Ukraine - © Illustration: Rainer Messerklinger

Liana Fix: „Regime change ist kein Ziel“

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Verhandlungen würden den Krieg gegenwärtig verlängern, sagt Liana Fix vom „Council on Foreign Relations“. Ein Gespräch über Apathie, Naivität und die potenzielle Zeitenwende im Weißen Haus.

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Verhandlungen würden den Krieg gegenwärtig verlängern, sagt Liana Fix vom „Council on Foreign Relations“. Ein Gespräch über Apathie, Naivität und die potenzielle Zeitenwende im Weißen Haus.

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Am „Council on Foreign Relations“ (CFR)– einem außenpolitischen Forschungsinstitut in Washington, D.C. – verantwortet die Politologin und Historikerin Liana Fix den Bereich Europa. Im Gespräch erklärt sie, warum die Verbündeten kein Interesse daran haben, Putin zu stürzen, wie es um Europas Sicherheit unter einem US-Präsidenten Trump stünde und in welche Phasen sich der bisherige Kriegsverlauf einteilen lässt.

DIE FURCHE: Wie blicken Sie auf die 365 Tage seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die gesamte Ukraine zurück? Welche geopolitischen Lehren lassen sich ziehen?
Liana Fix:
Ich würde das vergangene Jahr in Phasen unterteilen: Die erste Phase war eine Phase des Schocks, insbesondere in Europa. Mehr als in den USA, wo der Einmarsch vorhergesagt worden ist. Die Großflächigkeit und die Brutalität des Angriffes, die die ganze Ukraine getroffen haben, und auch die Dreistigkeit, also dass Russland darauf abgezielt hat, die ukrainische Regierung abzusetzen und eine eigene Regierung in Kiew zu installieren – das hat zu einem Schock geführt, insbesondere in den Ländern, die die russische Außenpolitik bisher noch nicht als das erkannt haben, was sie ist.

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DIE FURCHE: Wo wurde die russische Außenpolitik verklärt?
Fix:
Insbesondere in den westeuropäischen Ländern wie Frankreich oder Deutschland. Im Gegensatz zu den mittel- und osteuropäischen Ländern, die mitunter als Kassandren verspottet wurden. Sie hatten die Rolle, Unheil vorherzusagen, aber nicht ernst genommen zu werden. Letztlich musste Westeuropa diesen Staaten zugestehen, dass sie in ihrer Kenntnis über Russland und seiner Außenpolitik recht behalten hatten.

DIE FURCHE: Wie lautet Ihre Einschätzung in Bezug auf den Part Österreichs?
Fix:
Österreich agierte ähnlich wie Deutschland – und ging an einigen Stellen sogar darüber hinaus. Die Verbindungen, sowohl auf wirtschaftlicher Ebene als auch auf politischer, zwischen Österreich und Russland waren teilweise sehr eng. Auch auf geheimdienstlicher Ebene ist Russland sehr aktiv in Österreich. Österreich war in dieser Hinsicht mindestens so arglos wie Deutschland und Frankreich, wenn nicht sogar ein bisschen mehr. Was ich schon festhalten will: In welche Richtung Russland driftet, war spätestens seit 2014 abzusehen. Die Entscheidung, sich nicht von Russland zu distanzieren, war eine bewusste Entscheidung, keine leichtgläubige. Österreich hat hier noch einmal eine gesonderte Position, weil es von NATO-Ländern umgeben ist und kein eigenes Sicherheitsrisiko hat. Es muss sich daher bei den Themen Sicherheitspolitik und Verteidigung kaum Sorgen machen. Auf der anderen Seite ist es vom politischen Gewicht zu klein, um eine Rolle der Verantwortung eingehen zu müssen. Österreich agiert und agierte in einem geschützten Raum.

Österreich war mindestens so arglos wie Deutschland – wenn nicht sogar ein bisschen mehr. Auch auf geheimdienstlicher Ebene ist Russland sehr aktiv in Österreich.

DIE FURCHE: Sie sprachen von Phasen, in die Sie die vergangenen 365 Tage einteilen würden. Welche folgte jener des Schocks?
Fix: Die des Optimismus. Weil klar war, dass die Ukraine fähig ist, zurückzuschlagen. So kam es zu ersten Waffenlieferungen. Und diese Phase hat sich weiterentwickelt zu einer Phase der Erwartung, dass die Ukraine die bereits von Russland eroberten Gebiete sogar befreien kann – das war zunächst in Charkiw, später in Cherson der Fall. Auch die Bestimmtheit Wolodymyr Selenskyjs spielte eine große Rolle – sein Bekenntnis, vor Ort zu bleiben, an der Seite seiner Landsleute zu stehen. Beide Faktoren verdeutlichten: Bei diesem Abwehrkampf geht es nicht darum, das Überleben einer Rumpf-Ukraine zu retten, sondern um die ukrainische Nation. Es galt, die Bevölkerung von Terror, Vergewaltigung und Kriegsverbrechen zu befreien. Darauf folgte eine Phase der Stagnation, die aber gekoppelt war mit Vorbereitungen im Hinblick auf die Frühjahrsoffensive. Der Westen verständigte sich schließlich darauf, die Ukraine so auszustatten, dass sie die Möglichkeit hat, weitere Gebiete zu befreien, um den Krieg zu einem Ende zu bringen.

DIE FURCHE: Je mehr Gebiete befreit sind, desto eher endet der Krieg? Zum gegenwärtigen Zeitpunkt klingt das einigermaßen abstrakt.
Fix:
Die russische Seite setzt auf das waiting game. Das wiederum geht auf die Annahme zurück, dass die westliche Unterstützung nachlassen wird und Russland mittelfristig Oberhand gewinnen wird – auch aufgrund weiterer Rekrutierungen und was das Material angeht. Bisher hat sich die russische Hoffnung jedoch nicht bestätigt, da die Ukraine umfassend und qualitativ besser vom Westen ausgestattet wird. So wird sie ob der neuen Ausstattung weiteres Territorium befreien und damit die russische Seite in eine geschwächte Position bringen. Entweder sieht sich dann Russland selbst gezwungen zu verhandeln, oder aber man befindet sich wenigstens auf Höhe der Frontlinien vom letzten Jahr. Die Kampfhandlungen würden dann zwar weitergeführt werden, aber auf einer niedrigeren Schwelle. Somit könnte die Ukraine die russische Aggression zumindest eindämmen. Jedenfalls wird es sich um keine Verhandlung handeln – also mit einem klaren Ende –, die man aus der Geschichte zum Teil gewohnt ist.

Das Szenario eines Nuklearwaffeneinsatzes von russischer Seite ist denkbar. Und zwar räumlich begrenzt auf die Ukraine, um politischen Druck auszuüben, sie zum Aufgeben zu zwingen.

DIE FURCHE: Einige Experten weisen darauf hin, dass Russland schier unbegrenzten Zugang zu Soldaten habe, da es bevölkerungsmäßig dreimal so groß ist wie die Ukraine. Deshalb sei das Thema Bodentruppen aus dem Westen nur noch eine Frage der Zeit. Wie stehen Sie dazu?
Fix:
Die Rechnung – die Bevölkerung der Ukraine gegen jene Russlands aufzurechnen – geht meiner Ansicht nach nicht auf. Auf russischer Seite stellt sich die Frage, wie lange das innenpolitisch durchhaltbar wäre. Eine weitere Rekrutierungswelle wäre ein innenpolitisches Risiko. Darüber hinaus ist Quantität nicht immer ausschlaggebend. Russland kann zwar in der Tat Rekruten als eine Art Kanonenfutter in diesen Krieg werfen, aber das bringt keine entscheidenden Veränderungen. Die Soldaten sind zu schlecht ausgebildet und ausgestattet und haben keine Motivation. Im Gegensatz zur ukrainischen Armee. Bodentruppen als logische Schlussfolgerung sehe ich nicht. Es gibt keine Linie, die von Kampfpanzern zu Kampfjets zu Bodentruppen führt. NATO-Bodentruppen würden bedeuten, dass es einen Krieg zwischen NATO, den USA und Russland gäbe. Das ist eine völlig andere Dimension, die in keiner Hauptstadt – weder in Mittel- und Osteuropa und erst recht nicht in den USA – in irgendeiner Weise eine Option ist. Das heißt: Wenn der Krieg so weitergeht, wie er weitergeht, und wir keine extreme Eskalation von russischer Seite sehen, zum Beispiel einen Nuklearwaffeneinsatz oder eine Ausweitung des russischen Krieges auf NATO-Territorium, halte ich den Einsatz von Bodentruppen für ausgeschlossen.

DIE FURCHE: Sie sagen, falls es zu keinem Nuklearschlag kommt … Also wann genau ist die Grenze zu NATO-Bodentruppen überschritten?
Fix:
Genau dann, wenn NATO-Territorium getroffen würde. Dann wäre auch die NATO in diesen Krieg involviert. Das forcieren weder die Russen noch die NATO. Das Szenario eines Nuklearwaffeneinsatzes von russischer Seite ist potenziell denkbar. Und zwar räumlich begrenzt auf die Ukraine, um politischen Druck auszuüben, sie zum Aufgeben zu zwingen. Es ist aber unwahrscheinlich, dass das erfolgreich wäre. Das würde die Ukraine noch mehr bestärken, zu einem internationalen Aufschrei führen, der dann wiederum bedingen würde, dass die NATO die Ukraine bei Angriffen auf russische Militärziele in der Ukraine unterstützt. Das ist aber immer noch etwas anderes als NATO-Bodentruppen in der Ukraine oder von der NATO unterstützte Kampfhandlungen auf russischem Territorium.

DIE FURCHE: Dass eine Lösung mit Putin schwer stattfinden kann, ist unter Militärs Konsens. Während Ethiker und Moraltheologen immer schon über den Tyrannenmord diskutiert haben, ist eine „Ausschaltung“ Putins aktuell für Geostrategen offenbar keine Option. Warum eigentlich?
Fix:
Das Ziel der Verbündeten ist, dass sich Russland aus der Ukraine zurückzieht. Punkt. Es gibt keine Agenda, kein Interesse, die oder das auf einen regime change in Russland hinausläuft. Das muss in Russland selbst entschieden werden. Es geht um die Befreiung der Ukraine und nicht um den russischen Herrscher selbst. Auch hier spielt das Eskalationspotenzial eine Rolle, dass das russische Regime durch Nuklearwaffen geschützt wird.

DIE FURCHE: Sie haben das innenpolitische Risiko angesprochen, das selbst für einen Diktator wie Putin gilt. Man fragt sich, warum Mütter, die ihre Söhne an der Front verloren haben, oder Frauen, die um ihre Männer trauern, nicht lauter aufbegehren. Man ging doch fest davon aus, dass dies vor allem in der Mittelschicht passiert. Ist es nur die Angst vor Repressalien?
Fix:
Tatsächlich herrscht in vielen Teilen der russischen Gesellschaft gegenüber diesem Krieg Apathie; er wird ausgeblendet, gerechtfertigt auf Basis der Propaganda. Gleichzeitig sind die wenigen Proteste, die es gab, so brutal unterdrückt worden, dass es extrem schwierig geworden ist, Protest zu üben. Dennoch haben viele damit gerechnet, dass die russische Gesellschaft diesen Krieg, auch aufgrund der Nähe zur Ukraine, ablehnen wird. Zwar gibt es in der Mehrheit keine Bereitschaft, selbst zu kämpfen, aber es gibt dennoch eine breite Unterstützung für diesen Krieg. Aus vielen Stellen Russlands dröhnt ein lautes Schweigen.

Praktiken, die wir jetzt sehen – Waffengewalt hinter den Frontlinien, die Nichtachtung des Wertes des Lebens der eigenen Leute, zurückgelassene Verwundete –, sind ein Erbe aus den 1930er Jahren.

DIE FURCHE: Die Meldungen, wie rücksichtslos Russland mit den eigenen Soldaten umgeht, lassen einen regelmäßig erschaudern. Welche Grundsätze herrschen dort?
Fix:
Das geht zurück auf die dunklen Kapitel der sowjetischen Geschichte; insbesondere jene der 1930er Jahre, aber auch auf den Eintritt der Sowjetunion in den Zweiten Weltkrieg. Viele der Praktiken, die wir jetzt sehen, – Waffengewalt hinter den Linien, die Soldaten zwingen soll, nach vorn zu gehen, die Nichtachtung des Wertes des Lebens der eigenen Leute, zurückgelassene Verwundete oder Leichen – sind ein Erbe dieser Zeit. Der Große Vaterländische Krieg, so wird er in Russland genannt, wird kollektiv verherrlicht. Eine Kontinuität, die auch Putin befeuerte, der die kritische Auseinandersetzung mit dieser Zeit zunehmend unterdrückte und stattdessen einen Identifikationspunkt schuf.

DIE FURCHE: Noch einmal zurück zu einem möglichen Ende des Krieges. Der Schweizer Sicherheitsexperte Albert A. Stahel erklärte im Interview mit der FURCHE (Oktober 2022), dass das Narrativ, nur die Ukraine solle entscheiden, wann die Zeit reif sei für Verhandlungen, ein Irrtum sei und in die Irre führe. Einerseits weil der Staat nur mittels westlicher Waffen weiterexistierte, andererseits weil Wladimir Putin ohnehin nur mit den USA verhandeln würde.
Fix:
In der Aussage, die Ukraine müsse entscheiden, geht es darum, ein wertepolitisches Signal zu senden – es stimmt, dass die Ukraine ohne westliche Unterstützung ihren Widerstand nicht aufrechterhalten kann. Aber es gilt, klarzustellen, dass die Ukraine ein eigener Akteur ist. Andernfalls würde man Putins Argumentation – „Es gibt die Ukraine nicht als Nation, sie ist eine Marionette des Westens“ – unterstützen. Ohnehin ist aus meiner Sicht die Herausforderung bei den Verhandlungen weniger, in welchem Format sie geführt werden, sondern dass Russland keinerlei Verhandlungsbereitschaft zeigt. Putin fordert weiterhin eine Kapitulation der Ukraine. Und falls Russland tatsächlich jetzt einer Verhandlung zustimmen würde, müsste man davon ausgehen, dass es die Zeit des Waffenstillstands nutzen würde, um sich zu sammeln, und in ein, zwei Jahren dort anfinge, wo es 2022 angefangen hat. Verhandlungen zum gegenwärtigen Zeitpunkt würden diesen Krieg also eher verlängern.

Fix - © Foto: privat

Liana Fix

Nach Stationen an der Körber-Stiftung und der Friedrich-Ebert-Stiftung forscht die gebürtige Deutsche Liana Fix in den USA zu integrativen Strategien in der internationalen Politik.

Nach Stationen an der Körber-Stiftung und der Friedrich-Ebert-Stiftung forscht die gebürtige Deutsche Liana Fix in den USA zu integrativen Strategien in der internationalen Politik.

DIE FURCHE: Nach Angaben des Pentagons haben die USA seit der Invasion 2022 militärische Hilfe im Umfang von fast 30 Milliarden Dollar bereitgestellt. Was ist hinsichtlich dieser Unterstützung seitens der Biden-Regierung zu erwarten, wenn der kommende Präsidentschaftswahlkampf in vollem Gange ist?
Fix:
Gerade im Repräsentantenhaus, in dem jetzt die Republikaner die Mehrheit besitzen, gibt es einige Stimmen, die der Ukraine weniger Support zukommen lassen würden. Auch wird die Kritik, die Europäer seien zu passiv, zunehmend lauter. Fakt ist: Europa hat in diesem Krieg keine Führungsrolle übernommen und auch keine Ambitionen gezeigt, das zu tun. Aber letzten Endes ist es ein Krieg, der in Europa stattfindet und der massive Auswirkungen und Konsequenzen für die europäische Sicherheit hat. Dass sich gerade das Duo Frankreich/ Deutschland in dieser Angelegenheit so zurückhält, ist eine Gefahr. Auch weil die osteuropäischen Länder hinterfragen, ob sie sich im Falle des Falles auf Europa verlassen könnten.

DIE FURCHE: Was wäre eigentlich gewesen, wenn am 24. Februar 2022 der US-Präsident nicht Joe Biden, sondern Donald Trump geheißen hätte?
Fix:
Die Ukraine hätte vielleicht geschafft, aus eigenen Kräften die Hauptstadt Kiew zu verteidigen. Aber den Beistand, den wir jetzt sehen, hätte es nie gegeben. Überhaupt wäre ganz Europa sicherheitspolitisch in einer sehr prekären Situation. Donald Trump hatte in seiner Amtszeit ziemlich deutlich gemacht, wie wenig ihm die Sicherheit Europas am Herzen liegt.

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