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Letztlich gefahrlicher als der Kommunismus

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Der westliche Liberalismus sei gefährlicher für Kirche und Menschwürde als der Kommunismus, so die These eines amerikanischen Fundamentaltheologen...

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Der westliche Liberalismus sei gefährlicher für Kirche und Menschwürde als der Kommunismus, so die These eines amerikanischen Fundamentaltheologen...

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frage: Wie begründen Sie diese Aussage?

Professor David L. Schindler: Der Kommunismus bediente sich der Gewalt und nahm ausdrücklich auf seine (marxistisch-) materialistische Ideologie Bezug. Er ging zum Angriff über und drängte seinen Lebensstil auf. Der westliche Liberalismus spricht den Appetit an. Er schafft eine Gesellschaft, die alle unsere Bedürfnisse zu befriedigen versteht. Er setzt sich nicht mit Panzern oder ausgeprägten Gewaltmitteln durch. Im Grunde genommen gibt er vor, überhaupt keine bestimmte Weltanschauung aufzudrängen. Er behauptet nur, materielle Güter in Fülle bereitzustellen und sagt, jeder sei nun frei, selbst zu wählen.

Das Problem liegt aber darin, daß man sich mit diesen Gütern auch einen Lebensstil einhandelt. Amerikas demokratischer Kapitalismus zum Beispiel ist nicht einfach nur ein Wirtschaftssystem; so wie er heute begriffen und verwirklicht wird, enthält er eine auf Konsum ausgerichtete, materialistische Vision vom guten Leben. Der westliche Liberalismus ist daher in einer Weise bedrohlich, wie es der Kommunismus nicht ist. Denn er durchdringt die Kultur un-erkennbar und unmerklich mit seiner Vision. Die Kulturen greifen nach dem Liberalismus, nur um - zu spät? - festzustellen, daß sie in die Fänge des Konsumdenkens geraten sind. Die Menschen wissen, daß sie ihre Freiheit verloren haben, wenn sie von Panzern überrollt wurden. Sie begreifen aber den Verlust der Freiheit, der von der Schwächung der Seele und der Versklavung an den Appetit herrüht, bei weitem nicht so rasch.

frage: Ist das der Inhalt Ihrer Auseinandersetzungen in Amerika? schindler: Einen Großteil meiner Debatten habe ich mit Neokonservativen geführt. Der Begriff „neokonservativ” im amerikanischen Umfeld bezieht sich auf eine konservative Lesart der angelsächsischen, liberalen Tradition - ein „konservativer Liberalismus”, wenn Sie wollen. Die katholischen Neokonservativen behaupten, Amerika sei weitgehend ausgenommen von der Kritik Papst Johannes Paul II. an der Massenkultur des reichen Westens. Sie betonen, mit „Centesimus Annus” habe die kirchliche Soziallehre eine neue Richtung eingeschlagen: Mehr als früher widerspiegele sie den Einfluß amerikanischer Denkrichtungen, vor allem der des demokratischen Kapitalismus. Aus neokonservativer Sicht stellt die Enzyklika Amerika als Modell vor, dem andere Nationen folgen sollten. Der Papst - und durch ihn die Kirche — bestätige nun eine Art katholischen Liberalismus...

frage: Sie widersprechen dieser Interpretation?

schindler: Die Neokonservativen behaupten, daß es die amerikanische Spielart des Liberalismus - wie ihn etwa die Gründungsväter Thomas Jefferson und James Madison beschrieben haben - ist, die mit dem übereinstimmt, was der Papst vorschlägt. Dieser Liberalismus hat seinen Ursprung in einer Mischung von Calvinismus (Puritanismusj englisch-schottischer Aufklärung (Locke, Hume, Smith...). Ihn unterscheiden die Neokonverativen vom gottlosen, weltlichen Liberalismus auf dem Kontinent (Frankreich im

18. und 19. Jahrhundert)...

frage: Meinen Sie also, die katholischen Neokonservativen seien der amerikanischen Kultur gegenüber unkritisch?

schindler: Nein, keineswegs... Sie kritisieren sehr vehement einige Aspekte der Kultur, etwa die Abtreibung, den Zusammenbruch der Familie, das Eintreten für Homosexua-liät als alternativen Lebensstil. Lautstark unterstützen sie den Papst in diesen Fragen.

frage: Wo sind dann die Unterschiede, und warum erscheinen Ihnen diese so wichtig?

schindler: Es geht darum, wie wir die Natur und den Ursprung dieser Probleme zu begreifen haben. Wir

stimmen alle darin überein, daß die Kultur eine erneuerte Moral braucht. Aber was bedeutet das?

Wenn wir davon ausgehen, daß jeder Zusammenbruch der Moral Folge der Sünde ist, so müssen wir dennoch - heute mehr denn je — in Fragen der Kultur besonders klar sehen... In dieser Krisenzeit müssen wir zurück zu den Fundamenten...

Hier nun unterscheide ich mich von den Neokonservativen: Sie sehen in den Erklärungen der amerikanischen Gründungsväter eine Reihe gesunder Grundsätze und Lebensregeln, die unserer Kultur zugrunde liegen. Sie sehen die jetzige moralische Krise als Verirrung — als Abweichung von diesen gesunden Ursprüngen an. Als Folge davon rufen sie nach dem, was sie „Catholic Moment” nennen: jenen Zeitpunkt der amerikanischen Geschichte, an dem die Katholiken erstmals die Initiative ergreifen, um Amerika zum

Besten seiner liberalen Wurzeln zurückzurufen.

Im Gegensatz dazu sehe ich, daß die gegenwärtige Krise wesenhaft verbunden ist mit den zentralen Prinzipien und Lebensgewohnheiten der amerikanischen Kultur. Selbstverständlich leugne auch ich nicht, daß es früher in unserer Geschichte ein viel tieferes Verständnis von Moral und Religion in Amerika gegeben hat... Was ich ausdrücken möchte, ist, daß auch dieses frühere Verständnis schon fehlerbehaftet war. Sobald man es lange genug umgesetzt hatte, mußte es die Kultur in jene Richtung lenken, die sie jetzt einschlägt. Dabei ist nicht das herausgekommen, was die amerikanischen Gründungsväter erwartet hatten. Ihr Verständnis von der Person, von der Gesellschaft und von Gott sowie die dieser Vorstellungswelt entsprechende Lebensart hatten aber „logische” Folgewirkungen, die sie nicht vorhergesehen hatten. Daher habe ich folgenden Eindruck: Die Neokonservativen versuchen, die heutige moralische Krise durch den Rückgriff auf jene Prinzipien und Lebensstile zu lösen, die die Krise hervorbrachten und die jetzt ihren Kern darstellen.

frage: Sie sprachen von Mängeln im Selbstverständnis Amerikas: Können Sie dazu Näheres ausführen? schindler: ...Konzentrieren wir die Frage auf das Verständnis des Menschen als Ebenbild Gottes. Nach neokonservativer Lesart heißt das vor allem, daß der Mensch ein Abbild von Gottes schöpferischer Macht ist. Die Betonung liegt auf der menschlichen Initiative. Hier liegt der Schlüssel zur unternehmerischen Tugend, die im Zentrum des demokratischen Kapitalismus steht...

Aber was heißt es denn, ein Geschöpf zu sein, insbesondere ein Geschöpf, das erlösungsbedürftig ist? Das Geschöpf ist wesentlich mit Gott verbunden, mit jenem, der der Gott Jesu Christi ist. Das bedeutet, daß die menschliche Freiheit auf Empfangen ausgerichtet ist, bevor sie schöpferisch sein kann. Wir sind nicht in erster Linie als Schöpfer und Initiatoren Abbilder Gottes -also nicht einfach nur Abbilder eines „deistischen” Gottes -, sondern Ebenbilder des von Jesus Christus geoffenbarten Gottes. Geschöpfe entfalten ihre Kreativität nur im Sohn. Sie müssen empfänglich werden in der Empfangsbereitschaft des Sohnes, damit sie die Kreativität und Initiative des Vaters wiedergeben. In diesem Sinne ist die Existenz des Geschöpfes von Anfang an eine des Gehorchens. Es geht darum, sich von Gott und den anderen Geschöpfen

Gottes in Dienst nehmen zu lassen... Es sind die Niedrigen, aus denen Gott Großes herausholt...

frage: Wie stehen Sie zum Problem des Pluralismus?

schindler: Klarerweise gibt es in Amerika und im gesamten Westen offensichtlich einen Pluralismus. Niemand kann das leugnen. Gleichzeitig ist es wichtig, sich klarzuma-

chen, daß der Begriff des Pluralismus, wie er von den Liberalen in Amerika vertreten wird, einen Betrug darstellt. Die Liberalen beharren darauf, daß sie nicht für eine Weltanschauung werben, sondern nur für ein Forum von Ideen, unter denen jeder frei wählen kann. Tatsächlich dürfen Bewerber das Forum aber nur betreten, wenn sie sich dem liberalen Freiheitsbegriff unterwerfen (der wiederum eine ganz bestimmte Sicht der Person, ihrer „Rechte”, usw... voraussetzt). Selbstverständlich haben die Mitbewerber politische Redefreiheit; nur wird ihnen kaum jemand zuhören, es sei denn, sie verwenden die Sprache des Liberalismus. Sonst werden sie als sektiererisch verschrieen und an den Rand der Kultur gedrängt.

Der katholische Philosoph Alas-dair Maclntyre hat das sehr klar beschrieben. Er sagt, daß die öffentlichen Debatten in den modernen Gesellschaften im Grunde genommen (und trotz ihres vorgeblichen Liberalismus) weitgehend zwischen konservativen Liberalen, liberalen Liberalen und radikalen Liberalen stattfinden. Die Unterschiede zwischen den an der Debatte Beteiligten erscheinen tiefreichend nur jenen, die

sich innerhalb der Vorurteile des Liberalismus bewegen. Für einen Außenstehenden erscheint das eher wie Familiengezänk.

Daher ist es unsere vorrangige Aufgabe im Zusammenhang mit dem behaupteten Pluralismus im Westen dieses Paradox des versteck-' ten Monismus zu entlarven. Mir kommt vor, daß die Neokonservativen an diesem liberalen Betrug in Sachen Pluralismus mitwirken. Einerseits berufen sie sich auf die Unterscheidung des Papstes zwischen politischen, ökonomischen und kulturell-moralischen Ordnungen.

In Übereinstimmung mit dieser Unterscheidung betonen sie - wenn sie den demokratischen Kapitalismus anderen Kulturen als Modell vorschlagen -, daß sie nur ein wirtschaftliches System anbieten, das ihnen ansonsten die Freiheit läßt, ihre Wertordnung zu bestimmen, innerhalb der dieses System seinen Platz finden kann. Andererseits singen sie im gleichen Atemzug Loblieder auf die für dieses Wirtschaftssystem typische Freiheit. Tatsächlich befürworten sie es als Lebensstil...

Worauf ich hinauswill: Die Neokonverativen können nicht beides haben. Die wirtschaftliche und die kulturell-moralische Ordnung sind zwar unterschiedlich, niemals jedoch unabhängig voneinander. Ein Wirtschaftssystem, dessen Kennzeichen der freie Markt ist, kommt klarerweise nicht ohne ein bestimmtes Vorverständnis von Freiheit aus. Der Fehler des Liberalismus... liegt in der Annahme, daß sein Freiheitsbegriff... neutral im Bezug zur allgemeineren Ordnung von Kultur und Moral sei. Als wäre es etwa möglich, das Konzept der menschliche Kreativität einzuführen, ohne dabei gleichzeitig bestimmte Vorstellungen vom Menschen und seiner Beziehung zu Gott vorauszusetzen und damit Moral und Kultur in eine bestimmte Richtung zu lenken...

frage: Könnte Ihre Kritik am Neo-konservativismus nicht verlorene Energie sein, die besser gegen ernstere Probleme wie der linke Feminismus und die New Age Spiritualität gerichtet wäre?

schindler: Erstens bin ich davon überzeugt, daß die Neokonservativen mit Personen der sogenannten Linken.... einige liberale Grundposition gemein haben. Auf der Ebene der Grundthesen betreiben beide Gruppen die Wiederherstellung wesentlicher Errungenschaften der Aufklärung. Beide versuchen die Übereinstimmung der katholischen Tradition mit diesen Errungenschaften aufzuzeigen. Sicher tun sie das auf sehr unterschiedliche Art, auf Wegen, die in vieler Hinsicht im direkten Widerspruch zu einander stehen, jedenfalls auf der Ebene der moralischer Fragen, die die Kirche heute betreffen, (Ordination der Frauen, Legalisierung der Abtreibung...).

Aber genau darum geht es ja. Indem sie sich dem neokonservativen

- im Gegensatz zum „progressiven”

- Weg zuwenden, glauben viele Katholiken, daß sie damit der kirchlichen Tradition treu bleiben. Wenn meine obigen Überlegungen zutreffen, helfen aber Katholiken, die den Neokonservativen folgen, tatsächlich, wenn auch ungewollt, letztendlich den Progressiven die liberalen Grundannahmen... in den Katholizismus einzubringen. Deswegen ist die Unterscheidung, was die neokonservative Form des Liberalismus anbelangt, so schwierig - dafür aber auch so wichtig: Denn im Gegensatz zum „progressiven” Liberalismus scheint er mit der katholischen Tradition übereinzustimmen....

David L. Schindler

ist Professor für Fundamentattheologie in Washington. Auszug aus einem Interview in der slowenischen Ausgabe von „Communio” vom Sommer 1994.

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