6744685-1967_03_06.jpg
Digital In Arbeit

Londons kranke Wirtschaft

Werbung
Werbung
Werbung

Nach den letzten Meldungen erreichte die Zahl der Arbeitslosen in Großbritannien Anfang Dezember rund 550.000 Arbeiter und Angestellte. In mehreren Industriezweigen wurde in großem Maßstab zur Kurzarbeit übergegangen, um die Produktion dem sinkenden Absatz anzugleichen. Doch sagt man voraus, daß viele dieser Firmen schon in den nächsten Wochen mit der Kurzarbeit keine befriedigende Antwort auf ihre Probleme haben werden: Auch sie werden ihre Belegschaft verringern müssen, da die gegenwärtigen Kreditkosten jedes Fertigwarenlager untragbar machen. Und das Ausweichen auf Auslandsmärkte besteht für viele britische Firmen leider nur in der ökonomischen Theorie und nicht in der Praxis.

Dies sind die weithin sichtbaren Symptome der Londoner Wirtschaftskrankheit, die sich aus zwei Faktoren erklären. Einmal aus strukturellen Gründen, also etwa aus dem hohen Anteil der Grundstoffindustrie — viele unrentable Kohlengruben, technisch zum Teil überholte Stahlwerke — und in der verarbeitenden Industrie aus den höheren Produktionskosten je Einheit als in den wichtigsten Konkurrenzländern (USA, Japan, BRD und Italien); eine geringere Arbeitsproduktivität ist allgemein gekoppelt mit einem höheren Lohnniveau. Zum anderen aus konjunkturellen Gründen; hier verbinden sich Wiederum zwei Effekte: die scharfe monetäre Restriktion, welche das Kabinett Wilson im Juli 1966 einführte (Diskontsatz von 7 Prozent, Kreditexpansion wird gestoppt usw.), und der Lohn- und Preisstopp („wage-freeze“). Kurz, die Deflationspolitik wirkte rascher und härter als vorhergesehen; die Restriktionspolitik der Regierung wurde von einer allgemeinen Ab-schwächung der weltwirtschaftlichen Auftriebskräfte begleitet.

Wenig Gewißheit

Obzwar im Juli der Regierung wegen ihres Mutes applaudiert und besonders der Umstand hervorgehoben worden ist, daß das Kabinett Wilson es „ernst“ mit den Gewerkschaften meine, hat aus begreiflichen Gründen seither die Begeisterung etwas nachgelassen. Es wurden nämlich nicht nur die Lohntüten nicht größer, die Gewinne der Konsumgüterindustrie wurden sogar kleiner. Alles würde man jedoch hinnehmen, wenn Gewißheit über den erfolgreichen Ausgang der Operation bestehen könnte. Man wird jedoch die Gefühle des Zweifels nicht los. Denn spätestens 1968 müßte und würde die Regierung die Konjunktur wieder anheizen, um 1970 oder 1971 zum Zeitpunkt der nächsten Parlamentswahlen Hochkonjunktur und damit Chancen auf einen Wahlsieg zu haben. Die Konjunkturbelebung würde sicherlich, so argumentieren die Widersacher der Regierung, wieder mit Mitteln der monetären Konjunkturpolitik, das heißt mit Senkung des Diskontsatzes usw., und mit steuerpolitischen Maßnahmen erfolgen, die spätestens 1972 abermals eine Zahlungsbilanzkrise auslösen würden.

In den einzelnen politischen Parteien, in den wirtschaftlichen Interessenorganisationen fragt man daher, zumindest inoffiziell, wohin der gegenwärtige wirtschaftspolitische Kurs der Regierung schließlich führen solle. Man stimmt zwar mit der

Meinung des Premierministers überein, daß der Wiederherstellung einer ausgeglichenen Zahlungsbilanz ein Vorrang gebührt; über den Weg, der dieses Ziel näherbringen soll, gehen die Ansichten auseinander. Die vielgelesene Wochenzeitung The

Economist reihte vor kurzem die möglichen Alternativen:

1. Nach einer vorübergehenden Deflation sollte das Land seine Exportchancen durch eine Pfundabwertung steigern; eine wirkungsvolle Einkommenspolitik - “'ßte dafür sorgen, daß ein Anstk, der Produktionskosten die Abwertung nicht wieder aufhebt.

2. Falls eine Pfundabwertung aus internationalen Gründen für unmöglich erachtet wird, sollte Großbritannien seine Ausfuhr subventionieren; dann müßte die Deflation und die Einkommenspolitik wahrscheinlich noch lange aufrechterhalten und womöglich noch einschneidender werden.

3. Nur wenn es gelingt, etwa em Zehntel der Arbeitskräfte und der Produktionsmittel in einer Investitionsgüterindustrie zu beschäftigen, die auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig ist, kann das strukturelle Zahlungsbilanzungleichgewicht geheilt werden.

Skeptisch bis pessimistisch

Auch andere Experten, wie Professor Day von der London School of Economics oder der Berater des Schatzamtes, Professor Cairncross, unterstreichen die Tatsache, daß mit einer Deflation allein die strukturellen Schwierigkeiten der britischen Wirtschaft nicht beseitigt werden können. Hinzu kommt, daß die britischen Unternehmen in den letzten Jahren ihren Produktionsapparat vielfach wohl dem neuen Stand der Technik angepaßt haben, doch hinken sie noch immer in der betrieblichen Organisation hinter ihren kontinentalen und nordamerikanischen Konkurrenten einher. Und gerade in diesem Bereich ließen sich nach Meinung von Fachleuten große Produktivitätsgewinne erzielen.

Vorderhand sind noch wenig Ansätze zu bemerken. Denn die Befragung der Confederation of British Industries (CBI) über die Unternehmererwartungen zeitigte durchweg eine sehr skeptische, wenn nicht sogar pessimistische Beurteilung der künftigen Entwicklung und vor allem keine Bereitschaft, zusätzliche Finanzierungsmittel zu binden. Viele Unternehmer kritisieren im privaten Gespräch auch das alleinige Primat der Zahlungsbilanz. Über diesem gewiß legitimen Ziel der Wirtschaftspolitik sollten nicht die anderen übersehen werden: Wachstum und Vollbeschäftigung. Diese Ansicht vertritt mit wachsender Schärfe der Führer der Opposition, Edward Heath, der die Investitions-unlust der Wirtschaft außerdem mit der Steuerpolitik der Regierung in Zusammenhang bringt. Die Unternehmer werden, so meint Mr. Heath, durch die neu eingeführte Körperschaftesteuer investitionsscheu. Erst ein Steuersystem, das den erfolgreichen Unternehmer nicht bestraft, werde wieder die so nötige Initiative wecken. Ungünstig habe sich auch die bevorstehende Wiederverstaatlichung der Stahlindustrie sowie die Selective Employment Tax ausgewirkt. (Die Selective Employment Tax sieht für die Dienstleistungszweige der Wirtschaft, den sogenannten tertiären Sektor, eine Konsumensteuer vor; der Industrie werde sie refundiert; in manchen Fällen übersteigt die Rückzahlung die einbezahlte Steuer.) Im übrigen scheint Mr. Heath über die Deflation gar nicht erfreut zu sein.

Die Regierung jedenfalls ließ wissen, daß sie vorläufig den deflatorischen Kurs weiter verfolgen werde. Mit einer Reflation sei so bald nicht zu rechnen. Sowohl der Premierminister als auch der Schatzkanzler weisen jene Kritik zurück, die der Regierung eine ungenügende Differenzierung ihrer Maßnahmen vorwerfen. Das Kabinett habe erstens die Exportprämien erhöht und zweitens auch die sogenannten Investment grants hinaufgesetzt. Die deflatorischen Maßnahmen seien also sehr wohl durch gezielte Eingriffe ergänzt worden. Außerdem sei die Regierung, wie Mr. Wilson in einem Interview mit der Sunday Times darlegte, dabei, ein strukturpolitisches Programm für den Zeitpunkt vorzubereiten, in dem „Großbritannien nicht mehr über seine Verhältnisse lebe“, in dem das Zahlungsbilanzdefizit beseitigt ist. Damit ist im zweiten Halbjahr zu rechnen.

Sosehr Exportförderung und Investitionssubvention auch begrüßt werden, einzelne kritische Stimmen wurden doch laut. Das System der investment grants, wonach dem Unternehmer im Juli 1968 eine Prämie für Investitionsausgaben erhält, die er 1967 tätigt, sei in seiner Wirkung zu langsam. Die CBI würde daher ein System vorziehen, das es dem Unternehmer überläßt wieviel er von den Investitionen jeweils abschreiben möchte. Zumindest sollte aber die investment grant spätestens im Jänner 1968 für Aufwendungen des Jahres 1967 fällig werden.

Ernüchternde Vorhersagen

Abseits von der Debatte über wirtschaftspolitische Details hat die London Business School ein ökono-metrlsches Modell entwickelt, mit dessen Hilfe auf Elektronenrechnern kurzfristige konjunkturelle Vorhersagen ermöglicht werden. Die in der Sunday Times veröffentlichte Vorhersage — das Modell wurde unter Aufsicht von Professor Ball durchgerechnet — wirkte ernüchternd. Falls die Regierung noch heute den restriktiven Kurs ihrer Wirtschaftspolitik beendete und auf Expansion umschaltete, würde sich ein solcher Wechsel nur geringfügig auswirken. In diesem Fall könnte eine Zunahme des Volkseinkommens um ein Prozent erwartet werden, gegenüber einer solchen von einem halben Prozent, die bei Aufrechterhaltung der Deflation eintreten würde. Während im anderen Fall die Konsumausgaben noch zurückgingen, würden sie in diesem etwas steigen. Im Investitionssektor käme es bloß zu einer Umkehr im Bausektor. Ansonsten würde eine Änderung der Konjunkturpolitik wenig am Wachstumstempo der Wirtschaft ändern. Vor allem sind keine Anzeichen zu sehen, daß die Deflation einen Prozeß auslösen könnte, der sieh selbsttätig zunehmend verstärken würde, wie es im Jahre 1929 war. Die exakte Prognose offenbarte auch, daß das Wachstum der britischen Wirtschaft in weitaus stärkerem Maß von der Entwicklung des Welthandels abhänge, als bisher, zumindest von Politikern, angenommen worden ist.

Die Vorhersage bestätigte damit nur, was die Wissenschaftler schon lange wußten, nämlich, daß in einer Weltwirtschaft, in der die einzelnen Nationalwirtschaften durch die Konvertibilität eng untereinander verfochten sind, die konjunkturpolitischen Möglichkeiten der einzelnen Regierungen sehr gering sind. Diese Einsicht ist zwar schmerzvoll, aber wichtig dn unserer Wohlstandsgesellschaft: der Lebensstandard läßt sich auf die Dauer nur durch höhere Leistung steigern. Jeder andere Weg führt in die Irre. Ob die Politiker diese Einsicht den breiten Schichten werden vermitteln können, davon wird die Heilung der Londoner Krankheit letzten Endes abhängen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung