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Literaturpreise in Frankreich

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„Angenommen, Sie würden in wenigen Minuten sterben, welches geistige Testament würden Sie Ihren Zeitgenossen hinterlassen?“ „Bei welcher Gelegenheit kommen Ihnen die besten Einfälle?“ „Glauben Sie an Gott?“ — Ununterbrochen muß sich der Schriftsteller in Frankreich der Oeffentlichkeit stellen, zu allen möglichen und unmöglichen Fragen, auf die das. geschäftige Nachdenken der zahllosen literarischen Manager verfällt, soll er Auskunft geben. Alle seine Lebensäußerungen werden von Scheinwerfern bestrahlt. Er muß sich verteidigen und das verführt ihn auch zum Angreifen. Darum sind die literarischen Fehden in Frankreich von einer für uns unvorstellbaren Lebhaftigkeit und Heftigkeit. Man nimmt in Frankreich die Literatur fast so ernst wie den Film. Es kommt sogar vor, daß gegen das Urteil einer literarischen Jury demonstriert wird, wie anläßlich der Verleihung des Goncourt-Preises an Beatrice - Beck für ihren Arbeiterpriesterroman „Léon Morin, Priester“, als junge Männer in den vorbereiteten Festsaal stürmten. Oder ein Schriftsteller lehnt den angesehensten Preis ab, weil er fürchtet, die sehr zahlreichen auf das Preisbuch abonnierten Bürger würden seinem Ruf als Avantgardisten schaden.

Der sichtbarste Ausdruck für den Oeffent- lichkeitscharakter der französischen Literatur sind die zahlreichen literarischen Preise. Die Verleihung der vier großen Literaturpreise im Herbst jeden Jahres ist in Frankreich ein nationales Ereignis, vergleichbar nur dem Revolutionsfest am 14. Juli oder der Radrundfahrt Tour de France.

Die berühmtesten Preise sind der seit 1903 bestehende Prix Goncourt, der seit 1904 verliehene Prix Femina, der 1926 von Journalisten begründete Prix Theophraste Renau- dot und der 24 Jahre alte Prix Interallié. Dazu kommt eine Unzahl weiterer, von den verschiedensten Kollegien vergebener Preise, so auch ein eigener „Preis der Kritik“. Die Gesamtzahl soll 545 betragen. Die großen Pariser Tageszeitungen widmen den Literaturpreisen fast jede Woche eine Spalte ihrer Literaturseite. Es gibt da regionale Prämien, Preise für den besten Liebesroman, für sentimentale Romane mit Happy-End, für Science Fiction, für Berghintergrund- und Kaffeehausmilieu, um nur wenige Beispiele aus dieser verwirrenden Menge herauszugreifen. Die Höhe der Preise entspricht nicht ihrer Bedeutung. So hat der Goncourt-Preis mit seiner bescheidenen Geldprämie von nur 5000 Francs die höchste Autorität, während dem für den populären Roman verliehenen Preis in der Höhe von 500.000 Francs nur eine sehr beschränkte Bedeutung zukommt.

Die Schattenseiten dieser literarischen Lotterie, wie die Preise von ihren Gegnern verächtlich bezeichnet werden, konnte man aus den Zeitungskommentaren zu der fünfzigsten Verleihung des Goncourt-Preises im vergangenen Herbst erfahren. Armand Sala- crou, einer der zehn Preisrichter der Aca- demie Goncourt, beklagte sich, daß er dieses Jahr einen Bücherstoß v8n 4,30 Meter Länge, das sind 220 Bände, durchzulesen hatte — ein Jahr vorher waren es nur 18Ö gewesen. Dabei handelt es sich bei den für eine Verleihung in Frage kommenden Werken nur um erste oder zweite Romane junger Autoren. Aus dieser großen Zahl eben erst geborener Romane, die, in aller Eile fertiggeschrieben und gedruckt, oft noch ohne Umschlag für die Preisverleihung eingereicht werden, soll die Jury den besten Roman herausfinden und der Nation bekanntgeben. Und sofort werden sich 200.0G6 Leser auf dieses — nur mit dem bescheidenen Geldpreis von 5000 Francs bedachte Buch stürzen. Denn die Leser wollen geführt werden. Wie sollen sie sich sonst in den 1500 neuen Romanen des Jahres zurechtfinden und überhaupt zum Lesen kommen? Für die Verleger bedeutet der Goncourt-Preis hundert Millionen Francs Mehreinnahmen. Sie edieren neue Romane darum fast ausschließlich für die Jury. Nach der Preisverteilung gibt es einige Monate kaum neue Titel auf dem Büchermarkt. Und auch die Autoren schreiben hauptsächlich für die Preisverleihung. Die Verleger reißen ihnen die Bücher aus der Hand. Da die begehrte Qualitätsmarke von wirtschaftlich unverantwortlichen Kollegien verliehen wird, wird aus der Buchedition ein Lotteriespiel. Man weiß ja nie, was der Jury plötzlich einfallen kann. Sie kann Außenseiter wie Julien Gracq prämiieren oder sogar einen Novellenband, wie es 1953 geschehen ist. Also drucken die Verleger alles Erreichbare. Für die jungen Autoren bedeutet die Preisverleihung, daß sie mit einem ersten Roman das verdienen können, wozu sonst 20 Jahre nicht ausreichen würden, und so schreiben sie hastig ihren ersten Roman, um am nächsten Termin in die Wahl zu kommen

Ob die Situation des Autors unter den wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen der Gegenwart dadurch positiv verändert wird, ist fraglich. Einerseits ist es günstig, daß die Verleger so gerne Erstlingswerke drucken, anderseits entsteht dadurch aber auch eine solche Flut von ganz guten Talenten, daß der Leser ermüdet und nur mehr solche Werke wahrnimmt, die durch Sensationen oder Preisverleihungen in das öffentliche Licht gerückt wurden. Und vom dritten Roman an, wenn die Chancen für eine Prämiierung vorbei sind, beginnt für den Autor der Leidensweg. Dann muß er sich erst langsam ein wirk-

liches Publikum finden, das selten mit dem Goncourt-Publikum identisch ist und im günstigsten Fall, auch in Frankreich, nicht mehr als 15.000 bis 20.000 Menschen umfassen kann. Auch schaffen die Prämien unter den Schriftstellern eine Art von Aristokratie und verleiten sie zu empirischer Magie. Eine monatlich gewissenhaft ausgewählte Bücherliste wäre wahrscheinlich nützlicher und unschädlicher.

Demgegenüber dürfen aber die Vorteile der Preisverleihungen, die ja eine Anpassung des Mäzenatentums an das demokratische Regime darstellen, nicht übersehen werden. Ohne den Goncourt-Preis würde nur die Hälfte der neuen Romane junger Autoren erscheinen.

Eine Uebersicht über die 50jährige Praxis des Goncourt-Preises zeigt kein so schlechtes Resultat, wie man nach der heftigen Kampagne gegen die gefährliche Autorität der Preise vermuten sollte. Immerhin haben Marcel Proust und André Malraux diesen Preis erhalten, wenn auch Sartre, Camus, Montherlant oder Giono unter den Trägern der vier großen Preise nicht erscheinen. Wirk-, liehe Außenseiter — Gracq kann man nicht als solchen bezeichnen, denn sein Legendenroman in gepflegtem Französisch ist nicht avantgardistisch, wie es etwa die Romane Becketts sind —, werden von diesen großen Ereignissen des literarischen Frankreichs, die oft leidenschaftliche Demonstrationen auslösen, allerdings ausgeschlossen. Aber das veranlaßt nur einzelne Nichtkonformisten dazu, prinzipiell keine prämiierten Romane zu lesen, ein Umstand, der nicht sehr ins Gewicht fallen dürfte. Auf jeden Fall nimmt die französische Nation zu ihrer Literatur Stellung, was in Oesterreich zur Nachahmung empfohlen werden mag.

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