibt abzuwarten. Es ist durchaus möglich, daß es auch hier zu einer Spaltung kommt, denn durchaus nicht alle Gewerkschaftsführer sind mit einem Kurs einverstanden, der durch das Überhandnehmen von Disziplinlosigkeit und mutwilligen, die Wirtschaft schädigenden Streiks den gewerkschaftlichen Gedanken in der Öffentlichkeit diskreditiert. Jedenfalls, die Konservativen können sicher sein, daß die sozialistische Partei Großbritanniens, wenn sie nicht überhaupt zerfällt, auf viele Jahre hinaus als ernste Konkurrentin um. die Macht im Staate nicht mehr in Frage kommt.

Zu einer reinen Freude darüber ist aber bestimmt kein Anlaß, denn das Fehlen einer ernst zu nehmenden Opposition bringt die regierende Partei zwangsläufig in Versuchungen, die nur durch strengste Selbstkontrolle und Selbstdisziplin abgewehrt werden können. Harold Macmillan ist sich dessen zweifellos bewußt, ebenso wie der außenpolitischen Gefahr, die daraus entstehen kann, daß Moskau den sozialistischen Selbstzerfleischungsprozeß, der mit jener antinuklearen Resolution von Scarborough aufs neue demonstriert worden ist, ebenso falsch auslegt wie unlängst den antinuklearen „Schweigemarsch“ von Aldermaston und die Entschlossenheit des britischen Volkes, sich jedem weiteren Vordringen des sowjetischen Imperialismus zu widersetzen, endgültig im Schwinden sieht.

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